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VÖLKER, L. Theorie der Lyrik.

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Arbeitstexte für den Unterricht 
Theorie der Lyrik 
Für die Sekundarstufe' 
herausgegeben von 
Ludwig Völker 
Philipp Reclam jun. Stuttgart 
stenz solcher Schöpfungen absoluter ~oe~ie unmöglich; ab, 
es ist leicht zu begreifen, daß der Begnff em~s sol~hen i1eale 
oder imaginären Zustandes für die Beurteilung Jedes m dt 
Erfahrung vorkommenden Gedichtes von höchstem W e1 
~\·e Konzeption einer reinen Poesie ist die eines_ unerreich-
baren Typus, eines idealen Grenz_wertes der Wunsche, Be-
mühungen und Fähigkeiten des Dichters ... 
19. Bertolt Brecht 
Nach seiner Wendung zum Marxismus hat Bertolt Brecht 
(1898-1956) den Lyrik-Begriff einer radikalen Kritik unter-
z ogen und versucht, den Begriff des lyrischen S_ubjekts und die 
Funktion der im Gedicht dargestellten individuellen Erfah-
rung ~ius der Sicht der marxistischen Gesellschafts-_ und 
Sprachtheorie neu zu bestimmen. Der Text : Die _Lyrik a'.s 
Ausdruck« ist um 1927 entstanden und setzt sich mit dem fur 
das traditionelle Lyrik-Verständnis z entralen Ausdrucks-
Begriff auseinander. 
19.1. Die Lyrik als Ausdruck 
Wenn man die Lyrik als Ausdruck bezeic_h_ne~, muß man, wis-
sen daß eine solche Bezeichnung emsemg ist. Da drucken 
sich Individuen aus, da drücken sich Klass~n aus, da haben 
Zeitalter ihren Ausdruck gefunden und Leidenschaften, ai:n 
Ende drückt »der Mensch schlechthin« sich aus. We1:1: die 
Bankleute sich zueinander ausdrücken oder die Polmker, 
dann weiß man, daß sie dabei handeln; selbst wenn der 
Kranke seinen Schmerz ausdrückt, gibt er dem Arzt oder den 
Umstehenden noch Fingerzeige damit, handelt also auch, 
aber von den Lyrikern meint man, sie gäben ~ur noch <l.en 
reinen Ausdruck, so, daß ihr Handeln eben n~r im Ausdnik-
ken besteht und ihre Absicht nur sein kann, sich auszudruk-
58 
ken. Stößt man auf Dokumente, die beweisen, daß der oder 
jener Lyriker gekämpft hat wie andere Leute, wenn auch in· 
seiner Weise, so sagt man, ja, in dieser Lyrik drücke sich eben 
der Kampf aus. Man sagt auch, der oder jener Dichter hat 
Schlimmes erlebt, aber sein Leiden hat einen schönen Aus-
druck gefunden, insofern kann man sich bei seinen Leiden 
bedanken, sie haben etwas zuwege gebracht, sie haben ihn gut 
ausgedrückt. Als er sie formulierte, hat er seine Leiden ver-
wertet, sie wohl auch zum Teil gemildert. Die Leiden sind 
vergangen, die Gedichte sind geblieben, sagt man pfiffig und 
reibt sich die Hände. Aber wie, wenn die Leiden nicht ver-
gangen sind? Wenn sie ebenfalls geblieben sind, wenn nicht 
, für den Mann, der gesungen hat, so doch für die, welche nicht 
singen können? Aber dann gibt es noch andere Gedichte, die 
etwa einen Regentag schildern oder ein Tulpenfeld, und sie 
lesend oder hörend verfällt man in die Stimmung, welche 
durch Regentage oder Tulpenfelder hervorgerufen wird, 
d .. h., selbst wenn man Regentage und Tulpenfelder ohne 
Sttmmung betrachtet, gerät man durch die Gedichte in diese 
Stimmungen. Damit ist man aber ein besserer Mensch gewor-
d~n, e!n genußfähigerer, feiner empfindender Mensch, und 
d17s wmf s1~ irgendwie und irgendwann und irgendwo 
zeigen. 
19.2. Zu Wordsworth's »She was a phantom of delight« 
~yrik ist nie?1als bloßer ~usdruck. Die lyrische Rezeption ist 
,:_ip.e 012erat10n so gut wie etwa dasSe en oäerl"Iören;-d. h. 
viel mehr aktiv. Das _!?icht1:_n muß als menschliche Tätigkeit ( 
angesehen werden, als eseTischafilicfie-praxis mtt- a1ler 
Widersprüchlichkeit,¼ränderlichkeit, als eschic t edingt 
un gesc ic te.ma, en..c! ... Der Untersc ied iegt zwischen 
»w1cterspiegeln« und »den Spiegel vorhalten«. 
59 
20. Robert Musil: Der Geist des Gedichts 
In den Überlegungen Robert Musils (1880-1942), des 
Romanciers und Essayisten, der eine Ausbildung zum Inge-
nieur erhalten hatte und zunächst als Naturwissenschaftler 
tätig war, spielt das Phänomen der Lyrik eine Rolle als Grenz-
fall des Dichterischen in der Zwischenstellung zwischen Logik 
und Irrationalität. - Der Abschnitt »Der Geist des Gedichts« 
wurde im Rahmen von »Randbemerkungen« zum Thema 
»Literat und Literatur« 1931 in der »Neuen Rundschau« ver-
öffentlicht .. 
Man sollte niemals vergessen, daß der innerste Brunnen einer 
Literatur ihre Lyrik ist, auch wenn man es für falsch hält, 
daraus eine künstlerische Rangfrage zu machen. Denn die 
Gewohnheit, den Lyriker als den Dichter im eigentlichen 
Wo sinn anzusehen, ist tief, wenn sie auch etwas archaisch 
ist: mrgendwo zeigt sich so deutlich wie im Vers, daß der 
Dichter ein Wesen ist, dessen Leben sich unter Bedingungen 
vollzieht, die anders sind als die üblichen. 
Dabei wissen wir jedoch nicht, was ein Gedicht überhaupt 
ist. Nicht einmal von der Außenzone der Wirkungen, die von 
den Begriffen Reim, Rhythmus und Strophe beherrscht wird, 
haben wir Kenntnisse, die unser Verhältnis zum Leben 
erleichtern würden, geschweige daß wir viel von dessen inne-
rem Wesen wüßten. Eine bestimmte, von der gewöhnlichen 
abweichende Art der Vorstellungsverbindung: daß dies das 
Gedicht sei, es klingt nüchtern, aber es ist von allem, was uns 
augenblicklich weiterbringen könnte, vielleicht noch das 
Sicherste. Aus einer Vorstellung, die nicht schöner ist als 
Dutzende anderer, daß Kinder singend über eine Brücke 
gehn, unter der beleuchtete Boote und die Reflexe der Ufer 
schwimmen (ja noch in unermeßlichem Abstand von dem 
halbfertigen: Auf der Brücke singen Kinder, auf dem Strome 
schwimmen Lichtlein), formt Goethe durch einen umstellen-
den Griff zwei der zauberhaftesten Zeilen: »Lichtlein 
schwimmen auf dem Strome / Kinder singen auf der Brük-
60 
ken. « 76 Betrachtet man darin den Rhythmus, der sich ja auch 
mit den Fingern auf eine Tischplatte klopfen läßt, so hat er 
nicht viel mehr Bedeutung als eine untermalende Begleitung; 
das Lautbild, das auch fühlbar an dem veränderten Eindruck 
beteiligt ist, läßt sich trotzdem von diesem nicht loslösen und 
hat so wenig eine selbständige Qualität, wie eine Seite einer 
Figur eine hat: und so könnte man einen solchen Vers auch 
noch auf andere Veränderungen untersuchen, fände aber lau-
ter Einzelheiten, die für sich so gut wie nichts bedeuten, und 
kann nur erklären, daß aus ihnen allen gemeinsam und durch 
ihre gegenseitige Durchdringung das Ganze auf eine Weise 
entsteht, die geheimnisvoll bleibt. Nun gibt es freilich viele, 
die es lieben, in der Dichtung ein Geheimnis zu sehn, aber 
man kann auch die Klarheit lieben, und vielleicht ist man in 
diesem Fall doch nicht ganz hoffnungslos von ihr ausge-
schlossen. Denn wenn man die als Beispiel gebrauchten zwei 
Zeilen in ihrem Vorzustand und danach in ihrem fertigen 
durchliest, so erlebt man neben allem anderen doch auch, daß 
die förmlich greifbare Zusammenziehung, welche die Sätze 
im Augenblick der richtigen Wortstellung erfahren, daß die 
Einheit und Form, die sich da wie mit einem Schlag an der 
Stelle des diffusen Vorzustands hervorwölbt, nicht so sehr ein 
sinnliches Erlebnis sind wie eine der Logik entzogene Verän-
derung des Sinns. Und wozu stünden denn auch die Worte 
da, wenn nicht um einen Sinn auszudrücken? Auch die Spra-
che des Gedichts ist ja schließlich eine Sprache, also vor allem 
eine Mitteilung, und könnte man nun darin, einfach in diesem 
veränderten, nur mit den Mitteln des Gedichts so zu verän-
dernden Sinngehalt, das Wesentliche des Vorgangs erblicken, 
so würden wohl alle Einzelheiten, die man am Gedicht als 
beteiligt erkennt, ohne sie verbinden zu können, eine Achse 
gewinnen, durch deren Vorhandensein ihr Zusammenhang 
begreiflich wird. [ .. . ] 
Man hat behauptet, daß beim Vorstellungsablauf des 
Gedichts an die Stelle der determinierenden Obervorstellun-
76. in dem Gedicht »St. Nepomuks Vorabend«. 
61 
gen des logischen Denkens ein Affekt träte, und es scheint 
auch wahr zu sein, daß eine einheitliche affektive Grundstim-
mung am Entstehen eines Gedichts immer beteiligt ist;aber 
dagegen, daß sie das vor allem Entscheidende bei der Wahl 
der Worte sei, spricht die starke Arbeit des Verstandes, die 
sich nach dem Zeugnis der Dichter fühlbar macht. Ebenso hat 
man den Unterschied des Worts im logischen von dem im 
künstlerischen Gebrauch (wenn ich mich recht erinnere, war 
es Ernst Kretschmer77 in seiner 1922 erschienenen M edizini-
schen Psychologie) damit erklärt, daß es entweder ins volle 
Licht des Bewußtseins trete oder gleichsam am Rande, in 
einem halb verstandischen, halb gefühlhaften Bezirk zu 
Hause sei, den er die »Sphäre« nennt. Aber auch diese 
Annahme - die übrigens so wie das gar zu räumlich benannte 
» Unterbewußtsein« der Psychoanalyse nur ein Gleichnis dar-
stellt, denn das Bewußtsein ist ein Zustand, aber kein Bezirk, 
und 'sogar beinahe ein Ausnahmezustand des Seelischen -
wird man durch die Einsicht ergänzen müssen, daß sich nicht 
nur der zuständliche, sondern auch der gegenständliche 
Zusammenhang unserer Vorstellungen zwischen allen Gra-
den des »Sphärischen« und des eindeutig Begrifflichen befin-
det. Es gibt Worte, deren Sinn ganz im Erlebnis ruht, dem wir 
ihre Bekanntschaft verdanken, und dazu gehört ein großer 
Teil der moralischen und ästhetischen Vorstellungen, deren 
Inhalt derart von Mensch zu Mensch und Abschnitt zu 
Abschnitt des Lebens wechselt, daß er kaum begrifflich 
gefaßt werden kann, ohne dabei das Beste seines Gehalts ein-
zubüßen. In einem vor langem erschienenen Aufsatz 78 habe 
ich das einstmals das nicht-ratioi:de Denken genannt, sowohl 
in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioi:den 
zu unterscheiden, dessen Inhalten die Fähigkeit der Ratio 
angemessen ist, wie in dem Wunsch, damit dem Gebiet des 
Essays und weiterhin dem der Kunst gedankliche Selbstän-
digkeit zu geben. Denn die wissenschaftliche Beurteilung 
neigt begreiflicherweise gern dazu, das Affektiv-Spielende im 
77. (1888-1964), Psychiater und Konstitutionspsychologe. 
78. , Skizze der Erkenntnis des Dichters« (1918). 
62 
künstlerischen Schaffen auf Kosten des intellektuellen Anteils 
zu überschätzen, so daß der Geist des Meinens, Glaubens, 
Ahnens, Fühlens, der der Geist der Literatur ist leicht als 
eine Unterstufe der wissenden Sicherheit erschein~, während 
in Wahrheit diesen beiden Arten von Geist zwei autonome 
~egenstandsgebie~e d_es Erlebens und Erkennens zugrunde 
hegen, deren Logik mcht ganz die gleiche ist. Diese Unter-
scheidung in eindeutig und nicht eindeutig bezeichenbare 
Gegenstände steht nicht in Widerspruch dazu, daß das Gebiet ?es Mi_tteilb_aren und der menschlichen Mitteilung vermutlich 
m stet1g~n Ubergä?gen von der mathematischen Sprache bis 
zum bemahe völlig unverständlichen Affektausdruck des 
Geis_teskranken reicht, sondern wird dadurch nur ergänzt. 
Schließt man das Pathologische aus und beschränkt sich auf 
das, was einigermaßen noch für einen Menschenkreis Mittei-
lungswert besitzt, so könnte man in dieser stetigen Abstufung 
an die der reinen Begrifflichkeit entgegengesetzte Grenze 
etwa das sogenannte »sinnlose Gedicht« stellen· und dieses 
sinnlose oder gegenstandslose Gedicht, wie es ~on Zeit zu 
~eit von Dichtergruppen gefordert wird, und immer mit ris-
sigen Begründungen, ist in diesem Zusammenhang dadurch 
besonders bemerkenswert, daß es ja wirklich schön sein 
kann. So werden die Verse Hofmannsthals 79 : »Den Erben laß 
verschwenden / an Adler Lamm und Pfau / das Salböl aus den 
Hän~en / ~er toten alte~ Frau« sicher für viele die Eigenschaf-
ten emes smnlosen Gedichtes haben, weil es ohne Hilfsmittel 
durchaus nicht zu erraten ist, was der Dichter eigentlich sagen 
wollte, dessenungeachtet man sich der geistigen Mitbewegt-
heit_nicht entziehen k~nn, und man darf wohl behaupten, daß 
es vielen Menschen mn vielen Gedichten wenigstens teilweise 
so geht. Diese Verse sind in dieser Lage nicht schön, weil sich 
J-:Iofmannsthal sicher etwas dabei gedacht hat, sondern sie 
smd es, obwohl man sich nichts denken kann, und wüßte 
man, was man dabei zu denken habe, so würden sie vielleicht 
noch schöner werden, vielleicht aber auch weniger schön, 
79. Anfangsverse des Gedich ts »Lebenslied«. 
63 
denn das, was man dazudenkt und -weiß, gehört bereits dem 
rationalen Denken an und erhält seine Bedeutung aus diesem. 
Man könnte sich freilich versucht fühlen, das als kein Beispiel 
der Kunst, sondern nur als eines der Unkunst des Lesers 
anzusprechen; aber dann mache man den ergänzenden Ver-
such, über die Gedichte eines ausdrucksvollen Lyrikers, etwa 
Goethes, einen Chiffrenschlüssel zu legen oder auf irgend-
eine andere mechanische Weise bloß jedes x-te Wort oder jede 
x-te Zeile herauszuheben, und man wird staunen, welche 
starken Halbgebilde dabei in acht von zehn Fällen zutage 
kommen. Es spricht das sehr für die hier vorgetragene Auf-
fassung, daß das · zentrale Geschehnis im Gedicht das der 
Sinngestaltung ist und daß diese nach Gesetzen erfolgt, die 
von denen des realen Denkens abweichen, ohne die Berüh-
rung mit ihnen zu verlieren. 
Auf diese Weise würde ich auch die Frage des Einspruchs 
aufklären, den das Gefühl des Dichters gegen das profane 
Denken erhebt. Dieses ist dann in der Tat sein Feind, eine 
Form der geistigen Bewegung, die sich mit der seinen so 
weriig verträgt, wie sich zweierlei Rhythmen bei der Bewe-
gung des Körpers vertragen. Man sieht das vielleicht am deut-
lichsten an dem Extrem, das dem sinnlosen Gedicht in der 
Lyrik entgegengesetzt ist, an dem sonderbaren Gebilde des 
Lehrgedichts, das alle ästhetischen Merkmale eines Gedichts 
hat, aber keinen Tropfen Gefühl enthält und also auch keine 
einzige Vorstellung, die nicht den Gesetzen der rationalen 
Vorstellungsbewegung unterstünde. Man empfindet, wenig-
stens heute tut man es, daß so etwas kein Gedicht sei, aber 
man hat nicht immer so empfunden, und zwischen diesen 
beiden Gegensätzen des Allzu-Sinnvollen und des Allzu-
Sinnlosen liegt die Dichtung in allen Graden der Vermengung 
ausgebreitet und läßt sich als ihre freundlich-feindliche 
Durchdringung auffassen, wobei sich in ihr das »profane« 
Denken so mit einem »irrationalen« vermengt, daß keines 
von beiden ihr eigentümlich ist, sondern gerade die Vereini-
gung. Hier dürfte auch die ergiebigste Erklärung von allem zu 
suchen sein, was bisher als Anti-Intellektualismus erwähnt 
64 
worden ist, einschließlich seiner Erhabenheit und roman-
tisch-kla~sizistischen Lebensabgewandtheit. [ ... ] 
Das Gedicht, das so entsteht, ist aber in den meisten Fällen 
eigentlich nichts als ein sinnloses vor einem gleichsam zusam-
mengespiegelten Hintergrund von Sinn: ohne daß daraus eine 
Respektlosigkeit abgeleitet werden soll, denn der Seltenheits-
wert großer Begabungen macht jede andere W ertunterschei-
dung praktisch gegenstandslos. Theoretisch-kritisch sollte 
man es sich jedoch deutlich machen, denn der Wille der ein-
zelnen bildet sich im Verhältnis zur Gesamtheit und wenn 
der S_inn _des Gedichts aus ~iner Durchdringun~ rationaler 
und mationaler Elemente m der geschilderten Weise er-
wächst, ist es wichtig, die Forderung nach beiden Seiten 
gleich hoch zu halten. 
21. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik 
In »Probleme der Lyrik«, der Marburger Rede von 1951, gab 
Gottfried Benn (1886-1956) eine Positionsbestimmung der 
modernen Lyrik, in die Erfahrungen des eigenen lebenslangen 
Umgangs mit dem Medium Lyrik und gesamteuropäischen 
Lyrik-Vorstellungen der Moderne einflossen und die über ein 
Jahrzehnt die Lyrik-Diskussion beherrschte, bevor mit dem 
Beispiel der Brechtschen Lyrik (und Lyrik-Theorie) ab Mitte 
der 60er Jahre ein anderes Modell von Lyrik ins öffentliche 
Bewußtsein drang. _ 
Meine Damen und Herren, 
wenn Sie am Sonntagmorgen Ihre Zeitung aufschlagen, und 
manchmal sogar auch mitten in der Woche, finden Sie in einer 
Beilage meistens rechts oben oder links unten etwas, das 
du:ch ~esperr~en Druc~ und besondere Umrahmung auffällt,es 1st em Gedicht. Es 1st meistens kein langes Gedicht, und 
sein The1:1a nimmt die Fragen der Jahreszeit auf, im Herbst 
werden die Novembernebel in die Verse verwoben im Früh-
ling die Krokusse als Bringer des Lichts begrüßt, i~ Sommer 
65 
die mohndurchschossene Wiese im Nacken besungen, zur 
Zeit der kirchlichen Feste werden Motive des Ritus u~d d_er 
Legenden in Reime gebracht - kurz, b_ei der_ Regelmä~1gk~1t, 
mit der sich dieser Vorgang abspielt, Jahraus, Jahrem, 
wöchentlich erwartbar und pünktlich, muß man ~nnehmen, 
daß zu jeder Zeit eine ganze Reihe von Mens~he_n m u~serei:i 
Vaterland dasitzen und Gedichte machen, die sie an die Zei-
tungen schicken, und die Zeit~ngen sc~einen ~berzeugt zu 
sein, daß das Lesepublikum diese Gedichte wuns<;ht, sonst 
würden die Blätter den Raum anders verwenden. Die Namen 
dieser Gedichthersteller sind meistens keine sehr be~annten 
Namen, sie verschwinden dann wieder aus den Feuilletons, 
und es wird so sein, wie mir Professor Ernst Robert Cur-
tius80 mit dem ich in freundschaftlichem Briefwechsel stehe, 
schri:b, als ich ihm einen seiner Studenten als re~ht. bega~t 
empfahl. Er s~hrieb: »Ach, dies~ junge~ Leute, sie s1~d w~e 
die Vögel, im Frühling singen sie, und 1~ Sommer smd sie 
danh schon wieder still:« Mit diesen Gedichten der Gelegen-
heit und der Jahreszeiten wollen wir uns nicht be~asse~, 
obschon es durchaus möglich ist, daß sie~ gelegentl1~h em 
hübsches Poem darunter befindet. Aber ich gehe hiervon 
aus, weil dieser Vorgang einen kollektiven Hint~rgrund h~t, 
die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Memung: da 1st 
eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da ~teht 
ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische 
Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht 
kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten -
ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom ~ere!mten das 
Stimmungsmäßige abziehen, was dann übngb)eib~, we~n 
dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann v1elle1cht em 
yedicht. [ ... ] . . . . .. h 
Das ist ein langes Kapitel und ich habe es m me11~en B1:1c ern 
oft z~ durchleuchten gesucht. Heute beschrä~ke 1ch_mich auf 
das Gedicht, und ich kann es, denn im Gedicht sp1elen_s1ch 
alle diese Seinskämpfe wie auf einem Schauplatz ab, hmter 
80. (188&-1956), Romanist. 
66 
einem modernen Gedicht stehen die Probleme der Zeit, der 
Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz weit ge-
drängter und radikaler als hinter einem Roman oder gar 
einem Bühnenstück. Ein Gedicht ist immer die Frage nach 
dem Ich, und alle Sphinxe81 und Bilder von Sais82 mischen 
sich in die Antwort ein. Doch ich will alles Tiefsinnige ver-
meiden und empirisch bleiben, darum werfe ich die Frage auf, 
welches sind nun also die besonderen Themen der Lyrik von 
heute? Hören Sie bitte: Wort, Form, Reim, langes oder kur-
zes Gedicht, an wen ist das Gedicht gerichtet, Bedeutungs-
ebene, Themenwahl, Metaphorik - wissen Sie, woratis die 
eben von mir genannten Begriffe sind? Sie sind aus einem 
amerikanischen Fragebogen an Lyriker, in USA versucht 
man auch die Lyrik durch Fragebogen zu fördern. Ich finde 
das interessant, es zeigt, daß bei den Lyrikern drüben die 
gleichen Überlegungen· angestellt werden wie bei uns. Zum 
Beispiel die Frage, ob langes oder kurzes Gedicht, hatte 
schon Poe83 aufgeworfen, und Eliot84 greift sie wieder auf, sie 
ist eine äußerst persönliche Frage. Vor allem aber hat es mir 
die Frage: an wen ist ein Gedicht gerichtet, angetan - es ist 
tatsächlich ein Krisenpunkt, und es ist -eine bemerkenswerte 
Antwort, die ein gewisser Richard Wilbur85 darauf gibt: Ein 
Gedicht, sagt er, ist an die Muse gerichtet, und diese ist unter 
anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte 
an niemanden gerichtet sind. Man sieht daraus, daß auch drü-
ben der monologische Charakter der Lyrik empfunden wird, 
sie ist in der Tat eine anachoretische86 Kunst. [ ... ] 
Als nächstes möchte ich Ihnen einen Vorgang etwas direkter 
81. Sphinx: Ungeheuer der griech. Sage, das denjenigen tötet, der das ihm auf-
gegebene Rätsel nicht zu lösen weiß; von Ödipus besiegt. 
82. Bild von Sais: Kultbild im alten Ägypten, dessen Schleier von keinem Sterb-
lichen aufgehoben werden konnte (vgl. Schillers Gedicht »Das verschleierte Bild 
zu Sais.«). 
83. Edgar Allan Poe (1809--49), amerikan. Kritiker und Schriftsteller; vertrat in 
seiner Schrift » The Poetic Principle« die Auffassung, ein langes Gedicht sei »eine 
contradictio in adjecto« (ein Widerspruch in sich). 
84. Thomas Stearns Eliot (1888-1965), s. Nr. 23 . 
85. (geb. 1921), amerikan. Lyriker. 
86. einsiedlerisch. 
67 
schildern, als es im allgemeinen geschieht. Es ist der Vorgang 
beim Entstehen eines Gedichts. Was liegt im Autor vor? W ei-
che Lage ist vorhanden? Die Lage ist folgende: Der Autor 
besitzt: 
Erstens einen dumpfen schöpferischen Keim, eine psychische 
Materie. 
Zweitens Worte, die in seiner Hand liegen, zu seiner Verfü-
gung stehen, mit denen er umgehen kann, die er bewegen 
kann, er kennt sozusagen seine Worte. Es gibt nämlich etwas, 
was man die Zuordnung der Worte zu einem Autor nennen 
kann. Vielleicht ist er auch an diesem Tag auf ein bestimmtes 
Wort gestoßen, das ihn beschäftigt, erregt, das er leitmoti-
visch glaubt verwenden zu können. 
Drittens besitzt er einen Ariadnefaden87 , der ihn aus dieser 
bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit 
herausführt, denn - und nun kommt das Rätselhafte: das 
Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur 
seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders 
lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz 
genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, 
wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben 
Sie es nicht aus der Hand. Immer wieder fühlen Sie an ihm 
herum, am einzelnen Wort, am einzelnen Vers, Sie nehmen 
die zweite Strophe gesondert heraus, betrachten sie, bei der 
dritten Strophe fragen Sie sich, ob sie das missing link88 zwi-
schen der zweiten und vierten Strophe ist, und so werden Sie 
bei aller Kontrolle, bei aller Selbstbeobachtung, bei aller Kri-
tik die ganzen Strophen hindurch innerlich geführt - ein 
Schulfall jener Freiheit am Bande der Notwendigkeit, von der 
~ spricht. Sie können auch sagen, ein Gedicht ist wie 
das Schiff der Phäaken89, von dem Homer erzählt, daß es 
ohne Steuermann geradeaus in den Hafen fährt. Von einem 
fi.mgenSchriftsteller, den ich nicht ke nne, und von dem ich 
87. Ariadne: Tochter des kretischen Königs Minos; mit ihrer Hilfe findetThe-
seus aus dem Labyrinth des Minotaurus zurück. 
88. fehlendes Bindeglied. 
89. Homer, •Odyssee• , 8. Gesang. 
68 
nicht weiß, ob_ er lyrische Werke schafft, von einem gewissen 
Albrech_t Fabn las ich kürzlic~ im Lot90 eine Bemerkung, die 
genau ?1esen ?achve_rh_alt schddert, er sagt: »die Frage, von 
w~m em ~ed1cht sei, ~st auf Jeden Fall eine müßige. Ein in 
kemer ~eise zu r_eduz1erendes X hat teil an der Autorschaft 
des Ge_d1chtes, mit anderen Worten, jedes Gedicht hat seine 
ho_mensche_ Frage91 , jedes Gedicht ist von mehreren, das 
heißt von emem unbekannten Verfasser.« 
Dieser Sachverhalt ist so merkwürdig, daß ich ihn nochmal 
anders ausdrücken möchte. Irgend etwas in Ihnen schleudert 
em paar. Verse heraus oder tastet sich mit ein paar Versen 
hervor? 1r~end etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse 
. s?fort_ m die Hand?_ leg_t si~_in eine Art Beobachtungsapparat, 
em Mikroskop, pruft ~1e, ~arbt SH:, sl;1cht nach pathologischen 
Stellen. Ist das_erste v1elle1cht naiv, 1st das zweite ganz etwas 
~nd~res: ~affm1ert und skeptisch. Ist das erste vielleicht sub-
jektiv, bnngt das _zweite die objektive Welt heran, es ist das 
formale, das ge1st1ge Prinzip. 
I_ch ve:spreche mir nichts davon, _tief_sinn!g u?d langwierig 
uber_d1e Form z~ sprechen. _Form, 1sol!ert, 1st em schwieriger 
Beg~1ff.~ er die F?rm zst Ja das Gedicht. Die Inhalte eines 
Gedichtes,_ sagen ~Ir Trauer, panisches Gefühl, finale Strö-
mui:ige?, die hat Ja Jeder, das ist der menschliche Bestand, sein 
Besitz m mehr_ ode_r weniger vielfältigem und sublimem Aus-
~aß,_aber Lynk Wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, 
die diesen In!ialt_autochthon92 macht, ihn trägt, aus ihm mit 
~orte1;1 Fasz11:1at10n macht. Eine isolierte Form, eine Form an 
sich, gibt es Ja gar mcht. Sie ist das Sein, der existentielle 
Auftrag des Künsders, sein Ziel. In diesem Sinne ist wohl 
auch der Satz von Staiger93 aufzufassen: Form ist der höchste 
Inhalt: 
90. ))Da.s Lot«, in Berl in 1947-52 erschienene Zeitschrift. 
91. Streitfrage der Wissens~haft,. o~ die Homer zugeschriebenen Epen »Ilias• 
und »_Odyssee« das Werk eines einz igen Dichters oder mehrerer Dichter sind 
92. eigen-, bodenständig. · 
93. Emil Staiger, Schweizer Literaturwissenschaftler, s . Nr. 24. 
69 
22. Thomas Stearns Eliot: Die drei Stimmen der Dichtung 
(The Time Voices of Poetry) 
T. S. Eliot (1888-1965), amerikanisch-englischer Lyriker 
(»Four Quartets«), Dramatiker und Essayist, gilt neben 
Valery und Ezra Pound als wichtigster Anreger der Literatur-
und Lyrik-Theorie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jah r-
1,,,.,.,.{.,rts. - ,. Tb~ Tb'"~e VGi.ce;. Gf Poetry« tit der Tt:J;t eines 
1953 gehaltenen Vortrags. 
Die erste Stimme ist die des Dichters, der zu sich selbst 
spricht - oder zu niemandem. Die zweite ist die des Dichters, 
der sich an Zuhörer wendet, an einzelne oder an ein Publi-
kum. Die dritte ist die des Dichters, der eine von ihm erdachte 
Dramenfigur in Versen sprechen läßt, der nicht eigene 
Gedanken ausspricht, sondern nur das sagt, was eine imagi-
näre Figur in ihrem Rahmen einer anderen imaginären Figur 
gegenüber äußern kann: Die Trennung zwischen der ersten 
und der zweiten Stimme, dem Dichter also, der zu sich, und 
dem Dichter, der zu anderen spricht, weist auf das Problem 
dichterischer Mitteilung hin. Die Trennung zwischen dem 
Dichter, der mit seiner eigenen oder einer angenommenen 
Stimme zu anderen Menschen spricht, und dem Dichter, der 
eine Sprache für erfundene Figuren ersinnt, in der diese mit-
einander reden, weist auf das Problem hin, zwischen dramati-
scher, halbdramatischer und nichtdramatischer Dichtung zu 
unterscheiden. [ ... ] 
Wie steht es nun mit der Poesie der ersten Stimme - jener, die 
nicht in erster Linie versucht, sich einem anderen Menschen 
mitzuteilen? 
Zunächst muß ich betonen, daß ich darunter nicht unbedingt 
jene Poesie verstehe, die wir im weitläufigen Sinn »lyrische 
Dichtung« nennen. Schon die Bezeichnung »lyrisch« ist 
unzulänglich. Wir denken dabei zuerst an Verse, die für 
Gesang bestimmt sind - an Lieder von Campion94 , Shake-
94. Thomas Campion (1567-1619), engl. Dichter und Musiker. 
70 
spcare und Burns95, Arien von W. S. Gilbert96 oder den Text 
er neuesten »musikalischen Nummer« . Sie wird aber auch 
a Dichtung angewandt, die nie für eine Vertonung geschrie-
ben wurde oder die wir von ihrer Vertonung streng trennen; 
· r sprechen von »lyrischen Versen« bei den metaphysischen 
Dichtern, bei Vaughan und Marvell, Donne und Herbert97• 
Schon die Definition von »Lvik« im Qxfoi:4_ Q~~l;,lQ,Q..~ 
z~1gt, daß es keme ausreichende Erklärung für den Begriff 
gibt: 
»Lyrik: jetzt die Bezeichnung für kurze Gedichte, die ge-
wöhnlich in Strophen eingeteilt sind und die eigene Ged\tn· 
. ken und Gefühle des Dichters unmittelbar ausdrücken.« . 
· _'Wie kurz muß nun ein Gedicht sein, um »lyrisch« genannt zu 
werden? Die Betonung der Kürze und der Hinweis auf die 
Einteilung in Strophen sind wahrscheinlich ein Überbleibsel 
au~ der Verbindung von Stimme mit Musik. Es gibt aber 
keme notwendige Verbindung zwischen Kürze und dem 
Ausdruck der Gedanken und Gefühle des Dichters.[ ... ] 
Es ist eindeutig die Lyrik von der Art eines Gedichtes, »das 
unmittelbar die Gedanken und Gefühle eines Dichters aus-
drückt«, also nicht von der_ ganz unmotivierten Art eines 
kurzen für eine Vertonung gedachten Gedichts, der meine 
erste Stimme - die Stimme des Dichters, der nur zu sich 
spricht, oder zu niemandem - zugehört. In einem sehr inter-
essanten Vortrag über Probleme der Lyrik zeigt der deutsche 
D!chter Gottfried Benn, daß er Lyrik für Dichtung der ersten 
Summe hält, er schließt, wie ich sicher glaube, Gedichte wie 
Rilkes Duineser Elegien und Valerys La jeune Parque darin 
ein. Wo er von »lyrischer Dichtung« spricht, würde ich aller-
dings von »Meditation« sprechen. 
Wovon, fragt Gottfried Benn in seinem Vortrag, geht der 
Autor eines solchen Gedichts aus, »das an niemanden gerich-
95. Robert Bums (1759-96), schott. Lyriker mit volksliedhaftem Ton. 
96. William Schwenck Gilbert (1836-1911), engl. Autor erfolgreicher Opern-
texte. 
97. Henry Vaughan (1622-95), Andrew Marvell (1621-78), John Donne 
(1572-1631), George Herbert (1593-1633): engl. geistlich-lehrhafte Lyriker 
(»Metaphysical Poets«). 
71 
tet ist?« Da sei, führt er aus, zunächst ein leblos:r Embryo 
oder ein dumpfer schöpferischer _Keim und dan~ die Sprache, 
der Vorrat der Worte, die dem Dichter zur Verfugung ste~en. 
Im Dichter keimt etwas, wofür er Worte sucht; er kann mcht 
wissen, nach welchen Worten er sucht, bis er sie gefun1en 
hat. Er kann diesen Embryo nicht erkennen, sol~nge er _1hn 
nicht zu einem Gebilde mit den richtigen Worten m der nc~-
tigen Folge geformt hat. _Hat er dann die Worte gefunden, 1st 
das »Etwas«, für das er die Worte gesucht hat, verschwunde~ 
und an seine Stelle ist ein Gedicht getreten. Er geh~ dabei 
nicht von dem aus, was man allgemein als Gef~hl bez~1ch~et; 
noch weniger von einer Idee, sondern - um hier zwei Zeilen 
Beddoes'98 auf etwas anderes anzuwenden - von 
a bodiless childful of life in the gloom 
crying with frog voice, "what shall I be?" 
einer körperlosen Handvoll Leben im Dunkeln / mit Froschstimme 
jammernd, »was soll ich werden?«. 
Ich stimme mit Gottfried Benn überein, würde ~ur n_och 
etwas weiter gehen. In einem Gedi_cht, das weder d1dakt1sch 
noch erzählend ist und von ke1nerle1 gesellschafthch:m 
Zweck bestimmt, liegt dem Dichter vielleich~ nur daran, _die-
sen dunklen Drang in Verse zu kleiden - mdem er semen 
ganzen Vorrat an Worten mit all ihren Grund-_ und Nebenb~-
deutungen und ihrem Klang in A?spruch mmmt. Er weiß 
selbst nicht, was er sagen.möchte, bis er es ausgesprochen h_at, 
und während er sich bemüht, es zu finden, hat er keme 
Gedanken dafür, anderen etwas verständlich_zu machen. Er 
kümmert sich in diesem Stadium überhaupt mcht um andere; 
er ist nur bemüht, die richtigen Worte zu fin1en, oder doch 
die am wenigsten falschen. Es kümmert_1hn mcht, ob ~ndere 
Menschen sie je anhören y,erden oder mcht, o_der ob sie ver-
standen werden, solange.er es tut. Ihn drückt eme Last, die er 
loswerden muß, um sich1 erleichtert zu füh\en. Od~r, um em 
anderes Bild zu gebrauchen, er wird von emem Damon ver-
98 . Thomas Lovell Beddoes (1803-1849), engl. Lyriker und Dramatiker. 
72 
folgt, einem Dämon, dem gegenüber er machtlos ist, weil 
dieser, in seinem Anfangsstadium, gesichtslos, namenlos, 
wesenlos ist. Und die Worte, das Gedicht, das er schreibt, 
sind so etwas wie ein Exorzismus dieses Dämons. Oder noch 
anders ausgedrückt: er macht sich all diese Mühe nicht, um 
sich einem anderen Menschen mitzuteilen, er will nur 
Erleichterung von einem plötzlichen Unbehagen finden; 
und wenn er dann endlich Worte in der richtigen Weise 
geordnet hat- oder wenigstens so gut ihm das möglich war-, 
fühlt er vielleicht im Augenblick etwas wie Erschöpfung, 
Beruhigung, Befreiung, ja und fast so etwas - beschreiben 
läßt es sich nicht-wie Ausgelöschtsein. Jetzt kann er zu dem 
Gedicht sagen: »Fort mit dir! such dir einen Platz in einem 
Buch - und erwarte nicht, daß ich mich weiter um dich küm-
mere.« [ .. . ) 
Und jetzt möchte ich wiederkurz auf Gottfried Benn und 
seine unbekannte dunkle »psychische Materie« zurückkom-
men - wir könnten sagen, den Polyp oder Engel, mit dem der 
Dichter kämpft. Ich möchte annehmen, daß bei den drei 
Arten der Dichtung, denen meine drei Stimmen entsprechen, 
ein gewisser Unterschied im Prozeß besteht. In dem Gedicht, 
in dem die erste Stimme der Poesie vorherrscht, die Stimme 
des Dichters, der zu sich selbst spricht, ist die »psychische 
Materie« bestrebt, zu einer eigenen Form zu kommen - die 
schließliche Form wird dann mehr oder weniger die Form für 
nur dieses eine Gedicht sein. Es ist natürlich irreführend, so 
von der Materie zu sprechen, als würde sie sich ihre eigene 
Form schaffen und nehmen : es findet vielmehr eine gleichzei-
tige Entwicklung von Form und Materie statt, denn die Form 
beeinflußt die Materie in jedem Stadium; und vielleicht tut die 
Materie nichts anderes, als bei jedem erfolglosen Versuch 
einer formalen Gestaltung zu wiederholen: »nicht so! nicht 
so!«; schließlich fallen dann Form und Materie zusammen. In 
der Dichtung aber, in der wir die zweite Stimme und die dritte 
hören, ist die Form in gewissem Grad bereits vorhanden. Sie 
liegt von Anfang an als Entwurf oder Szenenfolge vor, was 
nicht ausschließt, daß sie bis zur Vollendung des Gedichts 
noch sehr oft umgewandelt werden kann. 
73 
23. Theodor W. Adorno: 
Rede über Lyrik und Gesellschaft 
Das stark v on der H egelschen Philosoph_ie geprägte kunst-
. theoretische Denken des Soziologen und Asthetikers Theodor 
W. Adorno (1903-69) sucht die unvereinbar scheinenden 
Ansprüche des Kunstwerks und der Gesellschaft in einen dia-
lektischen Ausgleich zu bringen: die Sprache der Lyrik 
erscheint so auf der einen Seite als Sprache der Wahrheit in 
einem kritisch-utopischen Gegensatz zur Sprache der I deolo-
gie und Lüge in der Gesellschaft; auf der anderen Seite wird 
die Vorstellung, daß Lyrik »ein der_ Gesellschaft Entgegenge-
setztes, durchaus Individuelles« sei, als »in sich selbst gesell-
schaftlich« entlarvt. Auf der Basis_ des H egelschen Axioms von 
der wechselseitigen Vermitteltheit des Individuellen und des 
Allgemeinen gesteht Adorno dem lyrischen Gedicht »reine 
Subjektivität« zu und erhofft sich ~erade von dem Gedieh~, 
das auf die ausdrückliche Thematmerung von Gesellschaftlz-
chem verzichtet, die eigentlich gesellschaftlzche Wirkung ._ -
Die »Rede über Lyrik und Gesellschaft« wurde zuerst 1951 im 
Hessischen Rundfunk gehalten . 
Bei der Ankündigung eines Vortrags über L):'rik u°:d Gesell-
schaft wird viele von Ihnen Unbehagen ergreifen. Sie werd_en 
eine soziologische Betrachtung erwarten, wie sie 1:ach Behe-
ben an jeden Gegenstand sich heften _k~nn, ~o wie man ~or 
fünfzig Jahren Psychologien, vor ~re1ßig Phanomenolog~en 
aller erdenklichen Dinge erfand. Sie werden dabei das Miß-
trauen hegen, daß die Erörterun_g ~er Be~ingunge~, unter 
denen Gebilde entstanden, und die ihrer Wirkung, sich vor-
witzig an Stelle der Erfahrung von den ~ebilde1: wi_e s(e si°:d 
setzen will; daß Zuordnungen und Relat10nen die Ems1cht_ m 
Wahrheit oder Unwahrheit des Gegenstandes selber verdra°:-
gen. [ ... ] Das Zarteste, Zerbrechlichste soll angetastet, mit 
eben dem Getriebe zusammengebracht werden, v~n. dem 
unberührt sich zu halten im Ideal zumindest des trad1t1onel-
len Sinnes von Lyrik liegt. [ . .. J Kann, so werden Sie fragen, 
74 
von Lyrik und Gesellschaft ein anderer reden als ein amusi-
scher Mensch? 
Offenbar ist dem Verdacht nur dann zu begegnen, wenn lyri-
sche Gebilde nicht als Demonstrationsobjekte soziologischer 
Thesen mißbraucht werden, sondern wenn ihre Beziehung 
auf Gesellschaftliches an ihnen selber etwas Wesentliches, 
etwas vom Grund ihrer Qualität aufdeckt. Sie soll nicht weg-
führen vom Kunstwerk, sondern tiefer in es hinein. Daß das 
aber zu erwarten sei, darauf allerdings führt die 'einfachste 
Besinnung. Denn der Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der 
Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern 
diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, 
gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Ge-
formtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Nicht, daß 
was das lyrische Gedicht ausdrückt, unmittelbar das sein 
müßte, was alle erleben. Seine Allgemeinheit ist keine volonte 
de tous99 , keine der bloßen Kommunikation dessen, was die 
anderen nur eben nicht kommunizieren können. Sondern die 
Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht 
dadurch zum Allgemeinen, daß es Unentstel!tes, Unerfaßtes, 
noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so gei-
stig etwas vorwegnimmt von einem Zustand, in dem kein 
schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das 
andere, Menschliche fesselte . Von rückhaltloser Individua-
tion erhofft sich das lyrische Gebilde das Allgemeine. Ihr 
eigentümliches Risiko aber hat Lyrik daran, daß ihr Indivi-
duationsprinzip nie die Erzeugung von Verpflichtendem, 
Authentischem garantiert. Sie hat keine Macht darüber, ob 
sie nicht in der Zufälligkeit der bloßen abgespaltenen Exi-
stenz verharrt. ,... 
Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesent-
lich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedichnagt, 
wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt ; 
ja, noch die Einsamkeit des lyrischen Wortes selber ist von 
der individualistischen und schließlich atomistischen Gesell-
99. frz., »der Wille aller« (im Gegensatz zur »volonte generale«, dem Gesamt-
willen; von Rousseau eingeführte Unterscheidung). 
75 
r 
schaft vorgezeichnet, so wie u~gekehr~ seine ~llgemeine Ver-
bindlichkeit von der Dichte semer Ind1V1duat1on lebt. Daher 
aber ist das Denken des Kunstwerks berechtigt und verpflich-
tet, dem gesellschaftlichen Gehalt konkr_et nachzufragen, 
nicht bei dem vagen Gefühl eines AllgememeQ und Umfa:1-
genden sich zu beruhigen. Solche denkende Bestimmung _ist 
keine kunstfremde und äußerliche Reflexion, sondern wird 
von jedem sprachlichen Gebilde gefor~ert .. Sein eigenes 
Material, die Begriffe, erschöpfen sich mcht m der bloßen 
Anschauung. Um ästhetisch angeschaut werden zu können, 
wollen sie immer auch gedacht werden, und der Gedanke, 
einmal vom Gedicht ins Spiel gesetzt, läßt sich nicht auf des-
sen Geheiß sistieren. 
Dieser Gedanke aber, die gesellschaftliche Deutung von 
Lyrik, wie übrigens von allen Kunstwerken, darf d~nach 
nicht unvermittelt auf den sogenannten gesellschaftlichen 
Standort oder die gesellschaftliche Interessenlage der Werke 
oder gar ihrer Autoren zielen. Vielmehr h~t sie _auszumac_hen, 
wie 'das Ganze einer Gesellschaft, als emer m sich wider-
spruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheii:it ; ~orin das 
Kunstwerk ihr zu Willen bleibt, worin es über sie hinausgeht. 
Das Verfahren muß, nach der Sprache der Philosophie, 
immanent sein. Gesellschaftliche Begriffe sollen nicht von 
außen an die Gebilde herangetragen, sondern geschöpft wer-
den aus der genauen Anschauung von diesen selbst. Der Satz 
aus Goethes Maximen und Reflexionen, daß du, was du nicht 
verstehst, auch nicht besitzest100 , gilt nicht nur für das ästhe-
tische Verhältnis zu Kunstwerken, sondern ebenso für die 
ästhetische Theorie : nichts, was nicht in den Werken, ihrer 
eigenen Gestalt ist, legitimiert die Entscheidung ?arüber, was 
ihr Gehalt, das Gedichtete selber, gesellschaftlich vorstellt. 
Das zu bestimmen verlangt freilich Wissen wie vom Inneren 
der Kunstwerke so auch von der Gesellschaft draußen. Aber 
verbindlich ist dies Wissen nur, wenn es in dem rein der Sache 
sich Überlassen sich wiederentdeckt. Wachsamkeit ist gebo-
100 • Was man nicht versteht, besitzt man nicht« (Nr. 241 ). 
76 
t: n zurr:al dem heute ins Unerträgliche ausgewalzten Ideolo-
giebegnff gegenüber. Denn Ideologie ist Unwahrheit fal-
sches Bewußt~ein, Lüge. Sie offenbart sich im Mißlinge~ der 
Ku_n_stwerke, ihrem Falschen in sich und wird getroffen vonKn~ik. Großen Kunstw~rken aber, die an Gestaltung und 
allem dadurch an tendenzieller Versöhnung tragender Wider-
sprü~he des real_en Das~ins ihr Vf! esen haben, nachzusagen, 
sie seien Ideologie, tut mcht bloß ihrem eigenen Wahrheitsge-
h~lt unrecht, sondern verfälscht auch den Ideologiebegriff. 
~ieser behauptet nicht, aller Geist tauge nur dazu, daß 
irgendwelche Menschen irgendwelche partikularen Interes-
sen als allgemeine unterschieben, sondern will den bestimm-
ten falschen Geist entlarven und ihn zugleich in seiner Not-
wendigkeit begreifen. Kunstwerke jedoch haben ihre Größe 
ei_nzig daran, ~aß sie sprechen lassen, was die Ideologie ver-
. birgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder 
mcht, übers falsche Bewußtsein hinaus. 
Lassen Sie mich an Ihr eigenes Mißtrauen anknüpfen. Sie 
empfinden die Ly_ri~ als ein der Gesellschaft Entgegengesetz-
tes, durchaus Ind1V1duelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es 
so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher 
Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre das frei 
sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützhchkeit, 
v?m D~uc~ der stu~en Selbsterhaltung. Diese Forderung an 
die Lynk Jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich 
selbst gesell~chaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen 
gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feind-
lich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der 
Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto 
unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem 
Heteronomen sie~ b:ugt un? sich gänzlich nach dem je eige-
nen Gesetz konsmmert. Sem Abstand ·vom bloßen Dasein 
wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im 
Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt 
aus, in der es anders wäre. [ ... ] 
~as wir jedoch mit Lyrik meinen[ .. . ] hat, je »reiner« es sich 
gibt, das Moment des Bruches in sich. Das Ich, das in Lyrik 
77 
laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Obj~ktivi-
tät entgegengesetztes bestim1:1t un~ aus_drückt_; mit der 
Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, 1st es mcht unve:-
mittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und tracht~t, sie 
durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber, wieder-
herzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur 
das Recht abermals zugebracht werden, das m~nschlic~e 
Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische ~eb1lde, m_ die 
kein Rest des konventionellen und gegenständlichen Dasem~, 
keine krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die 
unsere Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade .. der 
Kraft, mit der in ihnen das Ich den Schem der ~atur, z_uru~~-
tretend von der Entfremdung, erweckt. Ihre reme SubJekt1v1-
tät, das, was bruchlos und harmonisch an ihnen dünkt, zeu~t 
vom Gegenteil, vom Leiden a~ . subjektfrem~e~ J:?asem 
ebenso wie von der Liebe dazu - Ja ihre Harmome 1st e1gen~-
lich nichts anderes als das lneinanderstimmen solchen Lei-
dens und solcher Liebe. Noch das »Warte nur, balde / ruhest 
du auch« 101 hat die Gebärde des Trostes: sei_ne abgrün~ige 
Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, 
der Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. 
[ ... ] . d" h 
Man pflegt zu sagen, ein vollkomme1;1es lyns~hes _Ge ~c t 
müsse Totalität oder Universalität besitzen, musse m se~ner 
Begrenzung das Ganze_, in sei!ler Endl_ichkeit das _Une11:dhche 
geben. Soll das mehr sem als em GememRlatz aus Jener ~sthe-
tik die da als Allerweltsmittel den Begnff des Symbolischen 
zu; Hand hat, dann zeigt es an, da~ in jedem _lyrischen 
Gedicht das geschichtliche Verhältms des_ SubJe~ts zur 
Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaf~ 1m M~dmm ~es 
subjektiven, auf sich zurückgeworfen~n Geistes semen Nie-
derschlag muß gefunden haben. Er wird u~ s_o vollkomme-
ner sein, je weniger das Gebild~ das Y_ er~al~ms von ~eh und 
Gesellschaft thematisch macht, Je unwillkurhcher es vielmehr 
im Gebilde von sich aus sich kristallisiert. 
101. • Wanderers Nachtlied« von Goethe. 
78 
24. Emil Staiger: Lyrik und lyrisch 
Mit den 1946 zuerst vorgelegten »Grundbegriffen der Poetih 
formulierte der Literaturwissenschaftler Emil Staig er. (geb. 
1908) eine Theorie der literarischen Gattungen, die als 
»literaturwissenschaftlicher Beitrag zu einer philosophischen 
Anthropologie« gedacht war. Die fast ausschließliche Ablei-
tung des Lyrik-Begriffs von Beispielen Goethes und der 
Romantik wurde von der Kritik als unzulässige Einengung 
zurückgewiesen. Kritische Neuansätze zur Gattungstheorie 
nehmen seither mit Vorliebe ihren Ausgang von einer Ausein-
andersetzung mit Staigers Konzeption . - Der Aufsatz »Lyrik 
und lyrisch« stellt eine 1952 in der Zeitschrift »Der Deutsch-
unterricht« publizierte Zusammen/ assung von Staigers gat-
tungspoetischen Vorstellungen zur Lyrik dar. 
Es ist schon längst nicht mehr möglich, die Gattungsgesetze 
der Lyrik zu bestimmen. Die Beispiele haben sich seit der 
Antike so vermehrt und sind so mannigfaltig geworden, daß 
jeder Versuch, einen Generalnenner zu finden, nur bei den 
gleichgültigsten Begriffen enden kann. W oh! aber ist es auch 
heute noch möglich, das Wesen des Lyrischen herauszuarbei-
ten. Der Unterschied zwischen dem ersten und diesem zwei-
ten Problem wird sofort klar, wenn wir bedenken, daß sich 
das Adjektiv »lyrisch« zu »Lyrik« nicht so verhält wie etwa 
das Adjektiv »eisern« zu »Eisen«. Lyrik braucht keineswegs 1 
lyrisch zu sein, und Lyrisches gibt es nicht nur in der Lyrik. 
Epigramme sind meist nicht lyrisch; doch lyrisch sind Hof-
mannsthals kleine Dramen. Lyrik: das ist ein Sammelbegriff, 
ein Fach, in das Gedichte, kurze Stücke in Versen, eingelegt 
werden. Der Ausdruck »lyrisch« dagegen bezeichnet einen 
stilistischen Wesenszug, an dem eine einzelne Dichtung mehr 
oder minder Anteil haben kann, im Sinne des Platonischen 
µEi:EXELv102 . Ich wähle als Beispiel Wanderers Nachtlied: 
102. griech., • teilhaben« (der Dinge an den Ideen). 
79 
Über allen Gipfeln 
Ist Ruh, 
In allen Wipfeln 
Spürest du 
Kaum einen Hauch; 
Die Vögelein schweigen im Walde. 
Warte nur, balde 
Ruhest du auch. 
Es ist keine Frage, daß diese Dichtung ins Fach der Lyri~ 
gehört, zusammen mit andern Liedern, doch außerdem mit 
Sonetten, Oden, Hymnen und Sprüchen._ Ist a?er Wanderers 
Nachtlied auch lyrisch? Das gäbe wohl wieder Je~ermann zu. 
Die Sache liegt aber nicht so einfach. Um zu bestimme?, was 
lyrisch sei, muß ich mich auf de~ Sprachgebrauch b~smne~. 
Denn alle Probleme solcher Art smd Fragen der ter~mnolog1-
schen Zweckmäßigkeit. Wir nennen lyrisch, was s~1mmu~gs-
voll ist. Lyrische Verse sind in einer betonten W ~1se m~s1ka-
lisch, so sehr, daß oft der Sinn der Worte w:eniger _wichtig 
scheint als ihr Klang. Lyrisches verstehen wir unm1ttel?ar, 
ohne daß uns der grammatische, logisch~ oder ansc~auhche 
Zusammenhang klar sein müßte. Das Lyrische entspringt der 
Einsamkeit und spricht den einsamen Menschen an,. so, ~a~ 
sich der Leser, ohne es zu wissen, mit dem G~lesene? 1dentif1-
ziert und die Verse vor sich hin sagt, als kamen s_~e a~s der 
eigenen Brust. Das Wesen des Lyrischen, das v_oll~tand1g 1ar-
zulegen die Aufgabe einer Fundamentalpoetik 1st, schließt 
sich darin zusammen, daß hier jede Art von Absta~d fehlt._ Es 
gibt keinen Abstand zwisch~n Subj~kt und Obiekt; Stim-
mung ist immer ununtersche1dbar Stimmung der Seele ,und 
Stimmung der Landschaft. Es gibt keine? Absta~d von I~h~lt 
und Form; die Form ist vom Inhalt nicht ~bl~sba~. Em m 
Prosa wiedergegebenes lyrisches Stück zerfallt m nichts. _Es 
gibt keinen Abstand von Dichter und Leser;_ man ~etzt s1c? 
mit Lyrischem nicht auseinander, man be~_rte1lt es nicht. Wir 
empfinden es, oder es läßt uns ka_lt. Fur _das Fehlen des 
Abstands wählt die Poetik den Titel ''.Erinnerung<'.. Der 
Dichter erinnert die Natur, die Natur ennnert den Dichter. 
80 
Beide vertiefen sichineinander. Es gibt hier keinerlei Gegen-
über. [ . . . ] 
Betrachten wir daraufhin Wanderers Nachtlied, so drängt 
sich das Lyrische alsbald auf. Das Gedicht ist überaus stim-
mungsvoll. Die Stimmung der Landschaft ist die der Seele. 
Schon durch die Musik der Verse wird der empfängliche 
Hörer sofort verständigt. Die Form kann vom Inhalt nicht 
abgelöst werden. Wer das Gedicht übersetzen wollte, müßte 
etwas ganz anderes schaffen. Die Instrumente stilkritischer 
Forschung sind heute fein genug geschärft, um die zarten 
lyrischen Elemente eines solchen Stücks auseinanderzulegen. 
Wäre Wanderers Nachtlied damit aber erschöpfend interpre-
tiert? Keineswegs! Es findet sich manches, was nicht als 
lyrisch gelten kann. So hat man darauf hingewiesen, daß 
Goethe der Reihe nach alle Schichten des Reichs der Natur 
zur Sprache bringt: die mineralische, die vegetative, die ani-
malische und die menschliche sind in den Gipfeln, den Wip-
feln, den Vögelein und dem Du des Menschen gesondert. 
Solche klare Sonderung ist nicht lyrisch. Im Lyrischen gibt es 
keine Konturen. Alles fließt da ineinander. Das klare Neben-
einander charakterisiert viel eher den epischen Stil, der in der 
Homerischen Parataxe103 die reinste Erfüllung gefunden hat. 
Aber damit noch nicht genug! Der letzte Vers von Wanderers 
Nachtlied hat fast den Charakter einer Pointe. Es kommt- im 
wahrsten Sinne des Wortes - auf die letzte Zeile an, wie in 
epigrammatischer Poesie und im kunstgerechten klassischen 
Drama. Also auch dramatische Elemente sind an dem kleinen 
Gedicht beteiligt. So ziehen wir unser Urteil zurück und 
beschränken uns auf die Feststellung, daß Wanderers Nacht-
lied wohl vorwiegend, aber nicht ausschließlich lyrisch ist. 
In dieser Mischung der Elemente steht das Gedicht nicht ein-
zig da. Mehr oder minder hat jede Dichtung an allen drei 
Gattungen, der lyrischen, der epischen und der dramati-
schen, teil, schon weil jede Dichtung ein Sprachkunstwerk 
ist. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die Silbe das lyrische, das 
103 . in den Homerischen Epen zum Stilmittel ausgebildete Aneinanderreihung 
von Hauptsätzen. 
81 
einzelne Wort das epische, der Satz das dramatisch<: Element 
der Sprache darstellt. Die Silbe all~in be~eutet n_1ch~s und 
vermittelt uns keine Anschauung. Sie geht im Musikalischen 
auf. Wörter stellen etwas vor, wie der epische Dichter Bilder 
vorstellt. Der Satz liefert einen Zusammenhang; das Wort 
wird zur Funktion des Ganzen, wie in der dramatischen 
Dichtung jeder Teil Funktion des Ganzen ist. Demnach liegt 
überall, wo überhaupt '-'.?llständige Sätz~ gesRrochen_ werden, 
schon eine sprachliche Außerung vor, die lynsch-episch-d_ra-
matisch, wenngleich in verschiedenen Graden und '."-rten! ist. 
Nur Silbenfolgen wie »Eiapopeia« könnten als rem_ lynsc~, 
und höchstens eine mathematische Formel könnte als rem 
dramatisch gelten. .. . 
Aber nun selbst von diesen fundamentalen Verhaltmssen 
abgesehen: Ein Gedicht kann niemals rein lyrisch sei_n, weil es 
sonst des Halts und der Führung entbehren und wie Wasser 
zerfli"eßen würde. Einige Lieder Clemens Brentanos scheinen 
oft nahe daran zu sein. Eben deshalb ist Clemens Brentano 
ein »reinerer« lyrischer Dichter als Goethe, aber ein minder 
bedeutender. Hier gilt es, mit Kraft die Vorurteile der _alten 
Poetik die eine Poetik vorbildlicher Muster war, zu bekamp-
fen. I~ Sinne der Musterpoetik104 - die sich nicht nur ~is 
Gottsched sondern auch bis in unsere Tage behauptet - gilt 
die Reinh:it der Gattung als Verdienst. Im Sinne der neuen, 
nicht auf Sammelbegriffe ausgerichteten Poetik kann »rein« 
nur soviel wie »einseitig« heißen. Eine Dichtung ist u1;11 so 
vollkommener, je mehr sich das Lyrische und das Epische 
und das Dramatische in ihr erfüllen. 
104. Gattungs- und Dichtungslehre, die verbindliche Regeln für den Gebrauch 
· der literarischen Formen aufstellt. 
82 
25. Günter Eich: Trigonometrische Punkte 
Günter Eich (1907-72), Lyriker und Hörspielautor, hat sich 
verschiedentlich auch theoretisch zur Lyrik geäußert. - » Tri-
gonometrische Punkte« ist ein Abschnitt aus den 1956 veröf-
fentlichten »Bemerkungen zum Thema Literatur und Wirk-
lichkeit« und dokumentiert die Bedeutung der Lyrik als 
Medium der Erfassung von Wirklichkeit in der elementaren 
Form der Wort-Ding-Korrelation . 
Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orien-
tieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als 
Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs mar-
kieren. 
Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirk-
lichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein 
Ziel. Ich muß sie erst herstellen. 
Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die 
Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentli-
che Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das.Ding 
zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns 
befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu überset-
zen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelun-
genste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht 
den höchsten Grad von Wirklichkeit. 
Ich muß gestehen, daß ich in diesem Übersetzen noch nicht 
weit fortgeschritten bin. Ich bin über das Dingwort noch 
nicht hinaus. Ich befinde mich in der Lage eines Kindes, das 
Baum, Mond, Berg sagt und sich so orientiert. 
Ich habe deshalb wenig Hoffnung, einen Roman schreiben zu 
können. Der Roman hat mit dem Zeitwort zu tun, das im 
Deutschen mit Recht auch Tätigkeitswort heißt. In den 
Bereich des Zeitwortes aber bin ich nicht vorgedrungen. 
Allein das Dingwort brauche ich gewiß noch einige Jahr-
zehnte. 
Für diese trigonometrischen Zeichen sei das Wort »Defini-
tion« gebraucht. Solche Definitionen sind nicht nur für den 
83 
Schreibenden nutzbar. Daß sie aufgestellt werden,. ist mir 
lebensnotwendig. In jeder gelungen~n Zeile ?Öre ich den 
Stock des Blinden klopfen, der anzeigt : Ich bm auf festem 
Boden. 
Ich behaupte nicht, daß die Richtigkei~ der D~finitionen von 
der Länge oder Kürze der Texte _abhmge_. Em Roma_n von 
vierhundert Seiten enthält möglicherweise eben~ov1el ~n 
Definition wie ein Gedicht von vier Versen. Ich bm bereit, 
diesen Roman zu den Gedichten zu zählen. 
Richtigkeit ~er Definitio~ und Qual)t~t sind i:nir identi~ch. 
Erst wo die Ubersetzung sich dem Ongmal annah~rt, beg1~nt 
für mich Sprache. Was da~or_liegt, ~ag psychologisch, soz~o-
logisch, politisch oder wie immer interessant sem, und ich 
werde mich gern davon unterhalten l~ssen, ~s b~wundern und 
mich daran freuen - notwendig aber 1st es mir mcht. Notwen-
dig ist mir allein das Gedicht. 
\. 
26. Hans Magnus Enzensberger: 
Scherenschleifer und Poeten 
Hans Magnus Enzensberger (geb. _1929), Lyriker, Literatur-
wissenschaftler (»Brentanos Poetik«), Herausg_eber (» Mu-
seum der modernen Poesie«, »Kursbuch «), Kritiker, Essayist 
und u. a. Autor eines Dokumentarstücks (» D as Verhör v on 
Habana «) gehört zu der Generation _nach Benn un_d Brecht, 
die sich vor das Problem gestellt sieht, den Lyrik-Begriff 
sowohl nach der politisch-gesellschaftlichen wie nach der indi-
viduell-privaten Seite offenzuhalten. - Der Beitrag »Scheren-
schleifer und Poeten « wurde 1961 für die von Ha_ns Sender 
herausgegebene Sammlung »Mem Gedicht tSt mem Messer« 
geschrieben. 
»Mein Gedicht ist mein Messer«: das heißt, es komII?t in d_er 
Natur nicht vor, wie die Heuschrecke oder der Gramt. ~s _ist 
ein Artefakt, ein Kunstprodukt, ein technisches Erzeugms 1m 
84 
griechischen Sinn (Technik kommt von i:txvri 105), mithin ein 
Gebrauchsgegenstand. Aber warum ausgerechnet ein Mes-
ser? Warum kein Korb, kein Hut, keine Werkzeugmaschine? 
Das ist nicht ohne weiteres einzusehen. Gedichte werden 
nicht in Solingen gemacht. Sie sind nicht rostfrei. Sie unter-
scheiden sich von Messern nach ihrem Material, ihrer Her-
stellungsweise und ihrer Funktion.Gottfried Benn, dessen Ästhetik fünfundzwanzig Jahre nach 
ihrer Entstehung in Deutschland zur herrschenden Lehre, 
zum convenu106 geworden ist, hat in zwei seiner zentralen 
Schriften, Kunst und Macht von 1934, Ausdruckswelt von 
1949, die Forderung erhoben, das künstlerische Material 
müsse »kalt gehalten werden«. Von welchem Material ist die 
Rede? Das Material des Messerschmiedes ist das Eisen. Was 
mit »künstlerischem Material« gemeint ist, dürfte weniger 
klar sein . Bei Benn heißt es: »Der Kunstträger .. . lebt nur mit 
seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich 
hinein, d. h., zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es 
sein Material berührt, unruhig macht, zu Entladungen 
treibt.« Das ist alles. Zuwenig, so will es scheinen, um jeden 
Zweifel darüber zu beheben, was da auf dem Amboß des 
Verseschmiedes liegt. 
Ich riskiere es, da ich keine Lust habe, eine neue Ästhetik zu 
begründen, da ich nur eine einfache Frage beantworten 
möchte, etwas deutlicher zu werden. Das Material des 
Gedichteschreibers ist zunächst und zuletzt die Sprache. 
Aber ist die Sprache wirklich das einzige Material des 
Gedichts? Und an diesem Punkt erlaube ich mir, einen 
Begriff ins Spiel zu bringen, der mit allgemeinem Scharren, ja 
mit Hohngeheul begrüßt werden dürfte: den des Gegenstan-
des. Auch der Gegenstand, jawohl, der vorsintflutliche, 
längst aus der Mode gekommene Gegenstand, ist ein unent-
behrliches Material der Poesie. Ich kann, wenn ich einen Vers 
mache, nicht reden, ohne von etwas zu reden. Und dieses 
105. griech. , Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit, Sachkenntnis. 
106. allgemeine Übereinkunft. 
85 
Etwas, so gut wie die Sprache, die davon spricht, ist mein 
Material. 
Meine Gegenstände, die Gegenstände meines Gedichts, sind 
heiße Gegenstände- es gibt keine andern mehr, denn ich lebe, 
wie jedermann, in einer Welt aus »kochendem Schaum«. 
Heiß, in diesem Verstande, ist selbst das , was in der Frank-
! urter Allgemeinen Zeitung steht, die doch ihre Gegenstände 
nach Kräften zu temperieren bemüht ist, damit sich die Elite 
der Bundesrepublik nicht die Zunge verbrüht. Wie man 
Hiroshima, Budapest und Algier kalt halten sollte- oder auch 
nur den Verkehr auf der Straßenkreuzung oder die Jukebox in 
der nächstbesten Kneipe-, das ist schwer einzusehen. 
Die Sprache hingegen, die ich vorfinde, ist weder kalt noch 
heiß . Sie ist lauwarm. Lauwarm, so kommt es mir wenigstens 
vor, bleibt sie auch im Munde jener verspäteten Adepten der 
Ausdruckswelt, die keine Gegenstände kennen und die sich 
darauf beschränken, das, was sie nicht zu sagen haben, nach 
den Regeln der Bennschen Ästhetik zu formulieren. (Über 
diese Temperatur siehe Offenbarung 3,16107.) Was tue ich 
mit der lauen Sprache, die ich vorfinde, um sie zum Sprechen 
zr, bringen? Ich halte sie an meine Gegenstände. Sofort heizt 
sie sich auf. Sie ist ein guter Wärmeleiter. Sie bildet sofort den 
Zustand dessen ab, was sie vorfindet. Spontane Selbstentzün-
d~ng ist die Folge, das Gedicht brennt gewissermaßen ab. 
Das »künstlerische Material« erhitzt sich, der Text flammt 
auf, seine Energie verpufft, es entsteht kein stabiles, oder, mit 
Berm zu reden, »hinterlassungsfähiges Gebilde«. 
Ich gehe, versuchsweise, umgekehrt vor. Ich rede von dem, 
was zu sagen ist, was auf den Nägeln »brennt«, wie von einem 
Beliebigen, das mich nichts anginge. Ein manipulierter Tem-
peratursturz ist die Folge: Ironie, Mehrdeutigkeit, kalter 
Humor, kontrollierter Unterdruck sind die poetischen Kühl-
mittel. Das Produkt wird, sobald es mit der kochenden Reali-
tät in Berührung kommt, zischend explodieren. Auch hier 
entsteht kein widerstandsfähiges, brauchbares Gebilde. 
107. » Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich aus-
speien aus meinem Munde.« 
86 
Die Temperatur der Gegenstände entzieht sich unserer Kon-
trolle. Was die Sprache betrifft, also jenes unter den »künstle-
rischen Materialien«, das der Gedichteschreiber direkt beein-
flussen kann, so schlage ich folgendes Verfahren vor: Die 
Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußer-
s_ten Hitze bis zur extre_me~ Kälte z_u jagen, und zwar mög-
lichst mehrfach. Dazu 1st em ständiger Wechsel des Pathos 
erforderlich. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertrei-
bung und Understatement, Ausbruch und Ironie Raserei 
und Kristallisation, äußerster Nähe zum glühenden Eisen des 
Gegenstandes und äußerste Entfernung von ihm fort zum 
Kältepol des Bewußts_eins ist die Sprache einer unausgesetz-
t~n ~rohe zu . unterziehen. Zur Herstellung dieser höchst 
smnhchen, kemeswegs abstrakten Dialektik sind alle forma-
len Mittel erlaubt und von_nöten. Was in ihr zerreißt, erfriert, 
zur Schlacke verbrennt, 1st unbrauchbar. Was übrigbleibt, 
was oft genug d~rchs ~euer gegangen und oft genug abge-
schreckt ~orden '.st, wird_hart, ~est, widerstandsfähig genug 
sem, ~m sich wemgstens eme Zeitlang zu behaupten. Es wird 
allerdmgs voller Spuren des Prozesses sein, dem es seine Ent-
st~hung verdankt. Gedichte sind keine reinen Pt,odukte. Sie 
zeigen ~-p~ren ihrer Her_stell_ung und Spuren ihrer einstigen, 
gegenwamgen oder zukunfngen Benutzung: Kratzer, Risse 
Flecken. Wie Hüte oder Waffen können sie verrosten sich 
abnutzen und verunreinigen, ohne ihre Brauchbarkeit einzu-
büßen. Im Gegenteil: sie werden dadurch ihren Benutzern 
vertrauter, lieber, ähnlicher. Die Vorstellung, daß Gedichte 
?eson1_er~ edle ?der s~honu1:gsbedürftige Gegenstände seien, 
1st schadhch. Sie gehoren mcht unter Glasstürze und Vitri-
nen. Wenn sie veraltet oder verschlissen sind, kann man sie 
wegwerfe1: und durch n_eue ersetzen, wie Kleidungsstücke. 
Gute Gedichte haben eme lange Lebensdauer und können 
einen gewissen Grad ~on Ehrwürdigkeit erlangen. Sie sind 
a?er so wemg unsterblich oder ewig wie ein alter Baum oder 
em Schälmesser aus der Steirtzeit. 
»Mein Gedicht ist mein Messer« - aber es eignet sich nicht 
zum Kartoffelschälen. Wozu eignet es sich, wozu ist es zu 
87 
gebrauchen? Diese Frage kann der Hersteller des Gedichts 
nur vorläufig beantworten, indem er nämlich dem Benutzer 
vorgreift, der in jedem Fall das letzte Wort hat. Wenn es nach 
mir ginge - und soweit es nach mirrgeht -, ist es die Aufgabe 
des Gedichts, . Sachverhalte vorzuzeigen, die mit andern, 
bequemeren Mitteln nicht vorgezeigt werden können, zu 
deren Vorzeigung Bildschirme, Leitartikel, Industriemessen 
nicht genügen. Indem sie Sachverhalte vorzeigen, können 
Gedichte Sachverhalte ändern und neue hervorbringen. 
Gedichte sind also nicht Konsumgüter, sondern Produk-
tionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, 
Wahrheit zu produzieren. Da Gedichte endlich, beschränkt, 
kontingent108 sind, können mit ihrer Hilfe nur endliche, 
beschränkte, kontingente Wahrheiten produziert werden. 
Die Poesie ist daher ein Prozeß der Verständigung des Men-
schen mit und über ihn selbst, der nie zur Ruhe kommen 
kann. 
Es niitzt nichts, einen Sachverhalt vorzuzeigen, wenn keiner 
zusieht. Wahrheit kann nur produziert werden, wo mehr als 
ein Mensch zugegen ist. Deswegen müssen Gedichte an 
jemand gerichtet, für jemand geschrieben sein. Mindestens 
müssen sie damit rechnen, andern vor Augen oder zu Ohren 
zu kommen. Es gibt kein Sprechen, das ein absolutes Spre-
chen wäre. So wie sich Messer von Hüten und Hüte von 
Körben unterscheiden, indem sie ihren Benutzern einmal das 
Zustechen, zum andern das Aufsetzen und Forttragen zumu-
ten, so mutet jedes Gedicht seinem Leser ein anderes Lesen 
zu. Gedichte ohne Gestus109 gibt es nicht. Gedichte können 
Vorschläge unterbreiten, sie können aufwiegeln, analysieren, 
schimpfen, drohen, locken, warnen, schreien, verurteilen, 
verteidigen, anklagen, schmeicheln, fordern, wimmern, aus-
lachen, verhöhnen, reizen, loben, erörtern, jubeln, fragen, 
verhören, anordnen, forschen, übertreiben, toben, kichern. 
Sie können jeden Gestus annehmenaußer einem einzigen: 
108. zufällig, relativ. 
109. Begriff der Brechtschen Ästhetik für die Sprachhaltung dessen, der im 
Sprechen seine persönlichen Interessen zum Ausdruck bringt. 
88 
dem, nichts und niemanden zu meinen, Sprache an sich und 
selig in sich selbst zu sein. Damit das, was vorgezeigt werden 
soll, beac~tet wird, müssen Gedichte allerdings schön sein. 
Es muß em Vergnügen sein, sie zu lesen. Weil die meisten 
Sachverhalte, die vorzuzeigen sind, schwieriger Natur sind, 
muß das Vergnügen, mit dem man Gedichte liest, in aller 
Regel ein schwieriges Vergnügen sein. 
Gedichteschreiber unterscheiden sich von anderen Leuten 
nicht in höherem Maß als Messerschmiede oder Hutmacher. 
Sie müssen wichtige Sachverhalte kennen und imstande sein 
sie vorzuzeigen. Besondere Weihen stehen ihnen dafür nich~ 
zu. Es ist nicht einzusehen, warum ihr Ruhm den der Hutma-
cher übertreffen, ihre Würde die der Scherenschleifer in den 
Schatten stellen, .ihre Sterblichkeit oder Unsterblichkeit sich 
von der eines Postboten unterscheiden sollte. Auch verdienen 
ih:e Gem_ütsbewegungen kein besonderes Interesse. Zornige 
Dichter smd weder günstiger noch ungünstiger zu beurteilen 
als liebenswürdige Dichter, und es besteht keine Veranlas-
sung, tragische __ Seelenlagen einer unerschrockenen Lachlust 
vorzuziehen. Uberlassen wir also die Gedichteschreiber 
getrost ihren Gefühlen. Gedichte sind allzumal fühllos, wie 
!v1esser: brauchbar oder _unbrauchbar, das ist die Frage, die 
ich mir vorlege, wenn ich etwas geschrieben habe. Nicht 
immer ist sie leicht, selten ist sie günstig zu beantworten. 
Freilich, wer stellt sie schon? Die meisten Gedichteschreiber 
wollen gar nicht erst wissen, was sie herstellen, für wen und 
wozu. Kein Wunder, daß ihr, daß unser Beruf so lachhaft 
gering oder feierlich hoch geschätzt wird. »Er hat etwas 
Brauchbares gemacht«: dies Lob, das höchste, wird dem 
Gedichteschreiber selten zuteil. Dafür kann es dem Messer-
schmied, dem Scherenschleifer geschehen, daß ihm ein en-
thusiasmierter Kunde sagt: »Dieses Messer ist wirklich ein 
Gedicht« - und läßt es in der Sonne funkeln. 
89 
27. Walter Höllerer: Thesen zum langen Gedicht 
Walter Höllerer (geb. [922), Literaturwissenschaftler, Lyri-
ker und Herausgeber verschiedener Sammlungen zur Lyrik 
und Lyrik-Theorie der Moderne (»Transit«, » Theorie der 
modernen Lyrik «, »Ein Gedicht und sein Autor«) hat seine 
» Thesen zum langen Gedicht« 1965 in der Zeitschrift 
»Akzente « veröffentlicht. Im Gegensatz zu der verbreiteten 
Auffassung, daß Gedichte kurz zu sein haben und lange 
Gedichte eine »contradictio in adiecto« (E. A. Poe) seien, 
postulieren sie ein zwangloseres Lyrik-Verständnis, das sich 
am Vorbild außerdeutscher, vor allem angloamerikanischer 
Lyrik orientiert. 
Das lange Gedicht, so wie es hier verstanden wird, unter-
scheidet sich nicht nur durch seine Ausdehnung von den 
iibrigen lyrischen Gebilden, sondern durch seine Art sich 
zu bewegen und da zu sein, durch seinen Umgang mit der 
Realität. 
Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon sei-
ner Form nach politisch; denn es zeigt eine Gegenbewegung 
gegen Einengung in abgegrenzte Kästchen und Gebiete. Es 
läuft gegen kleinliche Begrenzungen des Landes und des Gei-
stes an. -Sackgassen hier wie dort: »DDR«-durch »Materia-
lismus« verknotete Idealisten. »BRD « - durch »Idealismus« 
verbogene Materialisten. Das lange Gedicht hat den Atem, 
Negationsleistungen zu vollbringen, Marx- und Hegel-Auf-
güsse abzuräumen, die Denkgefängnisse zu zerbröckeln, 
beharrlich den Ausdruck in neuen Anläufen für neue Verhält-
nisse zu finden . 
Wer ein langes Gedicht schreibt, schafft sich die Perspektive, 
die Welt freizügiger zu sehen, opponiert gegen vorhandene 
Festgelegtheit und Kurzatmigkeit. Die Republik wird er-
kennbar, die sich befreit. 
90 
.1 Die Ayseinandersetzung mit den Augenblickselementen, mit 
den U~erble1~seln aus de~ Summe der Wahrnehmungen in 
d~r g~nngfüg1gsten r~umhchen und zeitlichen Ausdehnung 
wird un langen Gedicht eher noch verstärkt als vernach-
läs_sigt: »auf da0 ich ~icht nur eine Anspielung meiner selbst 
w~re, auf daß ich mcht nur eine Erinnerung meiner selbst 
ware«. 
Die härteste N egationsleistung, die täglich in bezug auf uns 
selbst gefordert wird, 1st: von uns selber zunächst abzusehen. 
Im langen Gedicht bauen wir, aus den verschiedensten Wahr-
nehmun~en, eine mögliche Welt um uns auf, sparen uns aus 
und erreichen auf diesem Weg, daß wir sichtbar werden. 
Doch dies ist nur möglich mit freierem Atem, der im Vers-
bau, im Schriftbild Gestalt annimmt. Ich werde mir sichtbar. 
Alle Feiertäglichkeit weglassen. Einen Teil der theoretischen 
Tä~igkeit in die Praxis hineinnehmen. Die Auffächerung so 
weit öffnen wie möglich. 
Längeres Sich-einlassen: so daß Verbindungen zwischen 
Ge~en~tan_d, Leser, Autor, Gedicht möglich werden; die 
~a1V1ta~ gmg verloren; das Zelebrieren wurde unglaubwür-
dig; ms1stent zusammenholen, vorzeigen. 
Die erzwungene Preziosität und Chinoiserie des kurzen 
Gedichts! Das lange Gedicht gibt eher Banalitäten zu, macht 
Lust für weiteren Atem. Ich spiele mit dem, was ich gelernt 
habe. 
1~ langen Gedicht will nicht jedes Wort besonders beladen 
sem. Flache Passagen sind nicht schlechte Passagen, wohl 
aber smd ausgedrechselte Stellen, die sich gegenwärtig mehr 
und mehr ms kurze Gedicht eingedrängt haben, ärmliche 
Stellen. 
Das Wort »präzise« als Forderung: damit will sich Gelehr-
samkeit der Technik annähern und gibt Dekoration. Das 
lange Gedicht wird davon nicht betroffen. 
91 
Die Sprache dient zur täglichen Verständigung über bekannte 
Bedürfnisse. Die Sprache dient zur Definition noch kaum 
bekannter Ausmaße. Das lange Gedicht stellt sich beidem -
Zerreißprobe des Satzes. Möglichkeiten schaffen zwischen 
dem Plakat der Nähe und dem Kalkül der Ferne. 
Subtile und triviale, literarische und alltägliche Ausdrücke 
finden somit notgedrungen im langen Gedicht zusammen, 
spielen miteinander - wie Katz urid Hund. 
Berufe dich nicht auf »Schweigen« und »Verstummen«. Das 
Schweigen als Theorie einer Kunstgattung, deren Medium die 
Sprache ist, führt schließlich zu immer kürzeren, verschlüs-
selteren Gedichten; die Entscheidung für ganze Sätze und 
längere Zeilen bedeutet Antriebskraft für Bewegliches. 
Das lange Gedicht löst durch Bewegung die Gefahr des Hin-
sta tens und Starrwerdens im enggezogenen Kreis, es führt 
zugleich aus der starrgewordenen Me_tap~orik, der ~arren-
den Rhythmik, der bemühten Schnftbildschemank, stellt 
sich einer weiteren Sicht. 
Das lange Gedicht als Vorbedingung für kurze Gedichte. 
28. Rolf Dieter Brinkmann: 
Notiz zu dem Gedichtband »Die Piloten« 
Der Lyriker und Prosaist Rolf Dieter Brinkmann (1940-75) 
entwickelte, nach Anfängen im Banne Benns und unter star-
kem Einfluß amerikanischer Vorbilder, eine neue Form lyri-
schen Realismus, der das Trivial-Alltägliche darstellte, ohne 
der Formlosigkeit zu verfallen. - Der Gedichtband »Die Pilo-
ten« erschien 1968. 
Ich habe immer gern Gedichte geschrieben, wenn es auch 
lange gedauert hat, alle Vorurteile, was ein Gedicht darzu-
92 
stellen habe und wie es aussehen müsse, so ziemlich aus mir 
herauszuschreiben. Eine Menge Fehlversuche sind vorausge-
gangen, die so überflüssig waren, wenn ich heute an die Pro-
dukte der ausgebufften Kerle denke, die sich Lyriker nennen 
lassen. Da sitzen sie, irgendwo unsichtbar, und haben mal 
irgendwas von sich gegeben, jetzt halten sie die Kulturellen 
Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal 
anzusehen, lebende Tote, die natürlich schwerer zu beseiti-
gen sind als die sogenannten großen, alten Vorbilder in den 
Regalen moderner Antiquariate. W elcome to the Rolling 
Stones! Die Texte der Fugs sind besser. Woran liegt das? 
Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedieh[ "' 
heute nur nochein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch 
meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, 
was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die 
geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewe-
gungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende 
Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder 
kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, 
das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu 
einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durch-
sichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht als scheinbar iso-
lierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur 
des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige 
Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse, während jemand 
reinkommt ins Zimmer und fragt, gehen wir heute abend in 
die Spätvorstellung? Mir ist das Kaugummi ausgegangen! 
Eine Zeitung ist aufgeschlagen und man liest zufällig einen 
Satz, sieht dazu ein Bild und denkt, daß der Weltraum sich 
auch jetzt gerade wieder ausdehnt. Die milde Witterung lockt 
Go-Go-Girls in den Kölner Rheinpark. Das alte Rückpro-
Verfahren 110. Die Unterhaltung geht weiter. Ein Bild ent- \ 
steht oder ein Vorgang, den es so nie gegeben hat, Stimmen, } 
sehr direkt. Man braucht nur skrupellos zu sein, das als 
Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses Mal nicht klappt, 
110. Rückprojektionsverfahren der Trickfilmtechnik: Atelierszenen werden 
vor einer Bildwand, auf die ein eigener Hintergrund projiziert wird, 'gefilmt. 
93 
wirft man den Zettel weg, beim nächsten Mal packt man es 
dann eben, etwas anderes. Sehen Sie hin, packen Sie das mal 
an, was fühlen Sie? Metall? Porzellan? Eine alte Kippe zwi-
schen Zeigefinger und Mittelfinger! Und sonst geht es Ihnen 
gut? Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! 
Und einfach anfangen. 
Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, 
wie das noch immer die Konvention ist. Sie können von mir 
aus auch ruhig weiterhin den berufsmäßigen Ästheten und 
Dichterprofis, die ihre persönlichen Skrupel an&es\chts der 
Materialfülle in feinziseliertem Hokuspokus sublimieren, als 
Beschäftigungsgegenstand bleiben. Die Toten bew~ndern die 
Toten! Gibt es etwas, das gespenstischer wäre als dieser deut-
sche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.? 
Wo bleibt Ihr Stil, wo bleibt Ihr Stil? Haben Sie denn keine 
guten Manieren? Haben Sie nicht gelernt, mit Messer und 
Gake! zu essen, und falten Sie nie die Serviette auseinander? 
Warum sollt ich mich ausdrücklich um Stil kümmern, wenn 
sowieso alles um mich herum schon so stilvoll ist! Das wäre 
mir einfach zu langweilig. Wie sagte W arren Beatty zu den 
deutschen Kinobesitzern beim Start von Bonnie und Clyde: 
»Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehrfeuer müßt 
ihr den Ton ganz aufdrehen! « 
Häufig höre ich von Leuten, denen ich meine S~chen zeig~, 
daß dies nun eigentlich keine Gedichte mehr seien, und sie 
glauben, damit das entscheidende Urteil ausgesprochen z_u 
haben. Sie sagen, das hier sei ja alles einfach, man könne es Ja 
verstehen, und das wiederum macht ihnen meine Gedichte 
unverständlich. Diesen Vorgang finde ich witzig. Was soll 
man da machen? Das Klischee, die ganze abstrakte Vorstel-
lung vom »eigentlichen« Gedicht noch einmal ~ufd_eck_en? Es 
gibt kein anderes Material als das, was allen zugar:-glich 1st und 
womit jeder alltäglich umgeht, was man aufmmmt, wenn 
man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem 
Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man ge-
braucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz 
gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendei-
94 
ner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinun-
gen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die 
bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen läßt, z.B. wie 
jemand seinen Stock schwingt und dann zuschlägt, Zeilen, 
Bilder, Vorgänge, die dicke Suppe; die wem auf das Hemd 
tropft. Man schnieft sie durch die Nase hoch und spuckt sie 
dann wieder aus . Das alte Rezept und die neue Konzeption, 
bevor das Licht ausgeht, der Vorspann im Kino, hier bin 
ich. 
Ich gebe gerne zu, daß ich mich von der deutschsprachigen 
Lyrik nicht habe anregen lassen. Sie hat meinen Blick nur 
getrübt. Dankbar bin ich dagegen den Gedichten Frank 
O'Haras111, die mir gezeigt haben, daß schlechthin alles, was 
man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur 
genau genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht 
werden kann, auch wenn es sich um ein Mittagessen handelt. 
Zudem war O'Hara ein leidenschaftlicher Kinogänger, was 
mir in jedem Fall sympathisch ist. Ich widme deshalb den 
vorliegenden Gedichtband dem Andenken Frank O'Haras 
und dann all denen, die sich immer wieder von neuem gern 
auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken 
lassen. Sie alle sind die Piloten, die der Titel meint. 
29. Ernst]andl: Das Gedicht 
zwischen Sprachnorm und Autonomie 
Ernst]andl (geb. 1925), der» Wiener Gruppe« nahestehender 
Lyriker, Essayist und Autor von Hörspieltexten sowie einer 
»Sprechoper« (»Aus der Fremde«), knüpft mit dem experi-
mentellen, sprachspielerischen und sprachkritischen Stil seiner 
Lyrik (Typus des »Sprechgedichts«) zwar an das dadaistische 
Lautgedicht an, setzt sich aber auch sehr bewußt und konse-
quent mit Frage~ der modernen Ästhetik und Sprachtheorie 
111. (192&-66 ), amerikan. Lyriker. 
95 
auseinander. - »Das Gedicht zwischen Sprachno"rm und 
Autonomie« ist einer von drei Vorträgen, die Jandl 1974 vor 
Germanistik-Studenten in Wien gehalten hat. 
Ich könnte mir denken, daß ein Gedicht und ein Erlebnis 
vollständig identisch werden, so vollständig, daß sie dann ein 
und dasselbe sind, das Gedicht ist dann das Erlebnis, und das 
Erlebnis ist das Gedicht, und jedes von beiden ist darüber 
hinaus nahezu nichts, aber daß beide zu einem einzigen 
geworden sind, scheint mir außergewöhnlich viel. Es muß 
dabei das unmittelbare Erlebnis des Autors als unmittelbares 
Erlebnis derart zu einem Gedicht werden, daß das Gedicht 
das Erlebnis selbst ist, daß Sie also durch dieses Gedicht, als 
Leser Sprecher Hörer, dasselbe unmittelbare Erlebnis haben, 
das der Autor hatte, als er sein Erlebnis hatte. Das Erlebnis, 
das Sie haben sollen, muß also aus ganz den gleichen Bestand-
teileh bestehen wie das Erlebnis des Autors, es muß, um zu 
Ihnen zu gelangen, transportabel sein, und es muß übertrag-
bar sein, im Sinne einer ansteckenden Krankheit, die, von mir 
auf Sie übertragen, vollständig zu Ihrer eigenen wird. Ich 
benütze, im Zusammenhang mit Kunst, nur ungern diesen 
Vergleich, denn Kunst, wie Sie wissen, und wie Sie aufgrund 
von gegenteiligen Behauptungen um so sicherer wissen, ist 
gegen Krankheit jeder Art immun. Ich kenne aber hier keinen 
treffenderen Vergleich, denn Krankheit ist ein übertragbares 
Erlebnis. Der es empfängt, erlebt es, im Prinzip, genauso wie 
der, der es vermittelt. 
Da das Gedicht und das Erlebnis ein und dasselbe sein sollen, 
müssen sie aus den gleichen Bestandteilen und dem gleichen 
Material bestehen. Erlebnisse gibt es aus den verschiedensten 
Bestandteilen, aus dem verschiedensten Material. Gedichte 
gibt es aus den verschiedensten Bestandteilen, aber alle nur 
aus einem einzigen Material, Sprache. Um ein Erlebnis und 
ein Gedicht identisch zu machen, ein einziges Ding, wird 
dieses Ding aus dem Material des einen der beiden, Erlebnis 
und Gedicht, bestehen müssen, das nur über ein einziges 
Material verfügt. Das Resultat kann daher nur sein: ein Erleb-
96 
nis aus Sprache, ein sprachliches Erlebnis, das zugleich ein 
Gedicht ist. 
Alles, was an einem Gedicht nicht Erlebnis sein kann, ein 
direkt und unmittelbar übertragbares Erlebnis, muß für die-
sen Zweck aus dem Gedicht verschwinden, jedes Berichten 
~on etwas, von Erfahrungen, B_eobachtungen, Reflexionen, 
Jedes Mitteilen - eine Krankheit

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