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Arbeitstexte für den Unterricht Theorie der Lyrik Für die Sekundarstufe' herausgegeben von Ludwig Völker Philipp Reclam jun. Stuttgart stenz solcher Schöpfungen absoluter ~oe~ie unmöglich; ab, es ist leicht zu begreifen, daß der Begnff em~s sol~hen i1eale oder imaginären Zustandes für die Beurteilung Jedes m dt Erfahrung vorkommenden Gedichtes von höchstem W e1 ~\·e Konzeption einer reinen Poesie ist die eines_ unerreich- baren Typus, eines idealen Grenz_wertes der Wunsche, Be- mühungen und Fähigkeiten des Dichters ... 19. Bertolt Brecht Nach seiner Wendung zum Marxismus hat Bertolt Brecht (1898-1956) den Lyrik-Begriff einer radikalen Kritik unter- z ogen und versucht, den Begriff des lyrischen S_ubjekts und die Funktion der im Gedicht dargestellten individuellen Erfah- rung ~ius der Sicht der marxistischen Gesellschafts-_ und Sprachtheorie neu zu bestimmen. Der Text : Die _Lyrik a'.s Ausdruck« ist um 1927 entstanden und setzt sich mit dem fur das traditionelle Lyrik-Verständnis z entralen Ausdrucks- Begriff auseinander. 19.1. Die Lyrik als Ausdruck Wenn man die Lyrik als Ausdruck bezeic_h_ne~, muß man, wis- sen daß eine solche Bezeichnung emsemg ist. Da drucken sich Individuen aus, da drücken sich Klass~n aus, da haben Zeitalter ihren Ausdruck gefunden und Leidenschaften, ai:n Ende drückt »der Mensch schlechthin« sich aus. We1:1: die Bankleute sich zueinander ausdrücken oder die Polmker, dann weiß man, daß sie dabei handeln; selbst wenn der Kranke seinen Schmerz ausdrückt, gibt er dem Arzt oder den Umstehenden noch Fingerzeige damit, handelt also auch, aber von den Lyrikern meint man, sie gäben ~ur noch <l.en reinen Ausdruck, so, daß ihr Handeln eben n~r im Ausdnik- ken besteht und ihre Absicht nur sein kann, sich auszudruk- 58 ken. Stößt man auf Dokumente, die beweisen, daß der oder jener Lyriker gekämpft hat wie andere Leute, wenn auch in· seiner Weise, so sagt man, ja, in dieser Lyrik drücke sich eben der Kampf aus. Man sagt auch, der oder jener Dichter hat Schlimmes erlebt, aber sein Leiden hat einen schönen Aus- druck gefunden, insofern kann man sich bei seinen Leiden bedanken, sie haben etwas zuwege gebracht, sie haben ihn gut ausgedrückt. Als er sie formulierte, hat er seine Leiden ver- wertet, sie wohl auch zum Teil gemildert. Die Leiden sind vergangen, die Gedichte sind geblieben, sagt man pfiffig und reibt sich die Hände. Aber wie, wenn die Leiden nicht ver- gangen sind? Wenn sie ebenfalls geblieben sind, wenn nicht , für den Mann, der gesungen hat, so doch für die, welche nicht singen können? Aber dann gibt es noch andere Gedichte, die etwa einen Regentag schildern oder ein Tulpenfeld, und sie lesend oder hörend verfällt man in die Stimmung, welche durch Regentage oder Tulpenfelder hervorgerufen wird, d .. h., selbst wenn man Regentage und Tulpenfelder ohne Sttmmung betrachtet, gerät man durch die Gedichte in diese Stimmungen. Damit ist man aber ein besserer Mensch gewor- d~n, e!n genußfähigerer, feiner empfindender Mensch, und d17s wmf s1~ irgendwie und irgendwann und irgendwo zeigen. 19.2. Zu Wordsworth's »She was a phantom of delight« ~yrik ist nie?1als bloßer ~usdruck. Die lyrische Rezeption ist ,:_ip.e 012erat10n so gut wie etwa dasSe en oäerl"Iören;-d. h. viel mehr aktiv. Das _!?icht1:_n muß als menschliche Tätigkeit ( angesehen werden, als eseTischafilicfie-praxis mtt- a1ler Widersprüchlichkeit,¼ränderlichkeit, als eschic t edingt un gesc ic te.ma, en..c! ... Der Untersc ied iegt zwischen »w1cterspiegeln« und »den Spiegel vorhalten«. 59 20. Robert Musil: Der Geist des Gedichts In den Überlegungen Robert Musils (1880-1942), des Romanciers und Essayisten, der eine Ausbildung zum Inge- nieur erhalten hatte und zunächst als Naturwissenschaftler tätig war, spielt das Phänomen der Lyrik eine Rolle als Grenz- fall des Dichterischen in der Zwischenstellung zwischen Logik und Irrationalität. - Der Abschnitt »Der Geist des Gedichts« wurde im Rahmen von »Randbemerkungen« zum Thema »Literat und Literatur« 1931 in der »Neuen Rundschau« ver- öffentlicht .. Man sollte niemals vergessen, daß der innerste Brunnen einer Literatur ihre Lyrik ist, auch wenn man es für falsch hält, daraus eine künstlerische Rangfrage zu machen. Denn die Gewohnheit, den Lyriker als den Dichter im eigentlichen Wo sinn anzusehen, ist tief, wenn sie auch etwas archaisch ist: mrgendwo zeigt sich so deutlich wie im Vers, daß der Dichter ein Wesen ist, dessen Leben sich unter Bedingungen vollzieht, die anders sind als die üblichen. Dabei wissen wir jedoch nicht, was ein Gedicht überhaupt ist. Nicht einmal von der Außenzone der Wirkungen, die von den Begriffen Reim, Rhythmus und Strophe beherrscht wird, haben wir Kenntnisse, die unser Verhältnis zum Leben erleichtern würden, geschweige daß wir viel von dessen inne- rem Wesen wüßten. Eine bestimmte, von der gewöhnlichen abweichende Art der Vorstellungsverbindung: daß dies das Gedicht sei, es klingt nüchtern, aber es ist von allem, was uns augenblicklich weiterbringen könnte, vielleicht noch das Sicherste. Aus einer Vorstellung, die nicht schöner ist als Dutzende anderer, daß Kinder singend über eine Brücke gehn, unter der beleuchtete Boote und die Reflexe der Ufer schwimmen (ja noch in unermeßlichem Abstand von dem halbfertigen: Auf der Brücke singen Kinder, auf dem Strome schwimmen Lichtlein), formt Goethe durch einen umstellen- den Griff zwei der zauberhaftesten Zeilen: »Lichtlein schwimmen auf dem Strome / Kinder singen auf der Brük- 60 ken. « 76 Betrachtet man darin den Rhythmus, der sich ja auch mit den Fingern auf eine Tischplatte klopfen läßt, so hat er nicht viel mehr Bedeutung als eine untermalende Begleitung; das Lautbild, das auch fühlbar an dem veränderten Eindruck beteiligt ist, läßt sich trotzdem von diesem nicht loslösen und hat so wenig eine selbständige Qualität, wie eine Seite einer Figur eine hat: und so könnte man einen solchen Vers auch noch auf andere Veränderungen untersuchen, fände aber lau- ter Einzelheiten, die für sich so gut wie nichts bedeuten, und kann nur erklären, daß aus ihnen allen gemeinsam und durch ihre gegenseitige Durchdringung das Ganze auf eine Weise entsteht, die geheimnisvoll bleibt. Nun gibt es freilich viele, die es lieben, in der Dichtung ein Geheimnis zu sehn, aber man kann auch die Klarheit lieben, und vielleicht ist man in diesem Fall doch nicht ganz hoffnungslos von ihr ausge- schlossen. Denn wenn man die als Beispiel gebrauchten zwei Zeilen in ihrem Vorzustand und danach in ihrem fertigen durchliest, so erlebt man neben allem anderen doch auch, daß die förmlich greifbare Zusammenziehung, welche die Sätze im Augenblick der richtigen Wortstellung erfahren, daß die Einheit und Form, die sich da wie mit einem Schlag an der Stelle des diffusen Vorzustands hervorwölbt, nicht so sehr ein sinnliches Erlebnis sind wie eine der Logik entzogene Verän- derung des Sinns. Und wozu stünden denn auch die Worte da, wenn nicht um einen Sinn auszudrücken? Auch die Spra- che des Gedichts ist ja schließlich eine Sprache, also vor allem eine Mitteilung, und könnte man nun darin, einfach in diesem veränderten, nur mit den Mitteln des Gedichts so zu verän- dernden Sinngehalt, das Wesentliche des Vorgangs erblicken, so würden wohl alle Einzelheiten, die man am Gedicht als beteiligt erkennt, ohne sie verbinden zu können, eine Achse gewinnen, durch deren Vorhandensein ihr Zusammenhang begreiflich wird. [ .. . ] Man hat behauptet, daß beim Vorstellungsablauf des Gedichts an die Stelle der determinierenden Obervorstellun- 76. in dem Gedicht »St. Nepomuks Vorabend«. 61 gen des logischen Denkens ein Affekt träte, und es scheint auch wahr zu sein, daß eine einheitliche affektive Grundstim- mung am Entstehen eines Gedichts immer beteiligt ist;aber dagegen, daß sie das vor allem Entscheidende bei der Wahl der Worte sei, spricht die starke Arbeit des Verstandes, die sich nach dem Zeugnis der Dichter fühlbar macht. Ebenso hat man den Unterschied des Worts im logischen von dem im künstlerischen Gebrauch (wenn ich mich recht erinnere, war es Ernst Kretschmer77 in seiner 1922 erschienenen M edizini- schen Psychologie) damit erklärt, daß es entweder ins volle Licht des Bewußtseins trete oder gleichsam am Rande, in einem halb verstandischen, halb gefühlhaften Bezirk zu Hause sei, den er die »Sphäre« nennt. Aber auch diese Annahme - die übrigens so wie das gar zu räumlich benannte » Unterbewußtsein« der Psychoanalyse nur ein Gleichnis dar- stellt, denn das Bewußtsein ist ein Zustand, aber kein Bezirk, und 'sogar beinahe ein Ausnahmezustand des Seelischen - wird man durch die Einsicht ergänzen müssen, daß sich nicht nur der zuständliche, sondern auch der gegenständliche Zusammenhang unserer Vorstellungen zwischen allen Gra- den des »Sphärischen« und des eindeutig Begrifflichen befin- det. Es gibt Worte, deren Sinn ganz im Erlebnis ruht, dem wir ihre Bekanntschaft verdanken, und dazu gehört ein großer Teil der moralischen und ästhetischen Vorstellungen, deren Inhalt derart von Mensch zu Mensch und Abschnitt zu Abschnitt des Lebens wechselt, daß er kaum begrifflich gefaßt werden kann, ohne dabei das Beste seines Gehalts ein- zubüßen. In einem vor langem erschienenen Aufsatz 78 habe ich das einstmals das nicht-ratioi:de Denken genannt, sowohl in der Absicht, es vom wissenschaftlichen als dem ratioi:den zu unterscheiden, dessen Inhalten die Fähigkeit der Ratio angemessen ist, wie in dem Wunsch, damit dem Gebiet des Essays und weiterhin dem der Kunst gedankliche Selbstän- digkeit zu geben. Denn die wissenschaftliche Beurteilung neigt begreiflicherweise gern dazu, das Affektiv-Spielende im 77. (1888-1964), Psychiater und Konstitutionspsychologe. 78. , Skizze der Erkenntnis des Dichters« (1918). 62 künstlerischen Schaffen auf Kosten des intellektuellen Anteils zu überschätzen, so daß der Geist des Meinens, Glaubens, Ahnens, Fühlens, der der Geist der Literatur ist leicht als eine Unterstufe der wissenden Sicherheit erschein~, während in Wahrheit diesen beiden Arten von Geist zwei autonome ~egenstandsgebie~e d_es Erlebens und Erkennens zugrunde hegen, deren Logik mcht ganz die gleiche ist. Diese Unter- scheidung in eindeutig und nicht eindeutig bezeichenbare Gegenstände steht nicht in Widerspruch dazu, daß das Gebiet ?es Mi_tteilb_aren und der menschlichen Mitteilung vermutlich m stet1g~n Ubergä?gen von der mathematischen Sprache bis zum bemahe völlig unverständlichen Affektausdruck des Geis_teskranken reicht, sondern wird dadurch nur ergänzt. Schließt man das Pathologische aus und beschränkt sich auf das, was einigermaßen noch für einen Menschenkreis Mittei- lungswert besitzt, so könnte man in dieser stetigen Abstufung an die der reinen Begrifflichkeit entgegengesetzte Grenze etwa das sogenannte »sinnlose Gedicht« stellen· und dieses sinnlose oder gegenstandslose Gedicht, wie es ~on Zeit zu ~eit von Dichtergruppen gefordert wird, und immer mit ris- sigen Begründungen, ist in diesem Zusammenhang dadurch besonders bemerkenswert, daß es ja wirklich schön sein kann. So werden die Verse Hofmannsthals 79 : »Den Erben laß verschwenden / an Adler Lamm und Pfau / das Salböl aus den Hän~en / ~er toten alte~ Frau« sicher für viele die Eigenschaf- ten emes smnlosen Gedichtes haben, weil es ohne Hilfsmittel durchaus nicht zu erraten ist, was der Dichter eigentlich sagen wollte, dessenungeachtet man sich der geistigen Mitbewegt- heit_nicht entziehen k~nn, und man darf wohl behaupten, daß es vielen Menschen mn vielen Gedichten wenigstens teilweise so geht. Diese Verse sind in dieser Lage nicht schön, weil sich J-:Iofmannsthal sicher etwas dabei gedacht hat, sondern sie smd es, obwohl man sich nichts denken kann, und wüßte man, was man dabei zu denken habe, so würden sie vielleicht noch schöner werden, vielleicht aber auch weniger schön, 79. Anfangsverse des Gedich ts »Lebenslied«. 63 denn das, was man dazudenkt und -weiß, gehört bereits dem rationalen Denken an und erhält seine Bedeutung aus diesem. Man könnte sich freilich versucht fühlen, das als kein Beispiel der Kunst, sondern nur als eines der Unkunst des Lesers anzusprechen; aber dann mache man den ergänzenden Ver- such, über die Gedichte eines ausdrucksvollen Lyrikers, etwa Goethes, einen Chiffrenschlüssel zu legen oder auf irgend- eine andere mechanische Weise bloß jedes x-te Wort oder jede x-te Zeile herauszuheben, und man wird staunen, welche starken Halbgebilde dabei in acht von zehn Fällen zutage kommen. Es spricht das sehr für die hier vorgetragene Auf- fassung, daß das · zentrale Geschehnis im Gedicht das der Sinngestaltung ist und daß diese nach Gesetzen erfolgt, die von denen des realen Denkens abweichen, ohne die Berüh- rung mit ihnen zu verlieren. Auf diese Weise würde ich auch die Frage des Einspruchs aufklären, den das Gefühl des Dichters gegen das profane Denken erhebt. Dieses ist dann in der Tat sein Feind, eine Form der geistigen Bewegung, die sich mit der seinen so weriig verträgt, wie sich zweierlei Rhythmen bei der Bewe- gung des Körpers vertragen. Man sieht das vielleicht am deut- lichsten an dem Extrem, das dem sinnlosen Gedicht in der Lyrik entgegengesetzt ist, an dem sonderbaren Gebilde des Lehrgedichts, das alle ästhetischen Merkmale eines Gedichts hat, aber keinen Tropfen Gefühl enthält und also auch keine einzige Vorstellung, die nicht den Gesetzen der rationalen Vorstellungsbewegung unterstünde. Man empfindet, wenig- stens heute tut man es, daß so etwas kein Gedicht sei, aber man hat nicht immer so empfunden, und zwischen diesen beiden Gegensätzen des Allzu-Sinnvollen und des Allzu- Sinnlosen liegt die Dichtung in allen Graden der Vermengung ausgebreitet und läßt sich als ihre freundlich-feindliche Durchdringung auffassen, wobei sich in ihr das »profane« Denken so mit einem »irrationalen« vermengt, daß keines von beiden ihr eigentümlich ist, sondern gerade die Vereini- gung. Hier dürfte auch die ergiebigste Erklärung von allem zu suchen sein, was bisher als Anti-Intellektualismus erwähnt 64 worden ist, einschließlich seiner Erhabenheit und roman- tisch-kla~sizistischen Lebensabgewandtheit. [ ... ] Das Gedicht, das so entsteht, ist aber in den meisten Fällen eigentlich nichts als ein sinnloses vor einem gleichsam zusam- mengespiegelten Hintergrund von Sinn: ohne daß daraus eine Respektlosigkeit abgeleitet werden soll, denn der Seltenheits- wert großer Begabungen macht jede andere W ertunterschei- dung praktisch gegenstandslos. Theoretisch-kritisch sollte man es sich jedoch deutlich machen, denn der Wille der ein- zelnen bildet sich im Verhältnis zur Gesamtheit und wenn der S_inn _des Gedichts aus ~iner Durchdringun~ rationaler und mationaler Elemente m der geschilderten Weise er- wächst, ist es wichtig, die Forderung nach beiden Seiten gleich hoch zu halten. 21. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik In »Probleme der Lyrik«, der Marburger Rede von 1951, gab Gottfried Benn (1886-1956) eine Positionsbestimmung der modernen Lyrik, in die Erfahrungen des eigenen lebenslangen Umgangs mit dem Medium Lyrik und gesamteuropäischen Lyrik-Vorstellungen der Moderne einflossen und die über ein Jahrzehnt die Lyrik-Diskussion beherrschte, bevor mit dem Beispiel der Brechtschen Lyrik (und Lyrik-Theorie) ab Mitte der 60er Jahre ein anderes Modell von Lyrik ins öffentliche Bewußtsein drang. _ Meine Damen und Herren, wenn Sie am Sonntagmorgen Ihre Zeitung aufschlagen, und manchmal sogar auch mitten in der Woche, finden Sie in einer Beilage meistens rechts oben oder links unten etwas, das du:ch ~esperr~en Druc~ und besondere Umrahmung auffällt,es 1st em Gedicht. Es 1st meistens kein langes Gedicht, und sein The1:1a nimmt die Fragen der Jahreszeit auf, im Herbst werden die Novembernebel in die Verse verwoben im Früh- ling die Krokusse als Bringer des Lichts begrüßt, i~ Sommer 65 die mohndurchschossene Wiese im Nacken besungen, zur Zeit der kirchlichen Feste werden Motive des Ritus u~d d_er Legenden in Reime gebracht - kurz, b_ei der_ Regelmä~1gk~1t, mit der sich dieser Vorgang abspielt, Jahraus, Jahrem, wöchentlich erwartbar und pünktlich, muß man ~nnehmen, daß zu jeder Zeit eine ganze Reihe von Mens~he_n m u~serei:i Vaterland dasitzen und Gedichte machen, die sie an die Zei- tungen schicken, und die Zeit~ngen sc~einen ~berzeugt zu sein, daß das Lesepublikum diese Gedichte wuns<;ht, sonst würden die Blätter den Raum anders verwenden. Die Namen dieser Gedichthersteller sind meistens keine sehr be~annten Namen, sie verschwinden dann wieder aus den Feuilletons, und es wird so sein, wie mir Professor Ernst Robert Cur- tius80 mit dem ich in freundschaftlichem Briefwechsel stehe, schri:b, als ich ihm einen seiner Studenten als re~ht. bega~t empfahl. Er s~hrieb: »Ach, dies~ junge~ Leute, sie s1~d w~e die Vögel, im Frühling singen sie, und 1~ Sommer smd sie danh schon wieder still:« Mit diesen Gedichten der Gelegen- heit und der Jahreszeiten wollen wir uns nicht be~asse~, obschon es durchaus möglich ist, daß sie~ gelegentl1~h em hübsches Poem darunter befindet. Aber ich gehe hiervon aus, weil dieser Vorgang einen kollektiven Hint~rgrund h~t, die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Memung: da 1st eine Heidelandschaft oder ein Sonnenuntergang, und da ~teht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten - ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom ~ere!mten das Stimmungsmäßige abziehen, was dann übngb)eib~, we~n dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann v1elle1cht em yedicht. [ ... ] . . . . .. h Das ist ein langes Kapitel und ich habe es m me11~en B1:1c ern oft z~ durchleuchten gesucht. Heute beschrä~ke 1ch_mich auf das Gedicht, und ich kann es, denn im Gedicht sp1elen_s1ch alle diese Seinskämpfe wie auf einem Schauplatz ab, hmter 80. (188&-1956), Romanist. 66 einem modernen Gedicht stehen die Probleme der Zeit, der Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz weit ge- drängter und radikaler als hinter einem Roman oder gar einem Bühnenstück. Ein Gedicht ist immer die Frage nach dem Ich, und alle Sphinxe81 und Bilder von Sais82 mischen sich in die Antwort ein. Doch ich will alles Tiefsinnige ver- meiden und empirisch bleiben, darum werfe ich die Frage auf, welches sind nun also die besonderen Themen der Lyrik von heute? Hören Sie bitte: Wort, Form, Reim, langes oder kur- zes Gedicht, an wen ist das Gedicht gerichtet, Bedeutungs- ebene, Themenwahl, Metaphorik - wissen Sie, woratis die eben von mir genannten Begriffe sind? Sie sind aus einem amerikanischen Fragebogen an Lyriker, in USA versucht man auch die Lyrik durch Fragebogen zu fördern. Ich finde das interessant, es zeigt, daß bei den Lyrikern drüben die gleichen Überlegungen· angestellt werden wie bei uns. Zum Beispiel die Frage, ob langes oder kurzes Gedicht, hatte schon Poe83 aufgeworfen, und Eliot84 greift sie wieder auf, sie ist eine äußerst persönliche Frage. Vor allem aber hat es mir die Frage: an wen ist ein Gedicht gerichtet, angetan - es ist tatsächlich ein Krisenpunkt, und es ist -eine bemerkenswerte Antwort, die ein gewisser Richard Wilbur85 darauf gibt: Ein Gedicht, sagt er, ist an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind. Man sieht daraus, daß auch drü- ben der monologische Charakter der Lyrik empfunden wird, sie ist in der Tat eine anachoretische86 Kunst. [ ... ] Als nächstes möchte ich Ihnen einen Vorgang etwas direkter 81. Sphinx: Ungeheuer der griech. Sage, das denjenigen tötet, der das ihm auf- gegebene Rätsel nicht zu lösen weiß; von Ödipus besiegt. 82. Bild von Sais: Kultbild im alten Ägypten, dessen Schleier von keinem Sterb- lichen aufgehoben werden konnte (vgl. Schillers Gedicht »Das verschleierte Bild zu Sais.«). 83. Edgar Allan Poe (1809--49), amerikan. Kritiker und Schriftsteller; vertrat in seiner Schrift » The Poetic Principle« die Auffassung, ein langes Gedicht sei »eine contradictio in adjecto« (ein Widerspruch in sich). 84. Thomas Stearns Eliot (1888-1965), s. Nr. 23 . 85. (geb. 1921), amerikan. Lyriker. 86. einsiedlerisch. 67 schildern, als es im allgemeinen geschieht. Es ist der Vorgang beim Entstehen eines Gedichts. Was liegt im Autor vor? W ei- che Lage ist vorhanden? Die Lage ist folgende: Der Autor besitzt: Erstens einen dumpfen schöpferischen Keim, eine psychische Materie. Zweitens Worte, die in seiner Hand liegen, zu seiner Verfü- gung stehen, mit denen er umgehen kann, die er bewegen kann, er kennt sozusagen seine Worte. Es gibt nämlich etwas, was man die Zuordnung der Worte zu einem Autor nennen kann. Vielleicht ist er auch an diesem Tag auf ein bestimmtes Wort gestoßen, das ihn beschäftigt, erregt, das er leitmoti- visch glaubt verwenden zu können. Drittens besitzt er einen Ariadnefaden87 , der ihn aus dieser bipolaren Spannung herausführt, mit absoluter Sicherheit herausführt, denn - und nun kommt das Rätselhafte: das Gedicht ist schon fertig, ehe es begonnen hat, er weiß nur seinen Text noch nicht. Das Gedicht kann gar nicht anders lauten, als es eben lautet, wenn es fertig ist. Sie wissen ganz genau, wann es fertig ist, das kann natürlich lange dauern, wochenlang, jahrelang, aber bevor es nicht fertig ist, geben Sie es nicht aus der Hand. Immer wieder fühlen Sie an ihm herum, am einzelnen Wort, am einzelnen Vers, Sie nehmen die zweite Strophe gesondert heraus, betrachten sie, bei der dritten Strophe fragen Sie sich, ob sie das missing link88 zwi- schen der zweiten und vierten Strophe ist, und so werden Sie bei aller Kontrolle, bei aller Selbstbeobachtung, bei aller Kri- tik die ganzen Strophen hindurch innerlich geführt - ein Schulfall jener Freiheit am Bande der Notwendigkeit, von der ~ spricht. Sie können auch sagen, ein Gedicht ist wie das Schiff der Phäaken89, von dem Homer erzählt, daß es ohne Steuermann geradeaus in den Hafen fährt. Von einem fi.mgenSchriftsteller, den ich nicht ke nne, und von dem ich 87. Ariadne: Tochter des kretischen Königs Minos; mit ihrer Hilfe findetThe- seus aus dem Labyrinth des Minotaurus zurück. 88. fehlendes Bindeglied. 89. Homer, •Odyssee• , 8. Gesang. 68 nicht weiß, ob_ er lyrische Werke schafft, von einem gewissen Albrech_t Fabn las ich kürzlic~ im Lot90 eine Bemerkung, die genau ?1esen ?achve_rh_alt schddert, er sagt: »die Frage, von w~m em ~ed1cht sei, ~st auf Jeden Fall eine müßige. Ein in kemer ~eise zu r_eduz1erendes X hat teil an der Autorschaft des Ge_d1chtes, mit anderen Worten, jedes Gedicht hat seine ho_mensche_ Frage91 , jedes Gedicht ist von mehreren, das heißt von emem unbekannten Verfasser.« Dieser Sachverhalt ist so merkwürdig, daß ich ihn nochmal anders ausdrücken möchte. Irgend etwas in Ihnen schleudert em paar. Verse heraus oder tastet sich mit ein paar Versen hervor? 1r~end etwas anderes in Ihnen nimmt diese Verse . s?fort_ m die Hand?_ leg_t si~_in eine Art Beobachtungsapparat, em Mikroskop, pruft ~1e, ~arbt SH:, sl;1cht nach pathologischen Stellen. Ist das_erste v1elle1cht naiv, 1st das zweite ganz etwas ~nd~res: ~affm1ert und skeptisch. Ist das erste vielleicht sub- jektiv, bnngt das _zweite die objektive Welt heran, es ist das formale, das ge1st1ge Prinzip. I_ch ve:spreche mir nichts davon, _tief_sinn!g u?d langwierig uber_d1e Form z~ sprechen. _Form, 1sol!ert, 1st em schwieriger Beg~1ff.~ er die F?rm zst Ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes,_ sagen ~Ir Trauer, panisches Gefühl, finale Strö- mui:ige?, die hat Ja Jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz m mehr_ ode_r weniger vielfältigem und sublimem Aus- ~aß,_aber Lynk Wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen In!ialt_autochthon92 macht, ihn trägt, aus ihm mit ~orte1;1 Fasz11:1at10n macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es Ja gar mcht. Sie ist das Sein, der existentielle Auftrag des Künsders, sein Ziel. In diesem Sinne ist wohl auch der Satz von Staiger93 aufzufassen: Form ist der höchste Inhalt: 90. ))Da.s Lot«, in Berl in 1947-52 erschienene Zeitschrift. 91. Streitfrage der Wissens~haft,. o~ die Homer zugeschriebenen Epen »Ilias• und »_Odyssee« das Werk eines einz igen Dichters oder mehrerer Dichter sind 92. eigen-, bodenständig. · 93. Emil Staiger, Schweizer Literaturwissenschaftler, s . Nr. 24. 69 22. Thomas Stearns Eliot: Die drei Stimmen der Dichtung (The Time Voices of Poetry) T. S. Eliot (1888-1965), amerikanisch-englischer Lyriker (»Four Quartets«), Dramatiker und Essayist, gilt neben Valery und Ezra Pound als wichtigster Anreger der Literatur- und Lyrik-Theorie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jah r- 1,,,.,.,.{.,rts. - ,. Tb~ Tb'"~e VGi.ce;. Gf Poetry« tit der Tt:J;t eines 1953 gehaltenen Vortrags. Die erste Stimme ist die des Dichters, der zu sich selbst spricht - oder zu niemandem. Die zweite ist die des Dichters, der sich an Zuhörer wendet, an einzelne oder an ein Publi- kum. Die dritte ist die des Dichters, der eine von ihm erdachte Dramenfigur in Versen sprechen läßt, der nicht eigene Gedanken ausspricht, sondern nur das sagt, was eine imagi- näre Figur in ihrem Rahmen einer anderen imaginären Figur gegenüber äußern kann: Die Trennung zwischen der ersten und der zweiten Stimme, dem Dichter also, der zu sich, und dem Dichter, der zu anderen spricht, weist auf das Problem dichterischer Mitteilung hin. Die Trennung zwischen dem Dichter, der mit seiner eigenen oder einer angenommenen Stimme zu anderen Menschen spricht, und dem Dichter, der eine Sprache für erfundene Figuren ersinnt, in der diese mit- einander reden, weist auf das Problem hin, zwischen dramati- scher, halbdramatischer und nichtdramatischer Dichtung zu unterscheiden. [ ... ] Wie steht es nun mit der Poesie der ersten Stimme - jener, die nicht in erster Linie versucht, sich einem anderen Menschen mitzuteilen? Zunächst muß ich betonen, daß ich darunter nicht unbedingt jene Poesie verstehe, die wir im weitläufigen Sinn »lyrische Dichtung« nennen. Schon die Bezeichnung »lyrisch« ist unzulänglich. Wir denken dabei zuerst an Verse, die für Gesang bestimmt sind - an Lieder von Campion94 , Shake- 94. Thomas Campion (1567-1619), engl. Dichter und Musiker. 70 spcare und Burns95, Arien von W. S. Gilbert96 oder den Text er neuesten »musikalischen Nummer« . Sie wird aber auch a Dichtung angewandt, die nie für eine Vertonung geschrie- ben wurde oder die wir von ihrer Vertonung streng trennen; · r sprechen von »lyrischen Versen« bei den metaphysischen Dichtern, bei Vaughan und Marvell, Donne und Herbert97• Schon die Definition von »Lvik« im Qxfoi:4_ Q~~l;,lQ,Q..~ z~1gt, daß es keme ausreichende Erklärung für den Begriff gibt: »Lyrik: jetzt die Bezeichnung für kurze Gedichte, die ge- wöhnlich in Strophen eingeteilt sind und die eigene Ged\tn· . ken und Gefühle des Dichters unmittelbar ausdrücken.« . · _'Wie kurz muß nun ein Gedicht sein, um »lyrisch« genannt zu werden? Die Betonung der Kürze und der Hinweis auf die Einteilung in Strophen sind wahrscheinlich ein Überbleibsel au~ der Verbindung von Stimme mit Musik. Es gibt aber keme notwendige Verbindung zwischen Kürze und dem Ausdruck der Gedanken und Gefühle des Dichters.[ ... ] Es ist eindeutig die Lyrik von der Art eines Gedichtes, »das unmittelbar die Gedanken und Gefühle eines Dichters aus- drückt«, also nicht von der_ ganz unmotivierten Art eines kurzen für eine Vertonung gedachten Gedichts, der meine erste Stimme - die Stimme des Dichters, der nur zu sich spricht, oder zu niemandem - zugehört. In einem sehr inter- essanten Vortrag über Probleme der Lyrik zeigt der deutsche D!chter Gottfried Benn, daß er Lyrik für Dichtung der ersten Summe hält, er schließt, wie ich sicher glaube, Gedichte wie Rilkes Duineser Elegien und Valerys La jeune Parque darin ein. Wo er von »lyrischer Dichtung« spricht, würde ich aller- dings von »Meditation« sprechen. Wovon, fragt Gottfried Benn in seinem Vortrag, geht der Autor eines solchen Gedichts aus, »das an niemanden gerich- 95. Robert Bums (1759-96), schott. Lyriker mit volksliedhaftem Ton. 96. William Schwenck Gilbert (1836-1911), engl. Autor erfolgreicher Opern- texte. 97. Henry Vaughan (1622-95), Andrew Marvell (1621-78), John Donne (1572-1631), George Herbert (1593-1633): engl. geistlich-lehrhafte Lyriker (»Metaphysical Poets«). 71 tet ist?« Da sei, führt er aus, zunächst ein leblos:r Embryo oder ein dumpfer schöpferischer _Keim und dan~ die Sprache, der Vorrat der Worte, die dem Dichter zur Verfugung ste~en. Im Dichter keimt etwas, wofür er Worte sucht; er kann mcht wissen, nach welchen Worten er sucht, bis er sie gefun1en hat. Er kann diesen Embryo nicht erkennen, sol~nge er _1hn nicht zu einem Gebilde mit den richtigen Worten m der nc~- tigen Folge geformt hat. _Hat er dann die Worte gefunden, 1st das »Etwas«, für das er die Worte gesucht hat, verschwunde~ und an seine Stelle ist ein Gedicht getreten. Er geh~ dabei nicht von dem aus, was man allgemein als Gef~hl bez~1ch~et; noch weniger von einer Idee, sondern - um hier zwei Zeilen Beddoes'98 auf etwas anderes anzuwenden - von a bodiless childful of life in the gloom crying with frog voice, "what shall I be?" einer körperlosen Handvoll Leben im Dunkeln / mit Froschstimme jammernd, »was soll ich werden?«. Ich stimme mit Gottfried Benn überein, würde ~ur n_och etwas weiter gehen. In einem Gedi_cht, das weder d1dakt1sch noch erzählend ist und von ke1nerle1 gesellschafthch:m Zweck bestimmt, liegt dem Dichter vielleich~ nur daran, _die- sen dunklen Drang in Verse zu kleiden - mdem er semen ganzen Vorrat an Worten mit all ihren Grund-_ und Nebenb~- deutungen und ihrem Klang in A?spruch mmmt. Er weiß selbst nicht, was er sagen.möchte, bis er es ausgesprochen h_at, und während er sich bemüht, es zu finden, hat er keme Gedanken dafür, anderen etwas verständlich_zu machen. Er kümmert sich in diesem Stadium überhaupt mcht um andere; er ist nur bemüht, die richtigen Worte zu fin1en, oder doch die am wenigsten falschen. Es kümmert_1hn mcht, ob ~ndere Menschen sie je anhören y,erden oder mcht, o_der ob sie ver- standen werden, solange.er es tut. Ihn drückt eme Last, die er loswerden muß, um sich1 erleichtert zu füh\en. Od~r, um em anderes Bild zu gebrauchen, er wird von emem Damon ver- 98 . Thomas Lovell Beddoes (1803-1849), engl. Lyriker und Dramatiker. 72 folgt, einem Dämon, dem gegenüber er machtlos ist, weil dieser, in seinem Anfangsstadium, gesichtslos, namenlos, wesenlos ist. Und die Worte, das Gedicht, das er schreibt, sind so etwas wie ein Exorzismus dieses Dämons. Oder noch anders ausgedrückt: er macht sich all diese Mühe nicht, um sich einem anderen Menschen mitzuteilen, er will nur Erleichterung von einem plötzlichen Unbehagen finden; und wenn er dann endlich Worte in der richtigen Weise geordnet hat- oder wenigstens so gut ihm das möglich war-, fühlt er vielleicht im Augenblick etwas wie Erschöpfung, Beruhigung, Befreiung, ja und fast so etwas - beschreiben läßt es sich nicht-wie Ausgelöschtsein. Jetzt kann er zu dem Gedicht sagen: »Fort mit dir! such dir einen Platz in einem Buch - und erwarte nicht, daß ich mich weiter um dich küm- mere.« [ .. . ) Und jetzt möchte ich wiederkurz auf Gottfried Benn und seine unbekannte dunkle »psychische Materie« zurückkom- men - wir könnten sagen, den Polyp oder Engel, mit dem der Dichter kämpft. Ich möchte annehmen, daß bei den drei Arten der Dichtung, denen meine drei Stimmen entsprechen, ein gewisser Unterschied im Prozeß besteht. In dem Gedicht, in dem die erste Stimme der Poesie vorherrscht, die Stimme des Dichters, der zu sich selbst spricht, ist die »psychische Materie« bestrebt, zu einer eigenen Form zu kommen - die schließliche Form wird dann mehr oder weniger die Form für nur dieses eine Gedicht sein. Es ist natürlich irreführend, so von der Materie zu sprechen, als würde sie sich ihre eigene Form schaffen und nehmen : es findet vielmehr eine gleichzei- tige Entwicklung von Form und Materie statt, denn die Form beeinflußt die Materie in jedem Stadium; und vielleicht tut die Materie nichts anderes, als bei jedem erfolglosen Versuch einer formalen Gestaltung zu wiederholen: »nicht so! nicht so!«; schließlich fallen dann Form und Materie zusammen. In der Dichtung aber, in der wir die zweite Stimme und die dritte hören, ist die Form in gewissem Grad bereits vorhanden. Sie liegt von Anfang an als Entwurf oder Szenenfolge vor, was nicht ausschließt, daß sie bis zur Vollendung des Gedichts noch sehr oft umgewandelt werden kann. 73 23. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft Das stark v on der H egelschen Philosoph_ie geprägte kunst- . theoretische Denken des Soziologen und Asthetikers Theodor W. Adorno (1903-69) sucht die unvereinbar scheinenden Ansprüche des Kunstwerks und der Gesellschaft in einen dia- lektischen Ausgleich zu bringen: die Sprache der Lyrik erscheint so auf der einen Seite als Sprache der Wahrheit in einem kritisch-utopischen Gegensatz zur Sprache der I deolo- gie und Lüge in der Gesellschaft; auf der anderen Seite wird die Vorstellung, daß Lyrik »ein der_ Gesellschaft Entgegenge- setztes, durchaus Individuelles« sei, als »in sich selbst gesell- schaftlich« entlarvt. Auf der Basis_ des H egelschen Axioms von der wechselseitigen Vermitteltheit des Individuellen und des Allgemeinen gesteht Adorno dem lyrischen Gedicht »reine Subjektivität« zu und erhofft sich ~erade von dem Gedieh~, das auf die ausdrückliche Thematmerung von Gesellschaftlz- chem verzichtet, die eigentlich gesellschaftlzche Wirkung ._ - Die »Rede über Lyrik und Gesellschaft« wurde zuerst 1951 im Hessischen Rundfunk gehalten . Bei der Ankündigung eines Vortrags über L):'rik u°:d Gesell- schaft wird viele von Ihnen Unbehagen ergreifen. Sie werd_en eine soziologische Betrachtung erwarten, wie sie 1:ach Behe- ben an jeden Gegenstand sich heften _k~nn, ~o wie man ~or fünfzig Jahren Psychologien, vor ~re1ßig Phanomenolog~en aller erdenklichen Dinge erfand. Sie werden dabei das Miß- trauen hegen, daß die Erörterun_g ~er Be~ingunge~, unter denen Gebilde entstanden, und die ihrer Wirkung, sich vor- witzig an Stelle der Erfahrung von den ~ebilde1: wi_e s(e si°:d setzen will; daß Zuordnungen und Relat10nen die Ems1cht_ m Wahrheit oder Unwahrheit des Gegenstandes selber verdra°:- gen. [ ... ] Das Zarteste, Zerbrechlichste soll angetastet, mit eben dem Getriebe zusammengebracht werden, v~n. dem unberührt sich zu halten im Ideal zumindest des trad1t1onel- len Sinnes von Lyrik liegt. [ . .. J Kann, so werden Sie fragen, 74 von Lyrik und Gesellschaft ein anderer reden als ein amusi- scher Mensch? Offenbar ist dem Verdacht nur dann zu begegnen, wenn lyri- sche Gebilde nicht als Demonstrationsobjekte soziologischer Thesen mißbraucht werden, sondern wenn ihre Beziehung auf Gesellschaftliches an ihnen selber etwas Wesentliches, etwas vom Grund ihrer Qualität aufdeckt. Sie soll nicht weg- führen vom Kunstwerk, sondern tiefer in es hinein. Daß das aber zu erwarten sei, darauf allerdings führt die 'einfachste Besinnung. Denn der Gehalt eines Gedichts ist nicht bloß der Ausdruck individueller Regungen und Erfahrungen. Sondern diese werden überhaupt erst dann künstlerisch, wenn sie, gerade vermöge der Spezifikation ihres ästhetischen Ge- formtseins, Anteil am Allgemeinen gewinnen. Nicht, daß was das lyrische Gedicht ausdrückt, unmittelbar das sein müßte, was alle erleben. Seine Allgemeinheit ist keine volonte de tous99 , keine der bloßen Kommunikation dessen, was die anderen nur eben nicht kommunizieren können. Sondern die Versenkung ins Individuierte erhebt das lyrische Gedicht dadurch zum Allgemeinen, daß es Unentstel!tes, Unerfaßtes, noch nicht Subsumiertes in die Erscheinung setzt und so gei- stig etwas vorwegnimmt von einem Zustand, in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselte . Von rückhaltloser Individua- tion erhofft sich das lyrische Gebilde das Allgemeine. Ihr eigentümliches Risiko aber hat Lyrik daran, daß ihr Indivi- duationsprinzip nie die Erzeugung von Verpflichtendem, Authentischem garantiert. Sie hat keine Macht darüber, ob sie nicht in der Zufälligkeit der bloßen abgespaltenen Exi- stenz verharrt. ,... Jene Allgemeinheit des lyrischen Gehalts jedoch ist wesent- lich gesellschaftlich. Nur der versteht, was das Gedichnagt, wer in dessen Einsamkeit der Menschheit Stimme vernimmt ; ja, noch die Einsamkeit des lyrischen Wortes selber ist von der individualistischen und schließlich atomistischen Gesell- 99. frz., »der Wille aller« (im Gegensatz zur »volonte generale«, dem Gesamt- willen; von Rousseau eingeführte Unterscheidung). 75 r schaft vorgezeichnet, so wie u~gekehr~ seine ~llgemeine Ver- bindlichkeit von der Dichte semer Ind1V1duat1on lebt. Daher aber ist das Denken des Kunstwerks berechtigt und verpflich- tet, dem gesellschaftlichen Gehalt konkr_et nachzufragen, nicht bei dem vagen Gefühl eines AllgememeQ und Umfa:1- genden sich zu beruhigen. Solche denkende Bestimmung _ist keine kunstfremde und äußerliche Reflexion, sondern wird von jedem sprachlichen Gebilde gefor~ert .. Sein eigenes Material, die Begriffe, erschöpfen sich mcht m der bloßen Anschauung. Um ästhetisch angeschaut werden zu können, wollen sie immer auch gedacht werden, und der Gedanke, einmal vom Gedicht ins Spiel gesetzt, läßt sich nicht auf des- sen Geheiß sistieren. Dieser Gedanke aber, die gesellschaftliche Deutung von Lyrik, wie übrigens von allen Kunstwerken, darf d~nach nicht unvermittelt auf den sogenannten gesellschaftlichen Standort oder die gesellschaftliche Interessenlage der Werke oder gar ihrer Autoren zielen. Vielmehr h~t sie _auszumac_hen, wie 'das Ganze einer Gesellschaft, als emer m sich wider- spruchsvollen Einheit, im Kunstwerk erscheii:it ; ~orin das Kunstwerk ihr zu Willen bleibt, worin es über sie hinausgeht. Das Verfahren muß, nach der Sprache der Philosophie, immanent sein. Gesellschaftliche Begriffe sollen nicht von außen an die Gebilde herangetragen, sondern geschöpft wer- den aus der genauen Anschauung von diesen selbst. Der Satz aus Goethes Maximen und Reflexionen, daß du, was du nicht verstehst, auch nicht besitzest100 , gilt nicht nur für das ästhe- tische Verhältnis zu Kunstwerken, sondern ebenso für die ästhetische Theorie : nichts, was nicht in den Werken, ihrer eigenen Gestalt ist, legitimiert die Entscheidung ?arüber, was ihr Gehalt, das Gedichtete selber, gesellschaftlich vorstellt. Das zu bestimmen verlangt freilich Wissen wie vom Inneren der Kunstwerke so auch von der Gesellschaft draußen. Aber verbindlich ist dies Wissen nur, wenn es in dem rein der Sache sich Überlassen sich wiederentdeckt. Wachsamkeit ist gebo- 100 • Was man nicht versteht, besitzt man nicht« (Nr. 241 ). 76 t: n zurr:al dem heute ins Unerträgliche ausgewalzten Ideolo- giebegnff gegenüber. Denn Ideologie ist Unwahrheit fal- sches Bewußt~ein, Lüge. Sie offenbart sich im Mißlinge~ der Ku_n_stwerke, ihrem Falschen in sich und wird getroffen vonKn~ik. Großen Kunstw~rken aber, die an Gestaltung und allem dadurch an tendenzieller Versöhnung tragender Wider- sprü~he des real_en Das~ins ihr Vf! esen haben, nachzusagen, sie seien Ideologie, tut mcht bloß ihrem eigenen Wahrheitsge- h~lt unrecht, sondern verfälscht auch den Ideologiebegriff. ~ieser behauptet nicht, aller Geist tauge nur dazu, daß irgendwelche Menschen irgendwelche partikularen Interes- sen als allgemeine unterschieben, sondern will den bestimm- ten falschen Geist entlarven und ihn zugleich in seiner Not- wendigkeit begreifen. Kunstwerke jedoch haben ihre Größe ei_nzig daran, ~aß sie sprechen lassen, was die Ideologie ver- . birgt. Ihr Gelingen selber geht, mögen sie es wollen oder mcht, übers falsche Bewußtsein hinaus. Lassen Sie mich an Ihr eigenes Mißtrauen anknüpfen. Sie empfinden die Ly_ri~ als ein der Gesellschaft Entgegengesetz- tes, durchaus Ind1V1duelles. Ihr Affekt hält daran fest, daß es so bleiben soll, daß der lyrische Ausdruck, gegenständlicher Schwere entronnen, das Bild eines Lebens beschwöre das frei sei vom Zwang der herrschenden Praxis, der Nützhchkeit, v?m D~uc~ der stu~en Selbsterhaltung. Diese Forderung an die Lynk Jedoch, die des jungfräulichen Wortes, ist in sich selbst gesell~chaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feind- lich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sie~ b:ugt un? sich gänzlich nach dem je eige- nen Gesetz konsmmert. Sem Abstand ·vom bloßen Dasein wird zum Maß von dessen Falschem und Schlechtem. Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre. [ ... ] ~as wir jedoch mit Lyrik meinen[ .. . ] hat, je »reiner« es sich gibt, das Moment des Bruches in sich. Das Ich, das in Lyrik 77 laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Obj~ktivi- tät entgegengesetztes bestim1:1t un~ aus_drückt_; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, 1st es mcht unve:- mittelt eins. Es hat sie gleichsam verloren und tracht~t, sie durch Beseelung, durch Versenkung ins Ich selber, wieder- herzustellen. Erst durch Vermenschlichung soll der Natur das Recht abermals zugebracht werden, das m~nschlic~e Naturbeherrschung ihr entzog. Selbst lyrische ~eb1lde, m_ die kein Rest des konventionellen und gegenständlichen Dasem~, keine krude Stofflichkeit mehr hineinragt, die höchsten, die unsere Sprache kennt, verdanken ihre Würde gerade .. der Kraft, mit der in ihnen das Ich den Schem der ~atur, z_uru~~- tretend von der Entfremdung, erweckt. Ihre reme SubJekt1v1- tät, das, was bruchlos und harmonisch an ihnen dünkt, zeu~t vom Gegenteil, vom Leiden a~ . subjektfrem~e~ J:?asem ebenso wie von der Liebe dazu - Ja ihre Harmome 1st e1gen~- lich nichts anderes als das lneinanderstimmen solchen Lei- dens und solcher Liebe. Noch das »Warte nur, balde / ruhest du auch« 101 hat die Gebärde des Trostes: sei_ne abgrün~ige Schönheit ist nicht zu trennen von dem, was sie verschweigt, der Vorstellung einer Welt, die den Frieden verweigert. [ ... ] . d" h Man pflegt zu sagen, ein vollkomme1;1es lyns~hes _Ge ~c t müsse Totalität oder Universalität besitzen, musse m se~ner Begrenzung das Ganze_, in sei!ler Endl_ichkeit das _Une11:dhche geben. Soll das mehr sem als em GememRlatz aus Jener ~sthe- tik die da als Allerweltsmittel den Begnff des Symbolischen zu; Hand hat, dann zeigt es an, da~ in jedem _lyrischen Gedicht das geschichtliche Verhältms des_ SubJe~ts zur Objektivität, des Einzelnen zur Gesellschaf~ 1m M~dmm ~es subjektiven, auf sich zurückgeworfen~n Geistes semen Nie- derschlag muß gefunden haben. Er wird u~ s_o vollkomme- ner sein, je weniger das Gebild~ das Y_ er~al~ms von ~eh und Gesellschaft thematisch macht, Je unwillkurhcher es vielmehr im Gebilde von sich aus sich kristallisiert. 101. • Wanderers Nachtlied« von Goethe. 78 24. Emil Staiger: Lyrik und lyrisch Mit den 1946 zuerst vorgelegten »Grundbegriffen der Poetih formulierte der Literaturwissenschaftler Emil Staig er. (geb. 1908) eine Theorie der literarischen Gattungen, die als »literaturwissenschaftlicher Beitrag zu einer philosophischen Anthropologie« gedacht war. Die fast ausschließliche Ablei- tung des Lyrik-Begriffs von Beispielen Goethes und der Romantik wurde von der Kritik als unzulässige Einengung zurückgewiesen. Kritische Neuansätze zur Gattungstheorie nehmen seither mit Vorliebe ihren Ausgang von einer Ausein- andersetzung mit Staigers Konzeption . - Der Aufsatz »Lyrik und lyrisch« stellt eine 1952 in der Zeitschrift »Der Deutsch- unterricht« publizierte Zusammen/ assung von Staigers gat- tungspoetischen Vorstellungen zur Lyrik dar. Es ist schon längst nicht mehr möglich, die Gattungsgesetze der Lyrik zu bestimmen. Die Beispiele haben sich seit der Antike so vermehrt und sind so mannigfaltig geworden, daß jeder Versuch, einen Generalnenner zu finden, nur bei den gleichgültigsten Begriffen enden kann. W oh! aber ist es auch heute noch möglich, das Wesen des Lyrischen herauszuarbei- ten. Der Unterschied zwischen dem ersten und diesem zwei- ten Problem wird sofort klar, wenn wir bedenken, daß sich das Adjektiv »lyrisch« zu »Lyrik« nicht so verhält wie etwa das Adjektiv »eisern« zu »Eisen«. Lyrik braucht keineswegs 1 lyrisch zu sein, und Lyrisches gibt es nicht nur in der Lyrik. Epigramme sind meist nicht lyrisch; doch lyrisch sind Hof- mannsthals kleine Dramen. Lyrik: das ist ein Sammelbegriff, ein Fach, in das Gedichte, kurze Stücke in Versen, eingelegt werden. Der Ausdruck »lyrisch« dagegen bezeichnet einen stilistischen Wesenszug, an dem eine einzelne Dichtung mehr oder minder Anteil haben kann, im Sinne des Platonischen µEi:EXELv102 . Ich wähle als Beispiel Wanderers Nachtlied: 102. griech., • teilhaben« (der Dinge an den Ideen). 79 Über allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. Es ist keine Frage, daß diese Dichtung ins Fach der Lyri~ gehört, zusammen mit andern Liedern, doch außerdem mit Sonetten, Oden, Hymnen und Sprüchen._ Ist a?er Wanderers Nachtlied auch lyrisch? Das gäbe wohl wieder Je~ermann zu. Die Sache liegt aber nicht so einfach. Um zu bestimme?, was lyrisch sei, muß ich mich auf de~ Sprachgebrauch b~smne~. Denn alle Probleme solcher Art smd Fragen der ter~mnolog1- schen Zweckmäßigkeit. Wir nennen lyrisch, was s~1mmu~gs- voll ist. Lyrische Verse sind in einer betonten W ~1se m~s1ka- lisch, so sehr, daß oft der Sinn der Worte w:eniger _wichtig scheint als ihr Klang. Lyrisches verstehen wir unm1ttel?ar, ohne daß uns der grammatische, logisch~ oder ansc~auhche Zusammenhang klar sein müßte. Das Lyrische entspringt der Einsamkeit und spricht den einsamen Menschen an,. so, ~a~ sich der Leser, ohne es zu wissen, mit dem G~lesene? 1dentif1- ziert und die Verse vor sich hin sagt, als kamen s_~e a~s der eigenen Brust. Das Wesen des Lyrischen, das v_oll~tand1g 1ar- zulegen die Aufgabe einer Fundamentalpoetik 1st, schließt sich darin zusammen, daß hier jede Art von Absta~d fehlt._ Es gibt keinen Abstand zwisch~n Subj~kt und Obiekt; Stim- mung ist immer ununtersche1dbar Stimmung der Seele ,und Stimmung der Landschaft. Es gibt keine? Absta~d von I~h~lt und Form; die Form ist vom Inhalt nicht ~bl~sba~. Em m Prosa wiedergegebenes lyrisches Stück zerfallt m nichts. _Es gibt keinen Abstand von Dichter und Leser;_ man ~etzt s1c? mit Lyrischem nicht auseinander, man be~_rte1lt es nicht. Wir empfinden es, oder es läßt uns ka_lt. Fur _das Fehlen des Abstands wählt die Poetik den Titel ''.Erinnerung<'.. Der Dichter erinnert die Natur, die Natur ennnert den Dichter. 80 Beide vertiefen sichineinander. Es gibt hier keinerlei Gegen- über. [ . . . ] Betrachten wir daraufhin Wanderers Nachtlied, so drängt sich das Lyrische alsbald auf. Das Gedicht ist überaus stim- mungsvoll. Die Stimmung der Landschaft ist die der Seele. Schon durch die Musik der Verse wird der empfängliche Hörer sofort verständigt. Die Form kann vom Inhalt nicht abgelöst werden. Wer das Gedicht übersetzen wollte, müßte etwas ganz anderes schaffen. Die Instrumente stilkritischer Forschung sind heute fein genug geschärft, um die zarten lyrischen Elemente eines solchen Stücks auseinanderzulegen. Wäre Wanderers Nachtlied damit aber erschöpfend interpre- tiert? Keineswegs! Es findet sich manches, was nicht als lyrisch gelten kann. So hat man darauf hingewiesen, daß Goethe der Reihe nach alle Schichten des Reichs der Natur zur Sprache bringt: die mineralische, die vegetative, die ani- malische und die menschliche sind in den Gipfeln, den Wip- feln, den Vögelein und dem Du des Menschen gesondert. Solche klare Sonderung ist nicht lyrisch. Im Lyrischen gibt es keine Konturen. Alles fließt da ineinander. Das klare Neben- einander charakterisiert viel eher den epischen Stil, der in der Homerischen Parataxe103 die reinste Erfüllung gefunden hat. Aber damit noch nicht genug! Der letzte Vers von Wanderers Nachtlied hat fast den Charakter einer Pointe. Es kommt- im wahrsten Sinne des Wortes - auf die letzte Zeile an, wie in epigrammatischer Poesie und im kunstgerechten klassischen Drama. Also auch dramatische Elemente sind an dem kleinen Gedicht beteiligt. So ziehen wir unser Urteil zurück und beschränken uns auf die Feststellung, daß Wanderers Nacht- lied wohl vorwiegend, aber nicht ausschließlich lyrisch ist. In dieser Mischung der Elemente steht das Gedicht nicht ein- zig da. Mehr oder minder hat jede Dichtung an allen drei Gattungen, der lyrischen, der epischen und der dramati- schen, teil, schon weil jede Dichtung ein Sprachkunstwerk ist. Es läßt sich nämlich zeigen, daß die Silbe das lyrische, das 103 . in den Homerischen Epen zum Stilmittel ausgebildete Aneinanderreihung von Hauptsätzen. 81 einzelne Wort das epische, der Satz das dramatisch<: Element der Sprache darstellt. Die Silbe all~in be~eutet n_1ch~s und vermittelt uns keine Anschauung. Sie geht im Musikalischen auf. Wörter stellen etwas vor, wie der epische Dichter Bilder vorstellt. Der Satz liefert einen Zusammenhang; das Wort wird zur Funktion des Ganzen, wie in der dramatischen Dichtung jeder Teil Funktion des Ganzen ist. Demnach liegt überall, wo überhaupt '-'.?llständige Sätz~ gesRrochen_ werden, schon eine sprachliche Außerung vor, die lynsch-episch-d_ra- matisch, wenngleich in verschiedenen Graden und '."-rten! ist. Nur Silbenfolgen wie »Eiapopeia« könnten als rem_ lynsc~, und höchstens eine mathematische Formel könnte als rem dramatisch gelten. .. . Aber nun selbst von diesen fundamentalen Verhaltmssen abgesehen: Ein Gedicht kann niemals rein lyrisch sei_n, weil es sonst des Halts und der Führung entbehren und wie Wasser zerfli"eßen würde. Einige Lieder Clemens Brentanos scheinen oft nahe daran zu sein. Eben deshalb ist Clemens Brentano ein »reinerer« lyrischer Dichter als Goethe, aber ein minder bedeutender. Hier gilt es, mit Kraft die Vorurteile der _alten Poetik die eine Poetik vorbildlicher Muster war, zu bekamp- fen. I~ Sinne der Musterpoetik104 - die sich nicht nur ~is Gottsched sondern auch bis in unsere Tage behauptet - gilt die Reinh:it der Gattung als Verdienst. Im Sinne der neuen, nicht auf Sammelbegriffe ausgerichteten Poetik kann »rein« nur soviel wie »einseitig« heißen. Eine Dichtung ist u1;11 so vollkommener, je mehr sich das Lyrische und das Epische und das Dramatische in ihr erfüllen. 104. Gattungs- und Dichtungslehre, die verbindliche Regeln für den Gebrauch · der literarischen Formen aufstellt. 82 25. Günter Eich: Trigonometrische Punkte Günter Eich (1907-72), Lyriker und Hörspielautor, hat sich verschiedentlich auch theoretisch zur Lyrik geäußert. - » Tri- gonometrische Punkte« ist ein Abschnitt aus den 1956 veröf- fentlichten »Bemerkungen zum Thema Literatur und Wirk- lichkeit« und dokumentiert die Bedeutung der Lyrik als Medium der Erfassung von Wirklichkeit in der elementaren Form der Wort-Ding-Korrelation . Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orien- tieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs mar- kieren. Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirk- lichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen. Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentli- che Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das.Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu überset- zen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelun- genste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit. Ich muß gestehen, daß ich in diesem Übersetzen noch nicht weit fortgeschritten bin. Ich bin über das Dingwort noch nicht hinaus. Ich befinde mich in der Lage eines Kindes, das Baum, Mond, Berg sagt und sich so orientiert. Ich habe deshalb wenig Hoffnung, einen Roman schreiben zu können. Der Roman hat mit dem Zeitwort zu tun, das im Deutschen mit Recht auch Tätigkeitswort heißt. In den Bereich des Zeitwortes aber bin ich nicht vorgedrungen. Allein das Dingwort brauche ich gewiß noch einige Jahr- zehnte. Für diese trigonometrischen Zeichen sei das Wort »Defini- tion« gebraucht. Solche Definitionen sind nicht nur für den 83 Schreibenden nutzbar. Daß sie aufgestellt werden,. ist mir lebensnotwendig. In jeder gelungen~n Zeile ?Öre ich den Stock des Blinden klopfen, der anzeigt : Ich bm auf festem Boden. Ich behaupte nicht, daß die Richtigkei~ der D~finitionen von der Länge oder Kürze der Texte _abhmge_. Em Roma_n von vierhundert Seiten enthält möglicherweise eben~ov1el ~n Definition wie ein Gedicht von vier Versen. Ich bm bereit, diesen Roman zu den Gedichten zu zählen. Richtigkeit ~er Definitio~ und Qual)t~t sind i:nir identi~ch. Erst wo die Ubersetzung sich dem Ongmal annah~rt, beg1~nt für mich Sprache. Was da~or_liegt, ~ag psychologisch, soz~o- logisch, politisch oder wie immer interessant sem, und ich werde mich gern davon unterhalten l~ssen, ~s b~wundern und mich daran freuen - notwendig aber 1st es mir mcht. Notwen- dig ist mir allein das Gedicht. \. 26. Hans Magnus Enzensberger: Scherenschleifer und Poeten Hans Magnus Enzensberger (geb. _1929), Lyriker, Literatur- wissenschaftler (»Brentanos Poetik«), Herausg_eber (» Mu- seum der modernen Poesie«, »Kursbuch «), Kritiker, Essayist und u. a. Autor eines Dokumentarstücks (» D as Verhör v on Habana «) gehört zu der Generation _nach Benn un_d Brecht, die sich vor das Problem gestellt sieht, den Lyrik-Begriff sowohl nach der politisch-gesellschaftlichen wie nach der indi- viduell-privaten Seite offenzuhalten. - Der Beitrag »Scheren- schleifer und Poeten « wurde 1961 für die von Ha_ns Sender herausgegebene Sammlung »Mem Gedicht tSt mem Messer« geschrieben. »Mein Gedicht ist mein Messer«: das heißt, es komII?t in d_er Natur nicht vor, wie die Heuschrecke oder der Gramt. ~s _ist ein Artefakt, ein Kunstprodukt, ein technisches Erzeugms 1m 84 griechischen Sinn (Technik kommt von i:txvri 105), mithin ein Gebrauchsgegenstand. Aber warum ausgerechnet ein Mes- ser? Warum kein Korb, kein Hut, keine Werkzeugmaschine? Das ist nicht ohne weiteres einzusehen. Gedichte werden nicht in Solingen gemacht. Sie sind nicht rostfrei. Sie unter- scheiden sich von Messern nach ihrem Material, ihrer Her- stellungsweise und ihrer Funktion.Gottfried Benn, dessen Ästhetik fünfundzwanzig Jahre nach ihrer Entstehung in Deutschland zur herrschenden Lehre, zum convenu106 geworden ist, hat in zwei seiner zentralen Schriften, Kunst und Macht von 1934, Ausdruckswelt von 1949, die Forderung erhoben, das künstlerische Material müsse »kalt gehalten werden«. Von welchem Material ist die Rede? Das Material des Messerschmiedes ist das Eisen. Was mit »künstlerischem Material« gemeint ist, dürfte weniger klar sein . Bei Benn heißt es: »Der Kunstträger .. . lebt nur mit seinem inneren Material, für das sammelt er Eindrücke in sich hinein, d. h., zieht sie nach innen, so tief nach innen, bis es sein Material berührt, unruhig macht, zu Entladungen treibt.« Das ist alles. Zuwenig, so will es scheinen, um jeden Zweifel darüber zu beheben, was da auf dem Amboß des Verseschmiedes liegt. Ich riskiere es, da ich keine Lust habe, eine neue Ästhetik zu begründen, da ich nur eine einfache Frage beantworten möchte, etwas deutlicher zu werden. Das Material des Gedichteschreibers ist zunächst und zuletzt die Sprache. Aber ist die Sprache wirklich das einzige Material des Gedichts? Und an diesem Punkt erlaube ich mir, einen Begriff ins Spiel zu bringen, der mit allgemeinem Scharren, ja mit Hohngeheul begrüßt werden dürfte: den des Gegenstan- des. Auch der Gegenstand, jawohl, der vorsintflutliche, längst aus der Mode gekommene Gegenstand, ist ein unent- behrliches Material der Poesie. Ich kann, wenn ich einen Vers mache, nicht reden, ohne von etwas zu reden. Und dieses 105. griech. , Kunstfertigkeit, Geschicklichkeit, Sachkenntnis. 106. allgemeine Übereinkunft. 85 Etwas, so gut wie die Sprache, die davon spricht, ist mein Material. Meine Gegenstände, die Gegenstände meines Gedichts, sind heiße Gegenstände- es gibt keine andern mehr, denn ich lebe, wie jedermann, in einer Welt aus »kochendem Schaum«. Heiß, in diesem Verstande, ist selbst das , was in der Frank- ! urter Allgemeinen Zeitung steht, die doch ihre Gegenstände nach Kräften zu temperieren bemüht ist, damit sich die Elite der Bundesrepublik nicht die Zunge verbrüht. Wie man Hiroshima, Budapest und Algier kalt halten sollte- oder auch nur den Verkehr auf der Straßenkreuzung oder die Jukebox in der nächstbesten Kneipe-, das ist schwer einzusehen. Die Sprache hingegen, die ich vorfinde, ist weder kalt noch heiß . Sie ist lauwarm. Lauwarm, so kommt es mir wenigstens vor, bleibt sie auch im Munde jener verspäteten Adepten der Ausdruckswelt, die keine Gegenstände kennen und die sich darauf beschränken, das, was sie nicht zu sagen haben, nach den Regeln der Bennschen Ästhetik zu formulieren. (Über diese Temperatur siehe Offenbarung 3,16107.) Was tue ich mit der lauen Sprache, die ich vorfinde, um sie zum Sprechen zr, bringen? Ich halte sie an meine Gegenstände. Sofort heizt sie sich auf. Sie ist ein guter Wärmeleiter. Sie bildet sofort den Zustand dessen ab, was sie vorfindet. Spontane Selbstentzün- d~ng ist die Folge, das Gedicht brennt gewissermaßen ab. Das »künstlerische Material« erhitzt sich, der Text flammt auf, seine Energie verpufft, es entsteht kein stabiles, oder, mit Berm zu reden, »hinterlassungsfähiges Gebilde«. Ich gehe, versuchsweise, umgekehrt vor. Ich rede von dem, was zu sagen ist, was auf den Nägeln »brennt«, wie von einem Beliebigen, das mich nichts anginge. Ein manipulierter Tem- peratursturz ist die Folge: Ironie, Mehrdeutigkeit, kalter Humor, kontrollierter Unterdruck sind die poetischen Kühl- mittel. Das Produkt wird, sobald es mit der kochenden Reali- tät in Berührung kommt, zischend explodieren. Auch hier entsteht kein widerstandsfähiges, brauchbares Gebilde. 107. » Weil du aber lau bist, und weder kalt noch warm, werde ich dich aus- speien aus meinem Munde.« 86 Die Temperatur der Gegenstände entzieht sich unserer Kon- trolle. Was die Sprache betrifft, also jenes unter den »künstle- rischen Materialien«, das der Gedichteschreiber direkt beein- flussen kann, so schlage ich folgendes Verfahren vor: Die Sprache ist durch die ganze Temperaturskala von der äußer- s_ten Hitze bis zur extre_me~ Kälte z_u jagen, und zwar mög- lichst mehrfach. Dazu 1st em ständiger Wechsel des Pathos erforderlich. Zwischen Hyperbel und Andeutung, Übertrei- bung und Understatement, Ausbruch und Ironie Raserei und Kristallisation, äußerster Nähe zum glühenden Eisen des Gegenstandes und äußerste Entfernung von ihm fort zum Kältepol des Bewußts_eins ist die Sprache einer unausgesetz- t~n ~rohe zu . unterziehen. Zur Herstellung dieser höchst smnhchen, kemeswegs abstrakten Dialektik sind alle forma- len Mittel erlaubt und von_nöten. Was in ihr zerreißt, erfriert, zur Schlacke verbrennt, 1st unbrauchbar. Was übrigbleibt, was oft genug d~rchs ~euer gegangen und oft genug abge- schreckt ~orden '.st, wird_hart, ~est, widerstandsfähig genug sem, ~m sich wemgstens eme Zeitlang zu behaupten. Es wird allerdmgs voller Spuren des Prozesses sein, dem es seine Ent- st~hung verdankt. Gedichte sind keine reinen Pt,odukte. Sie zeigen ~-p~ren ihrer Her_stell_ung und Spuren ihrer einstigen, gegenwamgen oder zukunfngen Benutzung: Kratzer, Risse Flecken. Wie Hüte oder Waffen können sie verrosten sich abnutzen und verunreinigen, ohne ihre Brauchbarkeit einzu- büßen. Im Gegenteil: sie werden dadurch ihren Benutzern vertrauter, lieber, ähnlicher. Die Vorstellung, daß Gedichte ?eson1_er~ edle ?der s~honu1:gsbedürftige Gegenstände seien, 1st schadhch. Sie gehoren mcht unter Glasstürze und Vitri- nen. Wenn sie veraltet oder verschlissen sind, kann man sie wegwerfe1: und durch n_eue ersetzen, wie Kleidungsstücke. Gute Gedichte haben eme lange Lebensdauer und können einen gewissen Grad ~on Ehrwürdigkeit erlangen. Sie sind a?er so wemg unsterblich oder ewig wie ein alter Baum oder em Schälmesser aus der Steirtzeit. »Mein Gedicht ist mein Messer« - aber es eignet sich nicht zum Kartoffelschälen. Wozu eignet es sich, wozu ist es zu 87 gebrauchen? Diese Frage kann der Hersteller des Gedichts nur vorläufig beantworten, indem er nämlich dem Benutzer vorgreift, der in jedem Fall das letzte Wort hat. Wenn es nach mir ginge - und soweit es nach mirrgeht -, ist es die Aufgabe des Gedichts, . Sachverhalte vorzuzeigen, die mit andern, bequemeren Mitteln nicht vorgezeigt werden können, zu deren Vorzeigung Bildschirme, Leitartikel, Industriemessen nicht genügen. Indem sie Sachverhalte vorzeigen, können Gedichte Sachverhalte ändern und neue hervorbringen. Gedichte sind also nicht Konsumgüter, sondern Produk- tionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzieren. Da Gedichte endlich, beschränkt, kontingent108 sind, können mit ihrer Hilfe nur endliche, beschränkte, kontingente Wahrheiten produziert werden. Die Poesie ist daher ein Prozeß der Verständigung des Men- schen mit und über ihn selbst, der nie zur Ruhe kommen kann. Es niitzt nichts, einen Sachverhalt vorzuzeigen, wenn keiner zusieht. Wahrheit kann nur produziert werden, wo mehr als ein Mensch zugegen ist. Deswegen müssen Gedichte an jemand gerichtet, für jemand geschrieben sein. Mindestens müssen sie damit rechnen, andern vor Augen oder zu Ohren zu kommen. Es gibt kein Sprechen, das ein absolutes Spre- chen wäre. So wie sich Messer von Hüten und Hüte von Körben unterscheiden, indem sie ihren Benutzern einmal das Zustechen, zum andern das Aufsetzen und Forttragen zumu- ten, so mutet jedes Gedicht seinem Leser ein anderes Lesen zu. Gedichte ohne Gestus109 gibt es nicht. Gedichte können Vorschläge unterbreiten, sie können aufwiegeln, analysieren, schimpfen, drohen, locken, warnen, schreien, verurteilen, verteidigen, anklagen, schmeicheln, fordern, wimmern, aus- lachen, verhöhnen, reizen, loben, erörtern, jubeln, fragen, verhören, anordnen, forschen, übertreiben, toben, kichern. Sie können jeden Gestus annehmenaußer einem einzigen: 108. zufällig, relativ. 109. Begriff der Brechtschen Ästhetik für die Sprachhaltung dessen, der im Sprechen seine persönlichen Interessen zum Ausdruck bringt. 88 dem, nichts und niemanden zu meinen, Sprache an sich und selig in sich selbst zu sein. Damit das, was vorgezeigt werden soll, beac~tet wird, müssen Gedichte allerdings schön sein. Es muß em Vergnügen sein, sie zu lesen. Weil die meisten Sachverhalte, die vorzuzeigen sind, schwieriger Natur sind, muß das Vergnügen, mit dem man Gedichte liest, in aller Regel ein schwieriges Vergnügen sein. Gedichteschreiber unterscheiden sich von anderen Leuten nicht in höherem Maß als Messerschmiede oder Hutmacher. Sie müssen wichtige Sachverhalte kennen und imstande sein sie vorzuzeigen. Besondere Weihen stehen ihnen dafür nich~ zu. Es ist nicht einzusehen, warum ihr Ruhm den der Hutma- cher übertreffen, ihre Würde die der Scherenschleifer in den Schatten stellen, .ihre Sterblichkeit oder Unsterblichkeit sich von der eines Postboten unterscheiden sollte. Auch verdienen ih:e Gem_ütsbewegungen kein besonderes Interesse. Zornige Dichter smd weder günstiger noch ungünstiger zu beurteilen als liebenswürdige Dichter, und es besteht keine Veranlas- sung, tragische __ Seelenlagen einer unerschrockenen Lachlust vorzuziehen. Uberlassen wir also die Gedichteschreiber getrost ihren Gefühlen. Gedichte sind allzumal fühllos, wie !v1esser: brauchbar oder _unbrauchbar, das ist die Frage, die ich mir vorlege, wenn ich etwas geschrieben habe. Nicht immer ist sie leicht, selten ist sie günstig zu beantworten. Freilich, wer stellt sie schon? Die meisten Gedichteschreiber wollen gar nicht erst wissen, was sie herstellen, für wen und wozu. Kein Wunder, daß ihr, daß unser Beruf so lachhaft gering oder feierlich hoch geschätzt wird. »Er hat etwas Brauchbares gemacht«: dies Lob, das höchste, wird dem Gedichteschreiber selten zuteil. Dafür kann es dem Messer- schmied, dem Scherenschleifer geschehen, daß ihm ein en- thusiasmierter Kunde sagt: »Dieses Messer ist wirklich ein Gedicht« - und läßt es in der Sonne funkeln. 89 27. Walter Höllerer: Thesen zum langen Gedicht Walter Höllerer (geb. [922), Literaturwissenschaftler, Lyri- ker und Herausgeber verschiedener Sammlungen zur Lyrik und Lyrik-Theorie der Moderne (»Transit«, » Theorie der modernen Lyrik «, »Ein Gedicht und sein Autor«) hat seine » Thesen zum langen Gedicht« 1965 in der Zeitschrift »Akzente « veröffentlicht. Im Gegensatz zu der verbreiteten Auffassung, daß Gedichte kurz zu sein haben und lange Gedichte eine »contradictio in adiecto« (E. A. Poe) seien, postulieren sie ein zwangloseres Lyrik-Verständnis, das sich am Vorbild außerdeutscher, vor allem angloamerikanischer Lyrik orientiert. Das lange Gedicht, so wie es hier verstanden wird, unter- scheidet sich nicht nur durch seine Ausdehnung von den iibrigen lyrischen Gebilden, sondern durch seine Art sich zu bewegen und da zu sein, durch seinen Umgang mit der Realität. Das lange Gedicht ist, im gegenwärtigen Moment, schon sei- ner Form nach politisch; denn es zeigt eine Gegenbewegung gegen Einengung in abgegrenzte Kästchen und Gebiete. Es läuft gegen kleinliche Begrenzungen des Landes und des Gei- stes an. -Sackgassen hier wie dort: »DDR«-durch »Materia- lismus« verknotete Idealisten. »BRD « - durch »Idealismus« verbogene Materialisten. Das lange Gedicht hat den Atem, Negationsleistungen zu vollbringen, Marx- und Hegel-Auf- güsse abzuräumen, die Denkgefängnisse zu zerbröckeln, beharrlich den Ausdruck in neuen Anläufen für neue Verhält- nisse zu finden . Wer ein langes Gedicht schreibt, schafft sich die Perspektive, die Welt freizügiger zu sehen, opponiert gegen vorhandene Festgelegtheit und Kurzatmigkeit. Die Republik wird er- kennbar, die sich befreit. 90 .1 Die Ayseinandersetzung mit den Augenblickselementen, mit den U~erble1~seln aus de~ Summe der Wahrnehmungen in d~r g~nngfüg1gsten r~umhchen und zeitlichen Ausdehnung wird un langen Gedicht eher noch verstärkt als vernach- läs_sigt: »auf da0 ich ~icht nur eine Anspielung meiner selbst w~re, auf daß ich mcht nur eine Erinnerung meiner selbst ware«. Die härteste N egationsleistung, die täglich in bezug auf uns selbst gefordert wird, 1st: von uns selber zunächst abzusehen. Im langen Gedicht bauen wir, aus den verschiedensten Wahr- nehmun~en, eine mögliche Welt um uns auf, sparen uns aus und erreichen auf diesem Weg, daß wir sichtbar werden. Doch dies ist nur möglich mit freierem Atem, der im Vers- bau, im Schriftbild Gestalt annimmt. Ich werde mir sichtbar. Alle Feiertäglichkeit weglassen. Einen Teil der theoretischen Tä~igkeit in die Praxis hineinnehmen. Die Auffächerung so weit öffnen wie möglich. Längeres Sich-einlassen: so daß Verbindungen zwischen Ge~en~tan_d, Leser, Autor, Gedicht möglich werden; die ~a1V1ta~ gmg verloren; das Zelebrieren wurde unglaubwür- dig; ms1stent zusammenholen, vorzeigen. Die erzwungene Preziosität und Chinoiserie des kurzen Gedichts! Das lange Gedicht gibt eher Banalitäten zu, macht Lust für weiteren Atem. Ich spiele mit dem, was ich gelernt habe. 1~ langen Gedicht will nicht jedes Wort besonders beladen sem. Flache Passagen sind nicht schlechte Passagen, wohl aber smd ausgedrechselte Stellen, die sich gegenwärtig mehr und mehr ms kurze Gedicht eingedrängt haben, ärmliche Stellen. Das Wort »präzise« als Forderung: damit will sich Gelehr- samkeit der Technik annähern und gibt Dekoration. Das lange Gedicht wird davon nicht betroffen. 91 Die Sprache dient zur täglichen Verständigung über bekannte Bedürfnisse. Die Sprache dient zur Definition noch kaum bekannter Ausmaße. Das lange Gedicht stellt sich beidem - Zerreißprobe des Satzes. Möglichkeiten schaffen zwischen dem Plakat der Nähe und dem Kalkül der Ferne. Subtile und triviale, literarische und alltägliche Ausdrücke finden somit notgedrungen im langen Gedicht zusammen, spielen miteinander - wie Katz urid Hund. Berufe dich nicht auf »Schweigen« und »Verstummen«. Das Schweigen als Theorie einer Kunstgattung, deren Medium die Sprache ist, führt schließlich zu immer kürzeren, verschlüs- selteren Gedichten; die Entscheidung für ganze Sätze und längere Zeilen bedeutet Antriebskraft für Bewegliches. Das lange Gedicht löst durch Bewegung die Gefahr des Hin- sta tens und Starrwerdens im enggezogenen Kreis, es führt zugleich aus der starrgewordenen Me_tap~orik, der ~arren- den Rhythmik, der bemühten Schnftbildschemank, stellt sich einer weiteren Sicht. Das lange Gedicht als Vorbedingung für kurze Gedichte. 28. Rolf Dieter Brinkmann: Notiz zu dem Gedichtband »Die Piloten« Der Lyriker und Prosaist Rolf Dieter Brinkmann (1940-75) entwickelte, nach Anfängen im Banne Benns und unter star- kem Einfluß amerikanischer Vorbilder, eine neue Form lyri- schen Realismus, der das Trivial-Alltägliche darstellte, ohne der Formlosigkeit zu verfallen. - Der Gedichtband »Die Pilo- ten« erschien 1968. Ich habe immer gern Gedichte geschrieben, wenn es auch lange gedauert hat, alle Vorurteile, was ein Gedicht darzu- 92 stellen habe und wie es aussehen müsse, so ziemlich aus mir herauszuschreiben. Eine Menge Fehlversuche sind vorausge- gangen, die so überflüssig waren, wenn ich heute an die Pro- dukte der ausgebufften Kerle denke, die sich Lyriker nennen lassen. Da sitzen sie, irgendwo unsichtbar, und haben mal irgendwas von sich gegeben, jetzt halten sie die Kulturellen Wörter besetzt, anstatt herumzugehen und sich vieles einmal anzusehen, lebende Tote, die natürlich schwerer zu beseiti- gen sind als die sogenannten großen, alten Vorbilder in den Regalen moderner Antiquariate. W elcome to the Rolling Stones! Die Texte der Fugs sind besser. Woran liegt das? Ich bin keineswegs der gängigen Ansicht, daß das Gedieh[ "' heute nur nochein Abfallprodukt sein kann, wenn es auch meiner Ansicht nach nur das an Material aufnehmen kann, was wirklich alltäglich abfällt. Ich denke, daß das Gedicht die geeignetste Form ist, spontan erfaßte Vorgänge und Bewe- gungen, eine nur in einem Augenblick sich deutlich zeigende Empfindlichkeit konkret als snap-shot festzuhalten. Jeder kennt das, wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durch- sichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht als scheinbar iso- lierte Schnittpunkte. Da geht es nicht mehr um die Quadratur des Kreises, da geht es um das genaue Hinsehen, die richtige Einstellung zum Kaffeerest in der Tasse, während jemand reinkommt ins Zimmer und fragt, gehen wir heute abend in die Spätvorstellung? Mir ist das Kaugummi ausgegangen! Eine Zeitung ist aufgeschlagen und man liest zufällig einen Satz, sieht dazu ein Bild und denkt, daß der Weltraum sich auch jetzt gerade wieder ausdehnt. Die milde Witterung lockt Go-Go-Girls in den Kölner Rheinpark. Das alte Rückpro- Verfahren 110. Die Unterhaltung geht weiter. Ein Bild ent- \ steht oder ein Vorgang, den es so nie gegeben hat, Stimmen, } sehr direkt. Man braucht nur skrupellos zu sein, das als Gedicht aufzuschreiben. Wenn es dieses Mal nicht klappt, 110. Rückprojektionsverfahren der Trickfilmtechnik: Atelierszenen werden vor einer Bildwand, auf die ein eigener Hintergrund projiziert wird, 'gefilmt. 93 wirft man den Zettel weg, beim nächsten Mal packt man es dann eben, etwas anderes. Sehen Sie hin, packen Sie das mal an, was fühlen Sie? Metall? Porzellan? Eine alte Kippe zwi- schen Zeigefinger und Mittelfinger! Und sonst geht es Ihnen gut? Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen. Formale Probleme haben mich bisher nie so stark interessiert, wie das noch immer die Konvention ist. Sie können von mir aus auch ruhig weiterhin den berufsmäßigen Ästheten und Dichterprofis, die ihre persönlichen Skrupel an&es\chts der Materialfülle in feinziseliertem Hokuspokus sublimieren, als Beschäftigungsgegenstand bleiben. Die Toten bew~ndern die Toten! Gibt es etwas, das gespenstischer wäre als dieser deut- sche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.? Wo bleibt Ihr Stil, wo bleibt Ihr Stil? Haben Sie denn keine guten Manieren? Haben Sie nicht gelernt, mit Messer und Gake! zu essen, und falten Sie nie die Serviette auseinander? Warum sollt ich mich ausdrücklich um Stil kümmern, wenn sowieso alles um mich herum schon so stilvoll ist! Das wäre mir einfach zu langweilig. Wie sagte W arren Beatty zu den deutschen Kinobesitzern beim Start von Bonnie und Clyde: »Bei der Schlußszene mit dem Maschinengewehrfeuer müßt ihr den Ton ganz aufdrehen! « Häufig höre ich von Leuten, denen ich meine S~chen zeig~, daß dies nun eigentlich keine Gedichte mehr seien, und sie glauben, damit das entscheidende Urteil ausgesprochen z_u haben. Sie sagen, das hier sei ja alles einfach, man könne es Ja verstehen, und das wiederum macht ihnen meine Gedichte unverständlich. Diesen Vorgang finde ich witzig. Was soll man da machen? Das Klischee, die ganze abstrakte Vorstel- lung vom »eigentlichen« Gedicht noch einmal ~ufd_eck_en? Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugar:-glich 1st und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufmmmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man ge- braucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendei- 94 ner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinun- gen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen läßt, z.B. wie jemand seinen Stock schwingt und dann zuschlägt, Zeilen, Bilder, Vorgänge, die dicke Suppe; die wem auf das Hemd tropft. Man schnieft sie durch die Nase hoch und spuckt sie dann wieder aus . Das alte Rezept und die neue Konzeption, bevor das Licht ausgeht, der Vorspann im Kino, hier bin ich. Ich gebe gerne zu, daß ich mich von der deutschsprachigen Lyrik nicht habe anregen lassen. Sie hat meinen Blick nur getrübt. Dankbar bin ich dagegen den Gedichten Frank O'Haras111, die mir gezeigt haben, daß schlechthin alles, was man sieht und womit man sich beschäftigt, wenn man es nur genau genug sieht und direkt genug wiedergibt, ein Gedicht werden kann, auch wenn es sich um ein Mittagessen handelt. Zudem war O'Hara ein leidenschaftlicher Kinogänger, was mir in jedem Fall sympathisch ist. Ich widme deshalb den vorliegenden Gedichtband dem Andenken Frank O'Haras und dann all denen, die sich immer wieder von neuem gern auf den billigen Plätzen vor einer Leinwand zurücksinken lassen. Sie alle sind die Piloten, die der Titel meint. 29. Ernst]andl: Das Gedicht zwischen Sprachnorm und Autonomie Ernst]andl (geb. 1925), der» Wiener Gruppe« nahestehender Lyriker, Essayist und Autor von Hörspieltexten sowie einer »Sprechoper« (»Aus der Fremde«), knüpft mit dem experi- mentellen, sprachspielerischen und sprachkritischen Stil seiner Lyrik (Typus des »Sprechgedichts«) zwar an das dadaistische Lautgedicht an, setzt sich aber auch sehr bewußt und konse- quent mit Frage~ der modernen Ästhetik und Sprachtheorie 111. (192&-66 ), amerikan. Lyriker. 95 auseinander. - »Das Gedicht zwischen Sprachno"rm und Autonomie« ist einer von drei Vorträgen, die Jandl 1974 vor Germanistik-Studenten in Wien gehalten hat. Ich könnte mir denken, daß ein Gedicht und ein Erlebnis vollständig identisch werden, so vollständig, daß sie dann ein und dasselbe sind, das Gedicht ist dann das Erlebnis, und das Erlebnis ist das Gedicht, und jedes von beiden ist darüber hinaus nahezu nichts, aber daß beide zu einem einzigen geworden sind, scheint mir außergewöhnlich viel. Es muß dabei das unmittelbare Erlebnis des Autors als unmittelbares Erlebnis derart zu einem Gedicht werden, daß das Gedicht das Erlebnis selbst ist, daß Sie also durch dieses Gedicht, als Leser Sprecher Hörer, dasselbe unmittelbare Erlebnis haben, das der Autor hatte, als er sein Erlebnis hatte. Das Erlebnis, das Sie haben sollen, muß also aus ganz den gleichen Bestand- teileh bestehen wie das Erlebnis des Autors, es muß, um zu Ihnen zu gelangen, transportabel sein, und es muß übertrag- bar sein, im Sinne einer ansteckenden Krankheit, die, von mir auf Sie übertragen, vollständig zu Ihrer eigenen wird. Ich benütze, im Zusammenhang mit Kunst, nur ungern diesen Vergleich, denn Kunst, wie Sie wissen, und wie Sie aufgrund von gegenteiligen Behauptungen um so sicherer wissen, ist gegen Krankheit jeder Art immun. Ich kenne aber hier keinen treffenderen Vergleich, denn Krankheit ist ein übertragbares Erlebnis. Der es empfängt, erlebt es, im Prinzip, genauso wie der, der es vermittelt. Da das Gedicht und das Erlebnis ein und dasselbe sein sollen, müssen sie aus den gleichen Bestandteilen und dem gleichen Material bestehen. Erlebnisse gibt es aus den verschiedensten Bestandteilen, aus dem verschiedensten Material. Gedichte gibt es aus den verschiedensten Bestandteilen, aber alle nur aus einem einzigen Material, Sprache. Um ein Erlebnis und ein Gedicht identisch zu machen, ein einziges Ding, wird dieses Ding aus dem Material des einen der beiden, Erlebnis und Gedicht, bestehen müssen, das nur über ein einziges Material verfügt. Das Resultat kann daher nur sein: ein Erleb- 96 nis aus Sprache, ein sprachliches Erlebnis, das zugleich ein Gedicht ist. Alles, was an einem Gedicht nicht Erlebnis sein kann, ein direkt und unmittelbar übertragbares Erlebnis, muß für die- sen Zweck aus dem Gedicht verschwinden, jedes Berichten ~on etwas, von Erfahrungen, B_eobachtungen, Reflexionen, Jedes Mitteilen - eine Krankheit
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