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Nr. 4 / 20.1.2018 Kindesmissbrauch im Breisgau Hintergründe eines fürchterlichen Verbrechens Suizide auf Bahngleisen Wie ein Lokführer damit lebt, dass sich vier Menschen vor seinen Zug warfen Medizin Neue Hoffnung im Kampf gegen Alzheimer Deutschland €5,10 B e N e Lu x € 5 ,8 0 F in n la n d € 8 ,– G ri e c h e n la n d € 7 ,– N o rw e ge n N O K 7 4 ,– P o le n ( IS S N 0 0 3 8 74 5 2 ) Z L 3 2 ,– S lo w a ke i € 6 ,6 0 S p a n ie n € 6 ,5 0 U n ga rn F t 2 3 5 0 ,- D ä n e m a rk d kr 5 3 ,– Fr a n kr e ic h € 6 ,5 0 I ta lie n € 6 ,5 0 Ö s te rr e ic h € 5 ,8 0 P o rt u ga l ( c o n t) € 6 ,5 0 ,– S lo w e n ie n € 6 ,3 0 S p a n ie n /K a n a re n € 6 ,7 0 P ri n te d in G e rm a n y Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert zwischen 5,2 und 4,9, CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert zwischen 118 und 112, Effizienzklassen: Wir bringen die Zukunft in Serie. Der neue Golf Sportsvan JOIN. Mit optionalem, individuellem Schlüssel und Car-Net App-Connect. Stellt sich auf Sie ein. Jetzt erhältlich in Ihrem App-Store. www.volkswagen.de B–A. Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis. Begegnen Sie Menschen und ihrer Kultur Kataloge: 00 800/24 01 24 01 www.studiosus.com Intensiverleben Auf der Internationalen Grünen Woche inBerlin feiert die wohl einflussreichste Lobby organisation der Republik noch bis Ende kommender Woche wieder ihr alljährliches Hochamt: der Deutsche Bauernverband. Das Geheimnis seiner Stärke liegt in einem einzig- artigen Netz, das er sich geknüpft hat – mit Funk- tionären in Politik, Forschung und Industrie. Michaela Schießl und Antonia Schaefer beschrei- ben in ihrem Report ein sich selbst kontrol - lierendes System, das die Agrarwende hin zu einer umweltschonenderen Landwirtschaft verhindert. Die Pressestelle des Verbands reagierte nicht auf Anfragen der Journalistinnen, und die meisten Gesprächspartner wollten sich nur anonym zitieren lassen; aus Angst vor Ausgrenzung und Ächtung. „Noch steht das Bollwerk, doch am Fundament beginnt es zu bröckeln“, sagt Schießl. Denn mehr und mehr Bauern werde klar, dass sie mit Massen produktion keine Zukunft haben. Seite 64 Manche Menschen haben ein seltsamesHobby, sie investieren Zeit und Geld, um Kennerschaft auf einem Gebiet zu er- langen, das sonst kaum jemanden interes- siert. Warum? Hauke Goos, der sich seit seiner Kindheit für Schiffe begeistert, nahm Kontakt zu drei Shipspottern auf, die im Rotterdamer Hafen Tanker und Fäh- ren fotografieren. So lernte er Stephan Kniest kennen, einen Lokführer aus Nord- rhein-Westfalen, dessen Bilderarchiv meh- rere Terabyte Speicherplatz füllt – und der in elf Jahren vier Menschen totge- fahren hat, die sich zum Selbstmord auf den Schienen entschieden hatten. Goos beschloss, Kniests Geschichte aufzuschreiben. Durch die Suizide traumatisiert, kämpft der Lokführer darum, dass der Todeswunsch anderer Leute nicht sein eigenes Leben zerstört: Wenn er mit seinen Freunden zu den Schiffen reist, lenkt ihn das von den „Personenschäden“ ab, wie die Selbsttötungen beim Zugpersonal heißen. Goos sagt: „Bemerkenswert ist, dass Lokführer nach wie vor sein Traumjob ist.“ Seite 52 Als Luisa Hommerich vergangenes Jahr an der Uni-versität in Teheran studierte, entdeckte sie am Schwarzen Brett ihrer Fakultät die Einladung zu einer Reise mit Mitgliedern der Basidsch, jener Miliz, die auch bei den aktuellen Protesten in Iran wieder auf Demonstranten einprügelt. Obwohl sie Deutsche ist, erhielt Hommerich die Erlaubnis, an jener Fahrt teilzu- nehmen, die 300 junge Frauen auf die Ziele der Para- militärs einschwören sollte. „Die Organisatoren zeigen Ausländern gern das ihrer Meinung nach richtige Iran“, erklärt Hommerich, die ihre Erlebnisse nun schildert. Im Ganzkörperschleier saß sie am Lagerfeuer, Soldaten beschossen sie mit Platz - patronen, sie lief vor echten Bomben in Deckung. Hommerich beobachtete, wie tief die Strukturen des Regimes in der Gesellschaft verankert sind. „Im Westen denkt man oft, das Regime stürze bald, wenn viele Menschen auf die Straße gehen. So einfach ist das nicht“, sagt sie. Ihre Reportage lesen Sie ab Seite 80 5DER SPIEGEL 4 / 2018 Betr.: Landwirtschaft, Lokführer, Iran Das deutsche Nachrichten-Magazin Hausmitteilung Das deutsche Nachrichten-Magazin F R E D D O T T M A T T H IA S J U N G / D E R S P IE G E L Goos, Kniest (2.v. l.) mit Freunden Schießl L U IS A H O M M E R IC H / D E R S P IE G E L Hommerich (r.) in Iran SPIEGEL-Gespräche live im Bucerius Kunst Forum Mittwoch, 31. Januar 2018, 20 Uhr Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich. Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am Veranstaltungstag zum Besuch der Ausstellung „Karl Schmidt-Rottluff: expressiv | magisch | fremd“ (27. Januar bis 21. Mai 2018). Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von 19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste geöffnet. Änderungen vorbehalten. BUCERIUS K U N S T FORUM Trümmer, Hunger, Flucht und Besatzer – viele Menschen erlebten die Jahre nach 1945 als existenzielle Krise, die sogar die Erinnerung an den Krieg überschattet. Was bedeutet das für den Umgang mit der Nachkriegsgeschichte? Darüber diskutiert der Hamburger Historiker Prof. Dr. Axel Schildt mit dem SPIEGEL- Redakteur Uwe Klußmann. Prof. Dr. Axel Schildt Deutschland nach dem Krieg M a ik e R a a p F Z H 6 Titelbild: Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein für den SPIEGEL P E T E R K N E F F E L / D P A M A T T H IA S J U N G / D E R S P IE G E L P H IL IP W A L L E R / P L A IN P IC T U R E Steuern per Roboter Autoindustrie Gibt es bald nur noch Fahrzeuge ohne Lenkrad und Pedale? BMW, Daimler und VW konkurrieren mit IT-Konzernen aus den USA darum, wer als Erster massenhaft Roboterautos auf die Straße bringt. Es ist eine milliardenschwere Wette – mit unsicherem Ausgang. Seite 70 Demenz, neu gedacht Medizin Tausende Alzheimerforscher suchen seit Jahrzehnten nach Mitteln gegen das große Vergessen. Vergebens. Aber sie wissen jetzt sehr viel: dass die Krankheit früher beginnt als gedacht; wie stark das Immunsystem beteiligt ist. Schon entstehen Ideen – für neue Wirkstoffe. Seite 102 Täter ohne Schuld Schicksale Es passiert im Durchschnitt 800-mal im Jahr: Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, werfen sich vor einen Zug. Lokführer fühlen sich dadurch als Täter, sind aber in Wahrheit Opfer.Stephan Kniest ist das schon viermal pas- siert. Wie hält ein Mensch das aus? Seite 52 Pakt der Verlierer Bündnisse Die Rekonstruktion der Sondierungen für eine schwarz- rote Koalition zeigt, wie sehr die Macht der Chefs schon erodiert ist. Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz hatten alle Mühe, ihre Leute auf Linie zu hal- ten. In den Parteien wird hinter den Kulissen schon über einen Machtwechsel diskutiert. Seite 30 In diesem Heft 7DER SPIEGEL 4 / 2018 Titel Parteien Der anhaltende Niedergang der politischen Linken in Deutschland 14 SPD Parteichef Martin Schulz verteidigt den Sondierungsvertrag mit der Union 20 Nostalgie Das seltsame Gedenkritual am Grab von Liebknecht und Luxemburg 22 Karrieren Wie Robert Habeck die Grünen als künftiger Parteichef dominieren will 24 Deutschland Leitartikel Merkels grimmige Flüchtlingspolitik 8 Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen: Wahre Liebe 10 Deutschland für neue Iran-Sanktionen / Zu wenig Personal für Abschiebungen / Polen jagt per Interpol deutsche NS-Verbrecher 26 Bündnisse Die schwierigen Sondierungen zwischen Union und SPD zeigen den Machtverlust der Parteichefs 30 Außenpolitik Berlin und Ankara planen einen Panzerdeal zur Freilassung des inhaftierten „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel 34 Migranten Italienische Staatsanwälte werfen deutschen Flüchtlingsrettern vor, im Mittelmeer das Geschäft der Schlepper zu unterstützen 36 Geheimdienste Der Experte Ronen Bergman im SPIEGEL-Gespräch über die Morde des Mossad – und dessen 3000 Opfer 40 Wie der Mossad einen deutschen Geschäftsmann entführte, verhörte und dann umbrachte 42 Terrorismus Frauen beim IS – eine unterschätzte Gefahr? 45 Verbrechen Fatale Fehler – warum der Junge aus dem Breisgau so lange ohne Schutz blieb 46 Gesellschaft Früher war alles schlechter: Sieg über die Pest / Das Comeback der Zimmerpflanze bei Jugendlichen 50 Eine Meldung und ihre Geschichte Ein deutscher Beamter investiert Steuergelder, um die Polizei mit fair gehandelten Computermäusen zu versorgen 51 Schicksale Wie ein Lokführer damit lebt, dass sich schon vier Menschen vor seinen Zug warfen 52 Homestory Warum unsere Kinder den Wert einer Armbanduhr nicht mehr erkennen 57 Wirtschaft Neues Design für Lufthansa / Soli nur für Reiche könnte gegen Grundgesetz verstoßen / Wirt- schaftsministerium erwartet 500000 neue Jobs 58 Digitalisierung Das Internet der Dinge ver ändert Unternehmen von Grund auf – noch allerdings fehlt ein einheitlicher Standard für Transaktionen 60 Landwirtschaft Der Deutsche Bauernverband ist eng mit Politik und Wirtschaft verdrahtet, aber die Allianz bekommt Risse 64 Verkehr Ein neues Gutachten setzt die Dieselhersteller unter Druck 67 Internet Wie EU-Verbraucherschutz - kommissarin Věra Jourová Hass im Netz bekämpfen will 68 Autoindustrie VW, Daimler und BMW ringen mit globalen IT-Konzernen darum, wer beim autonomen Fahren die Nase vorn haben wird 70 Wohnen Bundesbauministerin Barbara Hendricks sieht in der Reform der Grund steuer die Chance, mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen 73 Ausland Die leeren Drohungen des Palästinenser - präsidenten Mahmoud Abbas / Warum die Verleihung eines Fake-News- Awards eine inhaltliche Logik hat 74 Diplomatie Selbstbewusst und angst- frei – die Außenpolitik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron 76 Iran Unterwegs mit Studentinnen der Basidsch-Milizen, die auch an der Niederschlagung der jüngsten Proteste beteiligt sind 80 USA Die Kindesmisshandlungen in Südkalifornien entfachen eine neue Debatte über Heim unterricht 84 Großbritannien Der endlose Kampf der konservativen Tories mit Europa 86 Sport Wie Bayern München die Bundesliga dominiert / Magische Momente: Was Ski springer Stefan Kraft bei seinem Weltrekord durch den Kopf ging 89 Ski Junge Leute verlieren die Lust am Wintersport 90 Football Leaks Tut Messi mit seinen Stiftungen Gutes, oder hilft er nur sich selbst? 94 Wissenschaft Nähe zu spüren lässt sich lernen / Obergrenze für Neutronensterne / Kommentar: Die vermeidbare Katastrophe – Lehren aus „Friederike“ 100 Medizin Forscher beginnen, Alzheimer besser zu verstehen – nun sind sie neuen Wirkstoffen auf der Spur 102 Luftfahrt Eine US-Firma entwickelt ein Überschallflugzeug, das Passagiere in drei Stunden von London nach New York bringen soll 105 Biomechanik Warum Ratten nicht stolpern – Jenaer Zoologen röntgen Tiere beim Laufen 106 Ethik Der Kinderchirurg Allan Goldstein trennte siamesische Zwillinge, obwohl ihm klar war, dass eines der Mädchen dadurch sterben wird 108 Kultur Ehrung für die „Guerrilla Girls“ / Die Fälle Bruce Weber und Mario Testino / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 110 Europa SPIEGEL-Gespräch mit dem bulgarischen Politologen Ivan Krastev über die Dif ferenzen zwischen Ost- und Westeuropa 112 Übergriffe Debatte um das Münchner Haus der Kunst 119 Kino Das wechselhafte Geschick des Matt Damon, nun in „Downsizing“ zu sehen 120 Filmkritik Der bitterböse Oscarfavorit „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ 123 Bestseller 122 Impressum, Leserservice 124 Nachrufe 125 Personalien 126 Briefe 128 Hohlspiegel/Rückspiegel 130 JÖ R G M Ü L L E R / D E R S P IE G E L T IM D IR V E N / R E P O R T E R S / L A IF V IC T O R IA W IL L / I N V IS IO N / A P Ronen Bergman Er kennt Israels Geheimdienst wie kaum ein anderer und sagt, der Mossad habe rund 3000 Menschen getötet. Der Experte kritisiert dessen Aktionen – die auch einen deutschen Geschäftsmann das Leben kosteten. Seite 40 Věra Jourová Sie redet mit den Internet - größen im Silicon Valley und den Chefs deutscher Auto - mobilkonzerne. Das Ziel der tschechischen EU-Kommissa- rin ist dabei immer, mehr Rechte für die Verbraucher zu erkämpfen. Seite 68 Matt Damon Er durfte sich Hoffnung auf einen Oscar machen für die Rolle in seinem aktuellen Film „Downsizing“. Nun wird der Hollywoodstar wegen seiner Äußerungen in der #MeToo-Debatte heftig atta- ckiert – zu Unrecht? Seite 120Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Es geht nicht mehr um Menschen, es geht um eineZahl. Es geht um die Zahl der Flüchtlinge, die nachDeutschland kommen, nicht um die Flüchtlinge. Die jüngste Zahl heißt 223000. Das sind die Asylanträge, die im vergangenen Jahr gestellt wurden. 2016 waren es 746000. Der Bundeskanzlerin passt die neue Zahl. Sie liegt nahe bei 220000, also der Obergrenze, die es in das Sondierungspapier von Union und SPD geschafft hat. Diese Zahl ist Ausdruck einer Politik, die nie deutlich angekündigt, nie erklärt wurde. Sie ist Ausdruck einer scharfen Kurve in der Flüchtlingspolitik, von den offenen Grenzen zur harschen Abwehr. Im Spätsommer 2015 ver- kündete Angela Merkel, wenn Deutschland in einer Not- situation nicht „ein freund - liches Gesicht“ zeigen könne, „dann ist das nicht mein Land“. Sie hielt die Grenzen offen für Flüchtlinge, und der liberale Teil der Welt war be- geistert von diesem humani- tären Politikansatz. Nun zeigt Deutschland ein grimmiges Gesicht, und die Bundeskanzlerin hat kein Land mehr. Das stört sie je- doch nicht. Sie sieht das alles inzwischen ohnehin ganz anders. Merkel hat 2016 für die EU einen Deal mit der Türkei eingefädelt, der die Flucht - route über die Ägäis weit - gehend schließt. Sie hat sich von der CSU eine Obergren- ze abhandeln lassen, die aber nicht so genannt werden darf. Künftig soll es auch für den Familiennachzug eines großen Teils der Schutzberech - tigten eine Obergrenze geben, 1000 pro Monat. Das ist zu wenig. Ausgerechnet der Familiennachzug wird begrenzt, von den Oberfamilienparteien CDU und CSU, obwohl allen klar sein muss, dass Männerdie besten Chancen auf eine Integration haben, wenn sie hier mit ihren Familien zu- sammenleben. Aber das ist jetzt egal. Hauptsache, die Zahl liegt niedrig. Und die Spitze der SPD macht klaglos mit, auch das ist eine Enttäuschung. Natürlich kann Deutschland nicht Jahr für Jahr 750000 Asylsuchende aufnehmen, ohne die Gesellschaft zu über- fordern. Aber warum legt die CSU die Obergrenze fest? Warum hat sich die Bundeskanzlerin auch in dieser Frage für eine Politik der Stille entschieden? Sie war schon Kli- makanzlerin und hat sich dann klammheimlich von einer entschiedenen Klimapolitik verabschiedet, weil das nicht mehr in ihr Machtkalkül passte. Das ist ihr Stil, und er ist schon lange eine Zumutung, da sich die liberale Demokratie vor allem dadurch aus- zeichnet, dass miteinander geredet wird. Diesmal ist es nicht nur eine Zumutung, sondern eine schwere Missach- tung vieler Bürger. Nicht nur Politiker haben die Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 getragen. Das waren auch viele, viele Bürger. Sie haben dem Staat, der nicht gut vorbereitet war, ge - holfen, haben Flüchtlinge willkommen geheißen, unter- stützt, bei sich zu Hause aufgenommen. Sie waren Ak- teure der Politik, und viele sind es immer noch, weil sie dabei helfen, Flüchtlinge in diese Gesellschaft zu integrie- ren. Sie sind die Deutschen mit dem freundlichen Gesicht. Diese Bürger müssen nun sehen, dass Merkel aus Angst um ihre Macht Politik für die anderen macht, für die Grim- migen, für potenzielle Wäh- ler der AfD, für die Freunde der ganz kleinen Zahl. An deren Land baut Mer- kel gerade mit, für deren Sicht auf die Lage macht sie Politik. Natürlich gab und gibt es enorme Probleme mit Flüchtlingen. Aber es gibt auch eine hysterische Sicht darauf, die wenig mit der Realität zu tun hat. Silvester 2015/16 in Köln war fürch - terlich, doch die Jahre da- nach haben bewiesen, dass man solche Probleme in den Griff bekommen kann. Jede Vergewaltigung ist eine zu viel, aber Recherchen des SPIEGEL (Heft 2/2018) haben gezeigt, dass interessierte Kreise dazu falsch informieren, um Flüchtlinge zu diffamieren. Gerade der liberale Teil der Gesellschaft erwartet ein offenes Gespräch. Merkel hätte längst eine Rede halten müssen, zwei, drei Stunden lang, in der sie ihren Schwenk erklärt. Vielleicht hätte mancher Bürger ihre Argumente verstanden und wäre ihr gefolgt. Andere hätten immerhin sagen können: Die Kanzlerin nimmt uns ernst. Und vielleicht hätte die Debatte nach der Rede eine andere Zahl ergeben. Jetzt fühlt man sich geradezu beleidigt von diesem albernen Tanz um das Wort Obergrenze. Kinder- garten. Ein wichtiges Gespräch zu verweigern – das ist nicht liberale Demokratie, das ist Königtum. Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern – in dieser Floskel steckt eine herrische Attitüde, steckt die Arroganz der Macht. Das kommt fast zwangsläufig, wenn Leute zu lange im Amt sind. Dirk Kurbjuweit 8 DER SPIEGEL 4 / 2018 Die Kanzlerin der Grimmigen Mit ihrer Flüchtlingspolitik nimmt Angela Merkel den liberalen Teil der Gesellschaft nicht ernst. E M IN O Z M E N / M A G N U M / A G E N T U R F O C U S Leitartikel Das deutsche Nachrichten-Magazin Der Citan Kasten- wagen1 mtl. ab Monatliche Gesamtrate ohne Anzahlung inkl. 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Während die am- tierende Kanzlerin um ihr politisches Überleben bang- te, flatterten aus dem Universum der Altkanzler zwei Zeitschriftentitel auf den Schreibtisch. Auf dem ersten Maike Kohl-Richter ganz in Schwarz, im Heft eine Fotostrecke der Witwe im Haus in Oggersheim, das sie offenbar in eine per- sönliche Helmut-Kohl- Gedenkstätte verwandelt hat: gigantische Porträts auf Fotos und in Öl, von sei- nem Schreibtisch im Sou - terrain ist die Rede, von sei- nen Trophäen. Sie lässt sein Grab per Videokamera überwachen. Sie hat sich im Haus eingemauert wie in einer Gruft, als wollte sie sich selbst lebendig begra- ben. Warum sie nach Kohls Tod Sohn und Enkeln nicht die Tür geöffnet habe? Aus „Angst um die Stille“. Auf dem zweiten Cover das Gegenprogramm: die Turtelbilder des letzten Alt- kanzlers mit seiner neuen koreanischen Lebensgefähr- tin in einem Park in Seoul – „Wird sie seine 5.Ehefrau?“ – und den intimen Details seines neuen Glücks – „In Marburg lernte sie, wie man Brat kartoffeln zubereitet“. Die gute Nachricht: Der deutsche Altkanzler ist eine begehrte Spezies. „Ja, es ist Liebe!“ Die schlechte: zweimal Gefühle für die Kamera, zweimal zudring - liche Bilder, viel zu nah dran, zweimal der Kampf um Image und Deutung, zweimal Fremdschämen. Geht das wirklich nicht an- ders? Frau Merkel, wenn Sie Altkanzlerin sind, ver- schonen Sie uns! Christiane Hoffmann Kittihawk Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal Großer Wurf, große Kosten Ich bin vor zwei Wochen nach Südafrika geflo- gen, um in Ruhe den weiteren Verlauf der Regierungsbil- dung in Deutschland abzuwarten. Wenn sich die Politik eine Auszeit gönnt, kann ich das auch, dachte ich. Aber der deutschen Misere entgeht man nicht so schnell. Es fehle die Idee, der große Wurf, las ich nach dem Ende der Sondierungsgespräche. Alles, was den Unterhändlern eingefallen sei, bleibe im Klein-Klein. Vielleicht sollte ich nicht so bald nach Deutschland zurück- kehren. Wer will schon in einem Land leben, in dem das Klein-Klein regiert? Die Wahrheit ist: Die meisten Menschen haben damit weniger Probleme, als Jour - nalisten sich das vorstellen können. Die zündende Idee, die packende Vision, alles gut und schön: Aber wer morgens zwei Kinder für die Kita fertig machen muss, be- vor er zur Arbeit geht, ist heilfroh, wenn ihn nicht noch die Politik mit irgendwel- chen Vorschlägen behelligt. Ich habe noch nie jemanden außerhalb des Journalismus sagen hören, er vermisse den großen Wurf. Die Mehrheit der Leute ist schon froh, wenn die Regierung einiger-maßen mit dem Geld auskommt, das sie bei den von ihnen Regierten einsammelt. Man weiß ja, wie es bei großen Vorhaben läuft. Sie werden meist deutlich teurer, als es am Anfang heißt. Wenn Politiker das Geld mitbringen würden, das sie für ihre Ideen einplanen, wäre es etwas anderes. Aber da sie die Rechnung, ohne mit der Wimper zu zucken, an die Wähler weiter- reichen, ist jeder gewarnt, der das Spiel ein paarmal mitgemacht hat. Es heißt, die Große Koalition sei im Sep- tember abgewählt worden. Aber auch das scheint mir nicht ganz richtig. Sie hat ein paar Prozente eingebüßt, weil sich genug Leute fanden, die der Meinung wa- ren, dass es wieder eine richtige Opposi - tion im Bundestag geben sollte. Die hat ja vorher gefehlt. Aber auch jetzt verfügt die Große Koalition noch über eine Mehrheit. Ich glaube, wenn man Koalitio- nen wählen könnte, wäre eine Regierung aus Union und SPD genau das, was raus- kommen würde. In Wahrheit ist die sozial- demokratische Weltsicht in Deutschland mit Abstand am populärsten. Daran hat sich jeder kluge Kanzler gehalten, egal von welcher Partei. Die Jusos sagen jetzt, es brauche mehr politische Auseinandersetzung. Man müsse links und rechts wieder klar unterscheiden können. Damit haben sie nicht unrecht. Es wird nur wahnsinnig schwer, für mehr Unterschiede zu sorgen, solange Angela Merkel zur Wahl steht. Was sollen sie bei der SPD denn fordern? An die Bürger - versicherung glauben sie nicht mal im Willy- Brandt-Haus. Das Einzige, was Union und SPD noch unterscheidet, ist die Forderung nach höheren Steuern für die Reichen. Aber da ist die letzte Messe nicht gesungen, sagt mir mein Gefühl. Wenn die SPD stur bleibt, ist bei dem Punkt alles drin. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Keiner entscheidet sich gern dafür in einer Warteschlange stillzustehen. Besonders, wenn man krank ist. Deswe- gen braucht es Fortschritt in der Gesundheitsversorgung. Echte Alternativen, die uns selbst entscheiden lassen, wie wir warten. Und bei manchem sogar, ob wir es überhaupt tun. Es braucht die Möglichkeit, jede Minute zu nutzen, damit es uns besser geht. Es braucht Apotheken mit dem Anspruch, dass Selbstbestimmung und Un- abhängigkeit das Wichtigste sind. Für jeden Patienten. Ob offline oder online. Ob ab- holen oder liefern lassen. Ob Warteschlange oder nicht. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Denn das kann jeder Mensch für sich selbst entscheiden. Doch wir haben noch mehr vor: Bessere Behandlung für Patienten. Durch transparentes Handeln können wir den Wissensaus- tausch zwischen Patient, Arzt, Apotheke und Krankenkasse verbessern. Und die bestmög- liche Versorgung für den Patienten schaffen. Individualisierung für Patienten. Wenn es um individuelle Therapie geht, muss die Wirksamkeit immer im Fokus bleiben. Dabei helfen die Digitalisierung und technischer Fortschritt und ermöglichen in Zukunft ein- fachere Gesundheitsvorsorge. Nähe zu Patienten. Die Digitalisierung macht uns erreichbarer und vernetzter. Nicht nur privat oder beruflich, sondern auch in der Gesund- heitsversorgung. Distanzen werden abgebaut und Arzt, Apotheker und Patient rücken näher zusammen. Neuartige Produkte für Patienten. Digitale Services verändern den Gesundheitsmarkt. Sie verkürzen und vereinfachen Prozesse, die für mehr therapeutische Freiräume und eine verbesserte Patientenbeziehung sorgen. Erfahren Sie mehr über uns auf DocMorris.de BESTES WLAN Internet made in Germany In Ruhe ausprobieren: MONAT TESTEN1 Expertenrat? Jederzeit: ANRUF GENÜGT1 Defekt? Morgen neu! TAG AUSTAUSCH VOR ORT1 1&1 DSL INTERNET & TELEFON 9,99Sparpreis für 12 Monate, danach 24,99 €/Monat.€/Monat* INKLUSIVE! 1und1.de 02602 / 96 90 €* NEU 1&1 HomeServer Speed+ 0,– € * Sichern Sie sich jetzt den 1&1 HomeServer Speed+ für 0,– €! Er ist das digitale Herzstück Ihres Heimnetzwerks und sorgt dank neuester WLAN-Technologie und Mehr-Antennentechnik für hohe Geschwindigkeiten und maximalen Surfspaß im ganzen Haus. Ideal für Musikstreaming, Video-on-Demand und vieles mehr. 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Auf zum letz- ten Gefecht. Der Parteichef nimmt auf Sitz 1A Platz. Gleich hinter ihm sitzen bereits Andrea Nahles, die Fraktionsvorsitzende, und Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte. Sie reisen nach Düsseldorf, wo sie wieder mal stundenlang diskutieren werden, um die vielen Genossen zu überzeugen, die erbittert gegen eine Große Koalition kämpfen. Das ewige Drama dieser chronisch zur Selbstzerfleischung neigenden Partei er- reicht in den Tagen vor dem Bonner Son- derparteitag an diesem Sonntag seinen vor- läufigen Höhepunkt. Nahles und Schulz glauben, ihre Partei mit dem Eintritt in die Große Koalition zumindest vorerst vor dem Untergang zu retten. Ihre Gegner aus der NoGroKo- 14 DER SPIEGEL 4 / 2018 Die Abgehängten Parteien Die SPD zerfleischt sich, der Linken droht die Spaltung, und die Grünen driften nach rechts. Die politische Linke in Deutschland und Europa ist machtloser denn je. H C P L A M B E C K / L A IF Titel Fraktion glauben ebenfalls, die SPD mit ihrem Einsatz zu retten. Die Frage ist nur, ob sich die SPD überhaupt noch retten lässt. Wie aufreibend die Mission ist, lässt sich im grellen Licht der Flugzeugkabine nicht mehr kaschieren. Lauterbach wirkt noch schmaler als sonst, Schulz’ Augenringe sind um einiges tiefer, Nahles gähnt. Sie wirken erschöpft wie selten zuvor in ihrer Karriere. Erst die nächtelangen Sondie- rungsgespräche, nun die Überzeugungs- tournee kreuz und quer durch die Repu- blik. Der Kampf gegen den Untergang kostet enorme Kraft. „Ich mache jetzt mal ein Nickerchen“, sagt Schulz, als der Flieger abhebt. Dann schließt er die Augen. Es dauert nur Se- kunden, bis er vor Erschöpfung eingeschla- fen ist. Auch Nahles und Lauterbach ni- cken umgehend ein. Die drei abgekämpften und ausgelaug- ten Spitzengenossen im vorderen Bereich der Eurowings-Maschine sind ein trauriges Sinnbild für den Stand der politischen Linken im Jahr 2018. Es ist nicht nur die SPD, die mit sich, ihrer Identität, ihrer Erfolg losigkeit und ihren Widersprüchen ringt und die es dabei fast zerreißt. Der Partei Die Linke, das Resultat einer frü- heren Zerrissenheit und einer Abspaltung von der SPD, droht dieser Tage selbst die Spaltung. Weil sie sich nicht darauf ver- ständigen kann, wie linke Politik im Zeitalter von Globalisierung und Migra - tionsdruck auszusehen hat: offen und in- ternationalistisch oder abschottend, natio- nalistisch? Und bei den Grünen, einst ebenfalls eine Partei, die sichzur politischen Linken zählte, hat der linke Flügel gegenüber den Realos an Einfluss verloren. Beim Grünen- Parteitag in Hannover am kommenden Wochenende könnte die Partei erstmals eine Doppelspitze erhalten, die ohne Ver- treter des linken Flügels auskommt. Als Antwort auf all diese Schrumpfungs- prozesse und Zerfallserscheinungen kur- siert nun die Idee einer neuen linken Volks- partei, in der sich Sozialdemokraten, Grü- ne und Linke zusammenfinden sollen. Pro- pagiert wird sie ausgerechnet von Sahra Wagenknecht und ihrem Ehemann Oskar Lafontaine, der die Spaltung der politi- schen Linken in Deutschland wie kein Zweiter betrieben hat. Nun scheint er be- reit, auch seine neue Partei zu opfern. 15DER SPIEGEL 4 / 2018 B R IT T A P E D E R S E N / D P A Politiker Schulz, Wagenknecht: Das Elend wurzelt tiefer Titel Der Trend ist eindeutig. Kam das linke Lager aus SPD, Grünen und PDS bei der Bundestagswahl 1998 gemeinsam auf 52,7 Prozent, schafften sie es im Herbst 2017 nur noch auf 38,6 Prozent, wobei sich die Frage stellt, ob die Grünen nach erfolgrei- cher Özdemisierung überhaupt noch zum linken Lager gezählt werden können. Das rechte Lager verbesserte sich im selben Zeitraum von 41,4 Prozent (Union und FDP) auf 56,2 Prozent bei der letzten Bun- destagswahl (nun inklusive AfD, aber noch ohne die Grünen). Deutschland war nie so weit von einem Bundeskanzler mit linker Agenda entfernt wie heute. Der Zeitgeist ist rechts, und der Nieder- gang der politischen Linken scheint sich nicht stoppen zu lassen – weder in Deutschland noch in den anderen Staaten Europas. Dabei war die EU zur Jahrtau- sendwende noch fest in den Händen der Sozialdemokraten und Sozialisten. Sie re- gierten in 12 von 15 EU-Staaten, es war der Höhepunkt sozialdemokratischer Macht. Gerhard Schröder in Deutschland, Tony Blair in Großbritannien, in Frankreich Lio- nel Jospin. Wobei sich rückblickend die Frage stellt, ob die Politik dieser vermeint- lichen Linken tatsächlich links war. Und ob nicht gerade Schröder und Blair die Linke mit ihrem bewusst postideologi- schen und allzu wirtschaftsfreundlichen Konzept vom „Dritten Weg“ in jene Iden- titätskrise wiesen, in der sie heute steckt. Wenn sich im Frühjahr die inzwischen 28 Regierungschefs der EU-Staaten in Brüs- sel treffen, werden wohl noch sechs Sozial - demokraten unter ihnen sein. Hinzu kommt der Grieche Alexis Tsipras von der linkspopulistischen Syriza-Partei. Und dann die große Frage: Zählt der französische Präsident Emmanuel Macron mit seiner auf den Trümmern der Sozialdemokratie gegründeten Bewegung „La République en marche!“ noch als Linker? Ein halber vielleicht, mit etwas Wohlwollen. Sechs- einhalb von 28. Ein trauriges Bild. Wie konnte es dazu kommen? Die Gründe für den Niedergang der politischen Linken in Europa sind bei aller Gemeinsamkeit vielschichtig, sie unter- scheiden sich je nach Land voneinander. Eines aber lässt sich mit Sicherheit sagen: In den seltensten Fällen waren Große Ko- alitionen schuld – und noch seltener An- gela Merkel. Genau das aber versuchen die wütenden Genossen der NoGroKo-Be- wegung, angeführt von den Jusos, im Vor- feld des Bonner Schicksalsparteitags ihrer Partei weiszumachen. Es sind vor allem jüngere Genossen wie Wiebke Esdar, 33, die der Parteispitze den Kampf erklärt haben. Die Bielefelderin wurde erst im Herbst ins Parlament ge- wählt. Nun sitzt sie in ihrem frisch bezo- genen und noch immer spartanischen Bun- destagsbüro in der Berliner Wilhelmstraße, vierter Stock. Die Möbel sind gerade erst eingetroffen. In ihrem Bielefelder Unter- bezirk hat Esdar eine Art Keimzelle der Bewegung geschaffen: Sie selbst sitzt seit Dezember im Bundesvorstand, ihr Freund ist Mitglied im Landesvorstand der SPD in Nordrhein-Westfalen – und ihr Bürolei- ter ist Juso-Landeschef. Esdar stimmte di- rekt nach den Sondierungen im Parteivor- stand gegen den Kurs der SPD-Spitze. „Erstens halte ich es für gefährlich, wenn die AfD Oppositionsführer wird“, sagt Esdar. „Zweitens sind die Gemein- samkeiten mit der Union nach acht Jahren Großer Koalition seit 2005 aufgebraucht. Und drittens klappt die Zusammenarbeit mit CDU und CSU einfach nicht.“ So hat- te die Parteispitze im Oktober ebenfalls argumentiert. Aber anders als die Führung ist Esdar einfach bei ihrer Meinung geblie- ben. Das Ergebnis der Sondierungen mit der Union enttäuschte sie dann zusätzlich: Nicht mal einen Einstieg in eine Bürger- versicherung habe die SPD erreichen kön- nen, keine Erhöhung des Spitzensteuer- satzes, kein Ende der sachgrundlosen Be- fristung. Sie könne keinen Politikwechsel erkennen, sagt Esdar. „Ich glaube einfach nicht, dass eine Neuauflage der GroKo gut für dieses Land ist.“ Zum Helden des Widerstands wurde Ke- vin Kühnert, der Juso-Chef. Nicht weil er herumposaunt, sondern weil er leiden- schaftlich, aber sachlich mit der Großen Koalition abrechnet. Das Problem der jun- gen Sozialdemokraten ist nur, dass sie kei- nen Gegenentwurf anbieten können. Es ist eine Politik nach dem Brexit-Prinzip: Erst mal Nein sagen – und dann schauen, wie es weitergeht. Woher wissen die GroKo-Gegner denn, dass sich die Partei in der Opposition besser erneuern lässt als in der Regierung? In den Oppositionsjah- ren zwischen 2009 und 2013 hat das jeden- falls nicht geklappt. Die Kampagne der Widerständler ist je- denfalls kraftvoll genug, um die SPD wie- der mal vor eine Zerreißprobe zu stellen. In den letzten Tagen vor der Entscheidung gleicht der Kampf um die GroKo einem absurden Wettrennen. Kühnert tourt durchs Land, Schulz auch. Der SPD-Chef steht im ständigen telefonischen Kontakt mit den Landesvorsitzenden, um sich über die Stimmung auf dem Laufenden zu hal- ten. Schulz glaubte in den Tagen vor dem Parteitag, dass am Ende genügend Sozial- demokraten zum Ja-Lager finden: Bundes- tagsabgeordnete, Bürgermeister, Landes- minister, Landräte, vor allem also jene Genossen, die ein Mandat haben. Die Rechnungen gelten auch der Selbstverge- wisserung. Im Verlauf der Woche wurde klar: Sollte die Abstimmung schiefgehen, würde dies das politische Aus für Schulz und wohl auch für Fraktionschefin Nahles bedeuten. Dass der Parteitag in Bonn zur unbere- chenbaren Angelegenheit wurde, ist nicht nur der Entschlossenheit der Widerständ- ler geschuldet, sondern auch dem Zick- zackkurs der SPD-Führung. Nach dem Scheitern der Jamaikaverhandlungen schloss die Parteispitze zunächst eine Gro- ße Koalition aus, kurz darauf verhandel- ten sie doch darüber, das wirkte höchst unprofessionell. Und dass sich etliche Mit- glieder des Sondierungsteams kurz nach Ende der Verhandlungen unzufrieden über die ausgehandelten Ergebnisse äu- ßerten, ebenfalls. Die neue Lage ist nicht weniger als ein Albtraum für die Partei. Geht die SPD in die Regierung, muss sie viel fürchten, nicht nur einen Verlust an Glaubwürdigkeit. Es besteht die Gefahr, abermals von der Kanz- 16 DER SPIEGEL 4 / 2018 W E R N E R S C H Ü R IN G / D E R S P IE G E L SPD-Abgeordnete Esdar: „Die Zusammenarbeit mit CDU und CSU klappt einfach nicht“ lerin in den Schatten gestellt zu werden. Eine neue Polarisierung zwischen den Volksparteien, die die Demokratie leben- dig machen kann, würde vertagt. Die poli - tischen Ränder könnten gestärkt, die eige- ne Erneuerung verschleppt werden. Einige Genossen hoffen darauf, dass der Parteichef rasch ein Zeichen setzt, dass er es mit der Erneuerung trotz einer Regie- rungsbeteiligung ernst meint. Schulz solle den Zweiflern eine Brücke bauen und sei- nen Verzicht auf ein Ministeramt erklären, heißt es in manchen Landesverbänden. Auch in der Sitzung der NRW-Landesgrup- pe am Mittwoch war Schulz’ künftige Rolle ein Thema, mehrere Redner betonten, dass sich nur mit einer Trennung von Partei- vorsitzund Vizekanzleramt die SPD wirk- lich erneuern und ein Weiter-so verhindern ließe. Aber kann das gut gehen: ein Chef- verhandler, der nicht Teil des Kabinetts ist? Und ginge dann nicht erst recht die Postendiskussion los, die eigentlich ver- mieden werden soll? Beteiligt sich die SPD an der Regierung, bietet das natürlich auch Chancen. Die Par- tei hätte Bühnen, die sie sonst nicht hat. Merkel ist in der Spätphase ihrer Kanzler- schaft. Es gibt viel Geld zu verteilen, nicht zuletzt an die eigene Wählerklientel. Und die Kanzlerin hat nach längerer Diskussion zugestimmt, zur Mitte der Legislatur eine Bilanz der Koalition zu ziehen. Das könnte dann als Anlass für ein vorzeitiges Ende genutzt werden. Ein eingebauter Flucht- weg sozusagen. Dass die Misere der SPD mit einer Ab- sage an Schwarz-Rot beendet werden könn- te, wie die Gegner des Bündnisses glauben, ist nicht sehr realistisch. Denn die Proble- me der Partei und damit der poli tischen Linken in Deutschland haben viel früher begonnen, das Elend wurzelt tiefer. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter, der sich seit Jahrzehnten mit der Partei befasst, kritisiert denn auch die „Oppositionsparolen der angeblichen Parteilinken“. Diese seien „so leer, so hül- sig, so unelementar, wie die Repetierung eines Kanons, der zur Glaubensgeschichte dazugehört, auch wenn überall der Glau- ben daran zerfällt“. Auf die meisten Bür- ger wirke das nur noch nervig. Es habe mal Zeiten gegeben, „da war diese Partei Träger von Hoffnungen hier oder Projek- tionsfläche für bürgerliche Bedrohungs- ängste dort. Jetzt fürchtet sich niemand mehr vor der SPD, erst recht begeistert sie niemanden mehr. Sie geht auf den Wecker“. Oskar Lafontaine hat die Zeiten, als die Partei noch Träger von Hoffnungen war, selbst miterlebt. In der Woche vor dem Bonner Parteitag sitzt er daheim im Saar- land und denkt versonnen zurück. Damals unter Willy Brandt sah alles noch rosarot aus, da habe noch ein anderer Geist ge- herrscht. „Wir trugen im Herzen die Idee von einer besseren Welt.“ Man sei stolz gewesen, ein Sozialdemokrat zu sein. „Es gab eine Aufbruchsstimmung; die Jugend war begeistert von Willy Brandt.“ Bei den Parteitagen saßen Intellektuelle wie Max Frisch und Walter Jens in den ersten Rei- hen. Man habe noch die klare Aufgabe ge- habt, sich für die Schwachen einzusetzen und für den Frieden. „Willy Brandts Knie- fall in Warschau, das war für uns ein emo- tionaler Höhepunkt.“ Später war Lafontaine dann selbst für kurze Zeit ein Hoffnungsträger der SPD. Bis er im März 1999 überraschend als Fi- nanzminister und SPD-Vorsitzender zu- rücktrat und später mit der Linken eine Konkurrenzpartei gründete. Kaum einer hat stärker zur Spaltung der deutschen Lin- ken beigetragen und damit letztlich auch zu ihrer Schwächung. „Die SPD hat damals die Seiten gewech- selt“, sagt er heute über diesen Schritt. „Sie hat sich dem neoliberalen Mainstream angepasst.“ Allerdings präsentierte sein Widersacher Gerhard Schröder die umstrit- tene „Agenda 2010“ erst 2003 – vier Jahre nach Lafontaines Flucht. Schröders Agenda aber hat der Partei geschadet wie keine andere Entscheidung. Was für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes richtig gewesen sein mag, hatte verheerende Folgen für die SPD. Sie war plötzlich verantwortlich dafür, dass Men- schen, die ihr Leben lang geschuftet hatten und dann arbeitslos wurden, in kurzer Zeit nur noch ein Minimum an staatlicher Un- terstützung erhielten. Zwar stiegen in der Folge wie erhofft die Wirtschaftsdaten, und auch die Zahl der Arbeitslosen sank, aber zugleich führ- ten die Reformen zu einer massiven Aus- weitung der Leiharbeit und erhöhten die Zahl der prekären Beschäftigungsverhält- nisse. Für Millionen Menschen, die sich einst von der Arbeiterpartei SPD beschützt gefühlt hatten, waren die Sozialdemokra- ten zu Verrätern geworden. Die Sozialdemokratie, so drückt es der mit den Jahren immer radikaler geworde- ne Lafontaine aus, habe mit der „schweren Beschädigung des Sozialstaates“ ihre Seele verloren. Aber die SPD ignoriere noch im- mer, warum ihr seit 1998 zehn Millionen Wähler abhandengekommen sind. Lafon- taine glaubt, dass die SPD gerade „weiter - stirbt“, und das tue ihm weh, sagt er. Dann muss er das Telefonat kurz unterbrechen. „Da ist eine Katze auf der Terrasse“, sagt er. Er klingt leicht panisch. Eine Tür schlägt zu. Zwei Minuten später ist er wieder da. „Die geht mir immer an die Vögel.“ Auch im heimischen Garten verteidigt Lafon - taine konsequent die Schwachen gegen die Raubtiere. Besonders zuwider sind Lafontaine jene Politiker, die sich zu Zeiten der Agen- da anpassten, die stillschweigend und opportunistisch mitmachten, statt linke Werte zu verteidigen. Jürgen Trittin war einer, der damals mitmachte, als Minister in Schröders Kabinett. Und er bereut im Rückblick vieles: Der Neoliberalismus sei schuld am Niedergang der politischen Lin- ken, sagt Trittin. Und Rot-Grün sei es auch. „Der Neoliberalismus hat dazu geführt, dass die Spaltung in der Gesell- schaft wieder größer geworden ist“, wäh- rend die Hoffnung auf Teilhabe in der Gesellschaft gesunken sei. Dass die So - zialdemokraten, aber auch die Grünen „eine Zeit lang den neoliberalen Diskurs mitgefahren haben“, sei ein Grund dafür, dass es heute keine linke Mehrheit mehr gebe. Ein Beispiel? Das Wort „Reform“ sei heute, anders als zu Zeiten Willy 17DER SPIEGEL 4 / 2018 1998 2002 2005 2009 2017 Umfrage Infratest dimap vom 4. Januar Bundestagswahlergebnisse Zweitstimmen in Prozent SPD B’90/Grüne AFD CDU/CSU Sonstige FDP PDS/Linke 20,5 9,2 8,9 40,9 5,1 35,2 6,2 5,9 6,7 10,7 12,6 5,0 32,9 33 21 13 50 % 9 11 9 Regierungen 2013 Brandts, eine Bedrohung. Statt mehr Teil- habe drohe Ausschluss. „Daran hatten die Hartz-Reformen definitiv ihren Anteil.“ Dabei schien es eine Zeit lang, als könn- te der sogenannte Dritte Weg, den die So- zialdemokratie, angeführt von Schröder und Blair, um die Jahrtausendwende fast überall in Europa einschlug, die Bewegung zu neuem Glanz führen. Für Parteienfor- scher Franz Walter war der vermeintliche Triumph von New Labour allerdings nur ein Nachglühen der wirklichen sozialde- mokratischen Epoche: der Sechziger und Siebziger. Olof Palme, Willy Brandt und Bruno Kreisky hätten tatsächliche linke Politik machen können, so Walter, sie hät- ten die Wirtschaft gesteuert und den ge- sellschaftlichen Ausgleich organisiert. Im Zuge der neoliberalen Reformen habe die Bedeutung des Staats dann nachgelassen. Dem habe die Linke sich ergeben. Ergeb- nis: Obwohl sie überall an der Macht ge- wesen sei, habe sie bei der Kontrolle des Finanzkapitalismus ab Mitte der Neunzi- ger versagt. Auch die große Gegenwartsbeschrei- bung des Kultursoziologen Andreas Reck- witz, 47, der mit „Die Gesellschaft der Sin- gularitäten“ die wahrscheinlich klügste Ge- sellschaftsanalyse der vergangenen Jahre veröffentlicht hat, gibt der Linken nur we- nig Anlass zur Hoffnung. Spätmoderne Ge- sellschaften feierten das Besondere, so Reckwitz, der Durchschnittsmensch mit seinem Durchschnittsleben zähle nicht mehr. Das gute Leben entscheide sich nicht mehr an der Waschmaschine oder dem Auto, sondern an der besonderen Reise oder dem restaurierten Oldtimer. Die Bruchlinie, die die europäischen Ge- sellschaften teile, verlaufe zwischen den neuen Mittelschichten, den Gewinnermi- lieus des neuen, kreativen Kapitalismus, die in der ganzen Welt zu Hause seien und ihr Leben wie ein Kunstwerk inszenierten – und den alten Mittelschichten, den Hand- werkern, Ladenbesitzern und kleinen An- gestellten, die sich davon abgeschnitten fühlten. Die auf dem Land oder in Klein- städten leben. Für die die Globalisierung eher Bedrohung als Verheißung sei und die mit Abwehr auf die rasanten sozialenVeränderungen reagierten. Für Sozialdemokraten und viele andere linke Parteien sind das schlechte Nachrich- ten. Denn sie erreichen weder die eine noch die andere Klasse. Die einen wählen grün oder liberal, weil sie sich dort als besondere Individuen ernst genommen fühlen. Die an- deren wenden sich von der Politik ab oder gleich den populistischen Bewegungen zu, bei denen sie ihre Ab neigung gegen die neuen Eliten gespiegelt sehen. Bei der jüngsten Bundestagswahl hat die AfD vor allem in solchen Vierteln gewon- nen, die Soziologen als „prekär“ bezeich- nen. Erstmals seit Jahren gingen vermehrt Hilfsarbeiter, Arbeitslose und Hartz-IV- Empfänger zur Wahl – und haben ihre Stimme vor allem der AfD gegeben. In Vierteln mit vielen Niedrigverdienern er- reichten die Rechtspopulisten ihre stärks- ten Ergebnisse. Dagegen musste die SPD dort große Einbußen hinnehmen. Von einer „neuen Konfliktlinie der De- mokratie“ ist in einer Studie der Bertels- mann-Stiftung die Rede. Wer sich mit Be- griffen wie „Tradition“ und „Besitzstands- wahrung“ identifizieren kann, wählt in- zwischen überwiegend rechts außen. Da- gegen konkurrieren Union, Grüne und SPD um die Gruppe der sogenannten Mo- dernisierungsbefürworter, die gern über „Grenzüberwindungen“ oder „Beschleuni- gung“ reden. Viele Arbeiter können der traditio - nellen Kleinfamilie viel und der Ehe für alle weniger abgewinnen. Sie fühlten sich heute oft politisch heimatlos, wie der Baseler Professor Oliver Nachtwey sagt. Der Sozialwissenschaftler befragt derzeit AfD-Wähler in der ganzen Re - publik nach ihren Einstellungen und Motiven; und er ist überrascht, wie viel- schichtig die Antworten sind. Es gibt den Lkw-Fahrer, der sich darüber empört, dass ihm die Überwachungsmodule der moder- nen Bordelektronik kaum noch Pausen- zeiten lassen. Und es gibt den Schornstein- feger, der von seinen Hausbesuchen den Eindruck mitnimmt, dass Recht und Ord- nung nichts mehr gelten. Früher haben viele von ihnen links gewählt; doch in - zwischen hätten sie das Gefühl, „dass sie für die Populisten stimmen müssen, wenn sie gehört werden wollen“, sagt Nachtwey. 18 DER SPIEGEL 4 / 2018 M A R C U S S IM A IT IS / D E R S P IE G E L SPD-Mitglieder in Düsseldorf: Der Parteispitze den Kampf erklärt Titel Von „kultureller Frustration“ sprechen Politikwissenschaftler, und fataler noch: Bei vielen kommt sie zur ökonomischen Enttäuschung hinzu. Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Zwar sind die Löhne auch in den unteren Gehaltsgruppen zuletzt etwas angestiegen, doch häufig werden die Zu- wächse von steigenden Mieten, Energie- oder Lebensmittelpreisen wieder aufge- fressen. Was bleibt, ist das Gefühl, von den Früchten des Aufschwungs ausge- schlossen zu sein. Welche Schlüsse sollten linke Parteien nun aus diesen eher düsteren Erkenntnis- sen der Forschung ziehen? Lässt sich das verspielte Vertrauen überhaupt noch zu- rückerobern? Weil die Krise der politi- schen Linken im Lande so offensichtlich ist, schwanken viele an der Spitze von SPD, Grünen und Linken derzeit zwischen Resignation und Ratlosigkeit. Es ist auch dieser Eindruck von Läh- mung, die Lafontaine und seine Frau Sahra Wagenknecht dazu brachten, mehr Konse- quenz zu wagen. Eine linke Mehrheit, so ihre Überzeugung, sei nur noch durch eine Neuordnung des Parteiensystems zu erzie- len. Eine linke Sammlungsbewegung solle entstehen, forderte Wagenknecht vorige Woche im SPIEGEL. Sie wünsche sich eine starke linke Volkspartei. Ein paar Tage und einige Empörungswellen später sitzt sie in hellblauem Kostüm in ihrem Büro und gibt sich zufrieden. Sie habe fast ausschließlich positive Zuschriften bekommen, sagt sie, und bleibt bei ihrer Analyse: „Die SPD schafft sich ab, und es gibt keine Kraft, die die entstehende Leerstelle von links füllen kann.“ Dass ihre bisherige Partei, die Linke, die enttäuschten SPD-Wähler für sich ge- winnen könnte, hält sie für eine Illusion. „Ich will, dass etwas entsteht, das deutlich breiter ist“, sagt sie. Deswegen habe sie et- was „Neues“ gefordert. Mit ihrer Forderung erklärt sie die Partei, deren Fraktion sie derzeit im Bundestag anführt, faktisch für ungeeignet. Entspre- chend erbost reagierten die Kollegen. Für das Projekt einer Abspaltung gebe es keine Unterstützung in der Partei, machte Par- teichefin Katja Kipping klar. Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow kritisier- te das „gefährliche Gerede von der Samm- lungsbewegung“ und warf Wagenknecht vor, die Linke zu zerstören. Von Sozialde- mokraten und Grünen wurde die Idee ebenfalls prompt zurückgewiesen. „Wagen - knechts Politikmodell basiert auf Abgren- zung, der Entlarvung der SPD, eben der Spaltung der gesellschaftlichen Linken“, sagt der Grüne Jürgen Trittin. „Da müssten noch viele Scherben eingesammelt werden, bevor sie glaubhaft Teil einer Sammlungs- bewegung sein kann.“ Vorigen Sonntag zeigte sich das Ehepaar Wagenknecht/Lafontaine wie üblich bei der Gedenkfeier anlässlich der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Lieb- knecht in Berlin-Fried- richsfelde (siehe Seite 22). Als sie in ihrer schwarzen Limousine an der Gedenk- stätte der Sozialisten vor- fuhren, zischte man ihnen entgegen: „Rosa würde sich im Grab umdrehen.“ Ein Vorbild haben die beiden im französischen Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon gefunden. Mé- lenchon war beim Neu- jahrsempfang der Frak - tion am vorigen Wochen- ende als Redner geladen – im Gegensatz zu den unerwünschten Par- teichefs Kipping und Bernd Riexinger. Mélenchon, ein enger Freund Lafontaines, sprach mit einer Stimme, die an Donner- grollen im Gebirge erinnert, vom „Freund Russland“ und wurde für seine Parolen bejubelt. Mélenchon holte mit seiner neu gegrün- deten Bewegung „La France insoumise“ in der ersten Runde der französischen Prä- sidentschaftswahl aus dem Stand 20 Pro- zent. Dabei trat er ganz bewusst nicht als Partei an, sondern mit einer parteiüber- greifenden Liste. „So war es viel leichter, Wähler zu gewinnen“, sagt Mélenchon. Die Hürden seien wesentlich niedriger. Der Wähler müsse so nicht mit einer gesamten Partei, deren Organisation, Per- sonal und Ideen einverstanden sein. „Ge- stimmt wird einfach nur für ein Wahl - programm.“ Und natürlich auch für eine Person. „Drei alte weiße Männer: ich, Jeremy Corbyn in Großbritannien und Bernie San- ders in den USA – wir haben die Jugend erreicht“, erklärt er und lächelt versonnen. „Sie sehen also, das ist keine Altersfrage und auch keine Frage irgendwelcher digi- talen Kommunikationsstrategien.“ Für den Erfolg seien vor allem zwei Dinge nötig: Geduld und Leidenschaft. „Wir haben nur eine Realität abgerufen, die es in der Gesellschaft schon gibt: den Wunsch nach linker Politik.“ Kann die deutsche Linke also von Mé- lenchons Erfolg lernen? Sie müsste sich zunächst mal darauf ver- ständigen, für welchen Kurs sie überhaupt eintreten will. Im Zeitalter der Flüchtlings- krisen ringt gerade die deutsche Linke mit der Frage, ob eine soziale Politik vor allem für Deutsche gemacht werden soll oder ob die Solidarität mit den Schwa- chen so weit über die Fra- ge der Nationalität hinaus- reicht, dass die Grenzen für jeden offen sein sollen. Es ist eine der ungelös- ten Fragen linker Politik – und nichts illustriert die Sprengkraft dieser Frage eindrücklicher als der er- bitterte Streit zwischen den Linken-Politikerinnen Kipping und Wagenknecht. Während Kipping der Uto- pie eines Planeten nach- hängt, auf dem Bewegungs - freiheit und Chancen gleich - heit für alle herrschen, setzt Wagenknecht auf einen linksnationalen Kurs. Sie spielt mit Ressentiments. Im Vordergrund stehen bei ihr die eigenen Landsleute. Der Natio- nalstaat wird als eine Art Schutzraum in der globalisierten Welt betrachtet. Der Riss, der inder Frage nach dem rich- tigen Kurs durch die Linke und auch durch die SPD geht, ist nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zu beobachten. Während etwa die dänischen Sozialdemo- kraten glauben, der Weg nach rechts führe wieder an die Macht, setzt Labour-Chef Jeremy Corbyn in Großbritannien auf einen stramm linken Kurs. In vielen euro- päischen Ländern sind zudem neue linke Bewegungen wie etwa Podemos in Spa- nien entstanden, die die alte Sozialdemo- kratie mit ihrer Radikalität wie träge Ver- eine wirken lassen. In Deutschland ist die Lage noch verzweifelter. Die SPD ringt er- bittert um die Frage, ob sie Angela Merkel noch einmal zur Kanzlerin machen will. Die Linke fragt sich, ob sie nationalisti- scher werden soll, und die Grünen sind sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch eine linke Kraft sein wollen. In den Siebzigerjahren gab es eine ge- meinsame Vorstellung von linker Politik. Heute kämpfen die verschiedenen linken Gruppierungen oft erbitterter gegeneinan- der als gegen den Gegner von rechts. In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhun- derts war es die Spaltung zwischen Sozial- demokraten und Kommunisten, die dem Faschismus den Weg ebnete. Vielleicht sollte sich die Linke nach Jah- ren der Individualisierung und Ausdiffe- renzierung mal wieder auf den Ursprungs- gedanken und Kern ihrer Bewegung besin- nen: Nur gemeinsam sind wir stark. Nicola Abé, Markus Feldenkirchen, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Tobias Rapp, Christian Teevs 19DER SPIEGEL 4 / 2018 Aktualisierung: Ab Sonntag- abend lesen Sie hier, wie die SPD abgestimmt hat. spiegel.de/sp042018aktuell oder in der App DER SPIEGEL SPD- Mitglieder Ende 1990 949 550 Nov. 2017 ca. 443 000 Quelle: Bis 2015 die Rechenschaftsberichte der SPD; ab 2016 Auskunft der SPD „Erst mal Nein sagen und dann schauen, wie es weitergeht.“ SPIEGEL: Herr Schulz, waren Sie mal Mit- glied bei den Jusos? Schulz: Ja. Ich war sogar ein paar Jahre ihr Vorsitzender in meiner Heimatstadt Wür- selen. Die Jusos machten damals Front ge- gen Helmut Schmidt und debattierten über staatsmonopolistischen Kapitalismus. Ich gehörte in dieser Frage zu den moderate- ren Vertretern, unter anderem, weil ich als Sohn eines Polizeibeamten ein eher posi- tives Verhältnis zum Staat und seinen Au- toritäten hatte. SPIEGEL: Heute attackieren die Jusos wieder Autoritäten, nämlich Sie und Ihren Plan für eine Neuauflage der Großen Koalition. Wie genervt sind Sie von Ihrer Jugend - organisation? Schulz: Überhaupt nicht. Mit der Kritik kann ich leben. Ich bin derjenige, der den Streit in der Sache wollte. Als ich vor ei- nem Jahr als Parteivorsitzender angetreten bin, habe ich genau das angekündigt: eine lebendige Debattenkultur in der SPD. Wo- mit ich nicht einverstanden bin, ist eine Ablehnung um des Ablehnens willen. Ich möchte mit den Jusos über das diskutieren, was wir für die junge Generation erreichen können. Wenn die Große Koalition zustan- de kommt, werden wir zum Beispiel das Bafög erhöhen und eine Mindestvergütung für Auszubildende einführen. Und in den europäischen Nachbarländern werden ge- rade junge Leute davon profitieren, dass wir weniger sparen und mehr investieren. SPIEGEL: Juso-Chef Kühnert wirft Ihnen vor, Sie hätten, anders als verabredet, nicht er- gebnisoffen sondiert, sondern einfach „sehr große Lust“ auf eine Große Koalition gehabt. Schulz: Wer das behauptet, hat zwischen dem 24. September und der Aufforderung des Bundespräsidenten nach dem Schei- tern von Jamaika den Schlaf der Gerech- ten geschlafen. Wenn wir aber in Sondie- rungs- und Koalitionsgespräche gehen, dann haben wir auch einen politischen Ge- staltungsauftrag, nämlich das Leben all je- ner zu verbessern, die auch die Jusos im Blick haben: Arbeitnehmer mit niedrigen Einkommen, Senioren mit kleinen Renten, Azubis, Familien, Alleinerziehende. SPIEGEL: Viele in der Partei sehen einfach, dass die SPD nach jeder Großen Koalition Wählerstimmen eingebüßt hat. Beein- druckt Sie das nicht? Schulz: Das beeindruckt jeden Sozialdemo- kraten. Die letzte Große Koalition hat sich allein schon für den Mindestlohn gelohnt. Er hat das Leben Hunderttausender Men- 20 DER SPIEGEL 4 / 2018 Zur Selbstironie fähig SPD Parteichef Schulz, 62, spricht über seine Zeit als Juso, warnt die Genossen, aus den Gesprächen über eine Große Koalition auszusteigen, und erklärt, was ihn mit der Kanzlerin verbindet. S T E F F E N R O T H / D E R S P IE G E L Sozialdemokrat Schulz: „Dann würde es zu Neuwahlen kommen“ Titel schen verändert. Ich bin in die Politik ge- gangen, um die Welt zu verbessern, nicht um mich wohlzufühlen. Viele sagen ja jetzt: Lasst die anderen regieren, dann kön- nen wir in vier Jahren machtvoll angreifen. Mir ist das zu taktisch. Ich will nicht, dass die Altenpflegerin vier Jahre lang auf bes- sere Arbeitsbedingungen wartet, nur damit sich die SPD wohlfühlt. SPIEGEL: Aber Sie könnten ein Minderheits- kabinett Merkel tolerieren. Schulz: Frau Merkel hat das ausgeschlossen. Jeder muss wissen: Eine Minderheitsregie- rung wäre nur eine kurze Übergangsphase auf dem Weg hin zu Neuwahlen. Wir ha- ben das in den Sondierungen angespro- chen. Zum anderen: Eine Regierung, die bei jeder Kleinigkeit um ihre Mehrheit im Parlament zittern muss, halte ich persön- lich auch nicht für das richtige Modell für Deutschland. Schon gar nicht in einer Zeit, in der wir Europa stabilisieren, den Klima- wandel stoppen und riesige internationale Herausforderungen von China über Trump bis Putin wuppen müssen. Da ist es schon ein Vorteil, wenn die Regierung über eine stabile Mehrheit verfügt. SPIEGEL: Viele Genossen hat auch irritiert, dass Sie nach der Jamaikaabsage der FDP zunächst weiter gegen eine Neuauflage der Großen Koalition waren. Wie viel Verant- wortung tragen Sie persönlich für den Un- mut in Ihrer Partei? Schulz: Es stimmt, dass wir in der Partei- führung die Lage an dem Montag nach dem Scheitern der Jamaikaverhandlungen anders eingeschätzt haben. Aber da kann- ten wir die Haltung des Bundespräsidenten noch nicht. Nach seiner Intervention war die Lage neu zu bewerten. Darauf haben die Parteigremien und ich dann sehr schnell reagiert. SPIEGEL: Was würde passieren, wenn der Parteitag am Sonntag Nein sagte? Schulz: Dann würde es zu Neuwahlen kom- men, und zwar ziemlich rasch. SPIEGEL: Und, wäre das so schlimm? Schulz: Die SPD müsste dann mit einem Programm in den Wahlkampf ziehen, das in großen Teilen mit dem Sondierungs - ergebnis identisch ist. Wie absurd wäre das denn? Noch größer aber wäre der Schaden für die Demokratie. Wenn es den Parteien nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bun- destag eine Regierung zu bilden, würden sie von den Wählern abgestraft. Das würde nur Populisten und Demokratieverächtern nutzen. SPIEGEL: Trotzdem fordern viele Sozial - demokraten, das Sondierungsergebnis noch einmal nachzuverhandeln. Sehen Sie dafür Chancen? Schulz: Wir haben sondiert und keine Ko- alitionsverhandlungen geführt. Die begin- nen erst, wenn der Parteitag grünes Licht dafür gibt. Dann wird, so haben wir es be- schlossen, auf der Grundlage der Sondie- rungsergebnisse verhandelt, vertieft, er- gänzt und präzisiert. SPIEGEL: Soll es dabei auch um jene Leucht- turmprojekte gehen, die viele Sozialdemo- kraten jetzt so schmerzlich vermissen: die Bürgerversicherung zum Beispiel? Schulz: Wir haben bei der Sondierung den Rahmen abgesteckt, was geht und was nicht geht. Dabei bleibt es. Wir wollen ja auch nicht, dass die andere Seite Dinge in- frage stellt, die wir erstritten haben. Aber Sie können sicher sein: Wir werden im Rahmen der Koalitionsverhandlungen noch viele Themen ansprechen, die uns Sozialdemokraten am Herzen liegen. SPIEGEL: Dazu gehört zum Beispiel der Spit- zensteuersatz. Die SPD wollte ihn anhe-ben, konnte sich damit aber bei den Son- dierungen nicht durchsetzen. Werden Sie da nachlegen? Schulz: Wir haben keine Erhöhung aushan- deln können, das stimmt. Aber dafür ha- ben wir unser Ziel, das Steuersystem ge- rechter zu machen, auf anderem Wege er- reicht. Unsere Freigrenzenregelung beim Soli führt dazu, dass Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen um zehn Mil - liar den Euro entlastet werden – 90 Prozent der Steuerzahler haben dann mehr im Portemonnaie, die 10 Prozent Topverdie- ner aber zahlen genauso viel wie heute. Das ist auch eine wirksame Methode, et- was gegen die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu unternehmen. SPIEGEL: Der Gang in die Große Koalition ist das eine, der Gang hinaus das andere. Wie wollen die Sozialdemokraten für eine neue Regierung trommeln, nachdem sie vier Jahre lang für die alte geworben ha- ben? Haben Sie dafür einen Plan? Schulz: Natürlich. Punkt eins ist, meine Partei für Koalitionsverhandlungen zu ge- winnen. Punkt zwei besteht darin, die SPD-Mitglieder vom Ergebnis zu überzeu- gen – wenn wir denn eins erzielen. Punkt drei lautet, so zu regieren, dass die Leute die SPD für fähig halten, das Land zu führen. Und Punkt vier und genauso wichtig: die Erneuerung der SPD voran- treiben. Nicht nur organisatorisch, son- dern auch programmatisch. Wir müssen wieder die Architekten neuer Zukunfts- entwürfe werden. SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass auch Ihre Amtsvorgänger nach diesem Rezept vorgegangen sind. Das Ergebnis an der Wahlurne war nicht unbedingt überzeu- gend. Schulz: Ich bezweifle, dass die Krise der SPD vornehmlich von der Großen Koali tion verursacht worden ist. Schließlich steckt die Sozialdemokratie nicht nur in Deutsch- land, sondern europaweit in der Krise. SPIEGEL: Wo sehen Sie die Gründe? Schulz: In der erodierenden Gesellschaft, in der wir leben, brauchen wir mehr Zu- sammenhalt. Deshalb müssen wir unser Land dort erneuern, wo die Solidargemein- schaft am stärksten herausgefordert ist: bei Bildung, Qualifizierung, der Würde im Alter. Mehr soziale und mehr öffentliche Sicherheit: Wenn die Sozialdemokratie be- weist, dass sie hier überzeugende Antwor- ten hat, wird sie auch wieder mehr Wähler anziehen. SPIEGEL: Ihr Amtsvorgänger Sigmar Gabriel ist anderer Meinung. Er hat in einem Bei- trag für den SPIEGEL geschrieben, dass sich die SPD zu viel um Grünes und Libe- rales und zu wenig um Rotes gekümmert habe. Die klassische Klientel aus der In- dustriearbeiterschaft sei vernachlässigt worden. Hat er recht? Schulz: Sigmar Gabriel war knapp acht Jah- re lang Parteivorsitzender. Er hat die Ent- wicklung in seiner Amtszeit beschrieben, das ist sein Recht. Auch ich mache mir na- türlich meine Gedanken dazu. SPIEGEL: Nämlich? Schulz: Niemand hat die Interessen der klassischen Industriearbeiterschaft in den vergangenen Jahren so zu seinem Herzens- anliegen gemacht wie die SPD. Ich nenne hier nur mal die Themen Zeitarbeit, Min- destlohn, Rente mit 63. Aus meiner Sicht müssen wir uns die Frage stellen, warum diese Erfolge bei den Bürgerinnen und Bür- gern nicht wahrgenommen wurden. SPIEGEL: Die SPD hat in der letzten Legis- laturperiode durchaus gemeinschaftlich manches durchgesetzt, in der Sozialpolitik oder beim Mindestlohn. Es hat der Partei aber kaum Punkte gebracht. Schulz: Die SPD muss lernen, zu sich selbst und ihren eigenen Erfolgen zu stehen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es bei der SPD zugeht wie bei meinem Großva- ter. Der hat ein Zeugnis mit sechs Einsen und einer Zwei nach Hause gebracht, und dann hat der Lehrer druntergeschrieben: Bei noch größerem Fleiß hätte der Schüler noch besser abschneiden können. Die SPD muss mehr Stolz auf die eigene Leistung entwickeln. SPIEGEL: Viele in der Partei haben aber das Gefühl, dass es in einer neuen Großen Ko- alition genauso laufen würde wie in der alten. Dabei hatte es zuletzt immer gehei- ßen, ein Weiter-so dürfe es nicht geben. Schulz: Das wird es auch nicht. Wir haben in den Sondierungen zum Beispiel eine fundamentale Neuausrichtung der Beschäf- tigungspolitik erreicht: Erstmals wird es einen wirklich sozialen Arbeitsmarkt in Deutschland geben. Wir werden mit Milliar - denbeträgen Menschen, die bisher als nicht mehr vermittelbar gelten, zu einer vom 21DER SPIEGEL 4 / 2018 „Die SPD muss lernen, zu sich selbst und ihren eigenen Erfolgen zu stehen.“ Reihe mobiler Toiletten, so diskret, wie mobile Toiletten auf einem Friedhof eben stehen können. An den Ständen dahinter werden Glühwein und Bratwurst ange - boten, man kann auch Abonnements bei etwa einem Dutzend sozialistischer Kleinstzeitungen abschließen. Ulli Zelle, der rasende Reporter des RBB, weist seinen Kameramann an, sich rasch zum Parkplatz zu begeben. Dort wird in Kürze die Parteispitze vorfahren. „Ich will die Wagenknecht“, raunt er ihm zu. Um halb zehn entsteigt die Frak - tionsvorsitzende ihrer Limousine. Im Licht der tief stehenden Sonne sieht sie aus, als bestünde sie aus einer edleren Substanz als ihr Mann Oskar Lafontaine, der ihr die Tür aufhält. Sie hat einen schwarzen Man- tel an, auf dessen Pelzkragen ihr Dutt ruht wie eine schlafende Katze. Für einen Mo- ment ist es vorstellbar, dass sie nun gleich ein Märchenschloss bezieht, als Königin eines utopischen Landes. Die Chopin-CD springt wieder auf An- fang, Wagenknecht schreitet den gestreu- ten Weg entlang, durch das Spa- lier der Trauernden. Der Kame- ramann vom RBB stellt sich für die bessere Perspektive auf die Gedenktafel von Otto Grote- wohl, Wagenknechts Gesicht schimmert, als sie den Kranz niederlegt, auf den Berg von ro- ten Nelken. Sie hält inne, ganz so, als wäre sie eine nahe Ver- wandte der Verstorbenen, eine Enkelin womöglich. Hinter ihr wartet Gregor Gysi, bis er auch endlich mal dran ist. Auf dem Rückweg gibt Wa- genknecht ein Interview, sie sagt: „Im entfesselten Kapitalis- mus wird Rosa Luxemburgs Bot- schaft immer wichtiger.“ An ihrem Wagen wird sie noch von einer Greisin angespro- chen, die eine Breschnew-Fellmütze trägt, eine Uschanka, auf deren Stirnklappe Hammer und Sichel prangen. „Viel Kraft wünsch ich dir, Sahra“, sagt die Frau. „Bleib bei deiner Linie. Wir haben uns ja so dafür eingesetzt, dass die SED sich nicht auflöst.“ Die Fraktionsvorsitzende lächelt kühl. Dann steigt sie mit Lafontaine in den Fond und wird davongefahren. Auf dem frei gewordenen Parkplatz hält kurz darauf ein Lieferwagen. Ein Vietna- mese lädt 20 Kübel roter Nelken aus, die schon bald verwelkt sein werden. Dirk Gieselmann Titel Staat bezahlten Stelle verhelfen, und zwar zu Tariflöhnen. Ich halte das für eine große Errungenschaft im Kampf gegen die De- mütigungen, die viele Langzeitarbeitslose häufig erdulden müssen. SPIEGEL: Neu ist auch, dass Union und SPD zur Mitte der nächsten Legislaturperiode überprüfen wollen, was die Große Koalition gebracht hat. Wollen Sie so die Zusam- menarbeit nach zwei Jahren beenden? Schulz: Das ist nicht das Ziel dieser Verein- barung. Wir haben aber in der letzten Le- gislaturperiode die Erfahrung gemacht, dass wir nach zwei Jahren weite Teile un- seres Koalitionsvertrags erledigt hatten. Dann aber tauchten viele neue Probleme auf, für die es keine Verabredungen gab: von Glyphosat bis Flüchtlinge. Dieses Ver- säumnis hat der letzten Koalition eine ge- wisse Bleischwere gegeben. Das wollen wir ändern. SPIEGEL: Damit die künftige Regierung gut funktioniert, muss es auch eine mensch - liche Basis für die Zusammenarbeit geben. Wie sind Sie in der Sondierungsnacht mit Merkel und Seehofer klargekommen? Schulz: Was mich zuversichtlich stimmt, ist die Tatsache, dass wir drei zu einer gewis- sen Selbstironie fähig sind. Das macht es schon mal leichter. Ich will auch ausdrück- lich Andrea Nahles und Volker Kauder er- wähnen. Am wichtigsten aber ist, dass die Parteichefs ein Vertrauensverhältnis auf-bauen. Nach den Sondierungen bin ich etwas optimistischer als zuvor, dass uns das gelingt. SPIEGEL: Im Wahlkampf haben Sie sich mit Merkel noch heftig über die Europapolitik gestritten. Nun soll es das wichtigste The- ma für die neue Regierung werden. Wird Merkel nun wie Sie die „Vereinigten Staa- ten von Europa“ fordern? Schulz: Wir werden wahrscheinlich nicht in jedem Detail übereinstimmen; aber wir sind uns sehr einig, welche Schritte in Europa nun notwendig sind. Wir brauchen eine positive Antwort auf Macron, und wir müssen in Europa mehr investieren. Dass es dafür im Sondierungspapier eindeutige Formulierungen gibt, ist übrigens ein klarer Erfolg für die SPD. Natürlich muss- ten wir auch Konzessionen an die Union machen, aber in der Europapolitik ist die Linie eindeutig SPD pur. SPIEGEL: In der SPD gibt es trotzdem viele Skeptiker. Was machen Sie, wenn der Par- teitag gegen die Große Koalition stimmt? Schulz: Ich bin sehr zuversichtlich, dass er das nicht tun wird. Interview: Veit Medick, Michael Sauga 22 DER SPIEGEL 4 / 2018 Der Arbeiter verhalte sich, so Marx,zum Produkt seiner Arbeit wie zueinem „fremden Gegenstand“. Auch die Werktätigen in den übersee- ischen Großgärtnereien werden kaum wis- sen, warum sie einmal im Jahr die Produk- tion von roten Nelken für Berlin um ein Vielfaches heraufsetzen müssen. Und die asiatischen Verkäuferinnen, die im eisigen Wind auf der S-Bahn-Brücke unweit des Zentralfriedhofs Friedrichsfelde sitzen, ha- ben nur eine vage Ahnung, warum so viele Menschen am Sonntagmorgen um acht diese Blumen brauchen. „Jemand gestorben, ja?“, sagt eine. „Traurig, traurig.“ Die Todesfälle liegen 99 Jahre zurück, am 15. Januar 1919 wurden die Arbeiterfüh- rer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Freikorps soldaten ermordet. Am zwei- ten Sonntag des Jahres, dem Allerseelen der Linken, wird ihrer gedacht, auf dem einstigen Armenfriedhof, wo Liebknechts Gebeine vermutlich noch begraben sind und Luxemburgs womöglich nie begraben waren, ihr Verbleib ist ungewiss. Die Men- schen ziehen zu Tausenden zur Gedenk- stätte der Sozialisten und legen dort die Nelken nieder, das Stück zu einem Euro. Aus Lautsprechern schallt Chopins Trau- ermarsch. Die Menge bewegt sich im ge- tragenen Takt der Musik, als folge sie einer geheimen Choreografie. Der Reigen ge- mahnt an einen frühkirchlichen Gottes- dienst, nur eben ohne Gott. Ein Friedhofs- wärter streut Sand auf den Weg ringsum. „Achtung, Blitzeis!“, ruft er. „Et herrscht akute Unfalljefahr.“ Am Rande der Gedenkstätte franst das Weihevolle aus, es zeigt sich die Dialektik von Pathos und Banalität. Dort steht eine S T E F A N B O N E S S / I P O N Teilnehmerin der Feierstunde Jemand gestorben? Nelken welken Nostalgie Der Gedenktag für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist das Allerseelen der Linken. „Wir brauchen eine positive Antwort auf Macron.“ Renault KADJAR SUV à la Renault 0 % Finanzierung1 Leichtmetall-Winterkompletträder kostenlos 2 3 1 Renault Kadjar Life ENERGY TCe 130: Fahrzeugpreis4 18.453,– €. Bei Finanzierung: nach Anzahlung von 2.530,– € Nettodarlehensbetrag 15.923,– €, 24 Monate Laufzeit (23 Raten à 149,– € und eine Schlussrate: 12.496,– €), Gesamtlaufleistung 20.000 km, eff. Jahreszins 0 %, Sollzinssatz (gebunden) 0 %, Gesamtbetrag der Raten 15.923,– €. Gesamtbetrag inkl. Anzahlung 18.453,– €. Ein Finanzierungsangebot für Privatkunden der Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Gültig bis 28.02.2018. Renault Kadjar Life ENERGY TCe 130: Gesamtverbrauch (l/100 km): innerorts: 6,9; außerorts: 5,0; kombiniert: 5,7; CO2-Emissionen kombiniert: 127 g/km. Energieeffizienzklasse: B. Renault Kadjar: Gesamtverbrauch kombiniert (l/100 km): 6,2–3,8; CO2-Emissionen kombiniert: 139–99 g/km (Werte nach Messverfahren VO [EG] 715/2007). 2 Für Renault Twingo, Clio, Captur und Kangoo: gültig für vier Winterkompletträder. Für Renault Kadjar, Koleos, Mégane, Mégane Grandtour, Scénic, Grand Scénic, Espace, Talisman und Talisman Grandtour: gültig für vier Leichtmetall-Winterkompletträder. Jeweils nur in Verbindung mit einer Finan- zierung eines neuen Renault Pkw über die Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Ausgeschlossen sind Renault ZOE, Renault Trafic Pkw und Renault Master Pkw. Reifenformat und Felgendesign nach Verfügbarkeit. 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Statt deren „Gemischtwarenladen“ mit ein paar Kühen, Schweinen und Hühnern hat er jetzt nur noch Sauen, dafür aber knapp 300. „Warum, Herr Habeck“, fragt er, „ist ein Betrieb, der wächst, nicht gut?“ Der grüne Landwirtschaftsminister von Schleswig-Holstein hatte zuvor gesagt, dass in der deutschen Landwirtschaft kein Raum für Wachstum sei. Es müsse „weni- ger Tiere“ geben. Jetzt holt er weit aus: „Ist das überhaupt die Lebensmittelproduktion, die wir wol- len?“ Und noch weiter: „Degradieren wir Tiere damit nicht zu Rohstofflieferanten?“ Am Ende erklärt er dem Publikum noch rasch, wie Demokratie funktioniert. Und den Gesellschaftsvertrag von Rousseau. Den großen Bogen vom Schweinebauern zum Tierwohl bis zur politischen Theorie und zurück, Habeck schafft ihn spielend. Bei den Grünen kann das keiner so wie er. Robert Habeck, 48 Jahre alt, vor seinem Politikerleben hauptberuflich Schriftsteller, ist aktuell ihr größtes politisches Talent, und er weiß das auch. Habeck verfügt über genau jene Mischung von Begabungen, die in diesen Zeiten Erfolg verspricht: rhetori- sches Talent, ein sicheres Gespür für die Stimmung und Machtwillen. Dazu kommt, dass er sich vor allem um die Themen küm- mert, die seiner Partei Stimmen bringen: Umwelt und sozialer Zusammenhalt. Dazu ist er zutiefst pragmatisch. Das macht ihn zum idealen Protagonisten für die herr- schende Stimmung in der Partei: nicht mehr linkes Lager, sondern linke Mitte. Am kommenden Wochenende möchte Habeck Parteichef der Grünen werden. Und trotz der Machtarithmetik von Frau- en, Männern, Realos und Linken wäre ihm der Posten eigentlich sicher. Spätestens seit den Jamaika-Sondierungen ist Habeck in der Partei unangefochten. Kein Mann traut sich, gegen ihn anzutreten. Selbst Spitzengrüne des linken Flügels bedenken ihn mit Elogen. Habeck sei ein „politischer Mensch mit Intellekt und Wis- sen, der gemerkt hat, wann wir über den Tisch gezogen werden sollten“, sagt einer, der mit ihm Jamaika im Bund sondiert hat. Habeck wisse außerdem, dass es nicht nur darum geht, einen inhaltlich guten Fach- vorschlag zu machen. Und er gehe ab und an auf Risiko, das habe der Partei gefehlt. Aber Habeck will nicht einfach Partei- chef sein, sondern Parteichef mit Autorität. Das ist gerade bei den antiautoritären Grü- nen keine Selbstverständlichkeit, auch das weiß Habeck. Jetzt verlangt er von seiner Partei einen Beweis, dass sie ihm folgt. Auch wenn es wehtut. Denn seit Juni ist Habeck wieder Um- weltminister in Schleswig-Holstein. Und das will er zunächst auch bleiben, trotz Parteivorsitz.
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