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FLM1002 NARRATIVA BREVE Kurzgeschichte und Kurzprosa in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur 05 | 09.11.2023 Programm 1. Wiederholung: Modus 2. Das Format ‚Thesenpapier‘ 3. Ilse Aichinger Das Fenster-Theater 4. Figurenanalyse 5. Heinrich Bölls Mein Onkel Fred 2 Wiederholung: Modus Erzählung (récit) Präsentation der Geschichte Erzählen (narration) Hervorbringung der Erzählung Geschichte (histoire) Zu einem sinnvollen Ganzen integriertes Geschehen Zeit Verhältnis zwischen „Zeit“ des Geschehens und „Zeit“ der Erzählung Modus Grad an Mittelbarkeit und Perspektivierung des Erzählten Stimme Verortung der narrativen Instanz und ihres Adressaten in Bezug auf die Erzählung und die Geschichte 2 Wiederholung: Modus Modus Grad an Mittelbarkeit und Perspektivierung des Erzählten Wie erfolgt die erzählerische Vermittlung mündlicher Äußerungen, Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühle? Aus welcher Perspektive wird erzählt? Wie werden Wahrnehmungen und Wissen vermittelt? 2 Wiederholung: Modus Erzählerische Vermittlung Mittelbarkeit Unmittelbarkeit Narrativer Modus Dramatischer Modus Erzählte Rede • Erwähnung des sprl. Akts Valentin sprach mit Grete. • Gesprächsbericht Valentin erzählte Grete vom Nest. Transponierte Rede • Indirekte Rede Valentin sagte Grete, es gebe ein Nest im Garten • Erlebte Rede Ja, dort ist wirklich ein Nest, hörte ich ihn freudig ausrufen. Zitierte Rede • Direkte Rede Valentin sagte zu Grete: „Weißt du, es gibt ein Nest im Garten.“ • Autonome direkte Rede Weißt du, Grete, es gibt ein Nest im Garten. 2 Wiederholung: Modus Erzähler Wissen, Wahrnehmungen Figur >. NULLFOKALISIERUNG auktorial = INTERNE FOKALISIERUNG. aktorial, Mitsicht < EXTERNE FOKALISIERUNG. neutral, Außensicht Genettes Konzept der Fokalisierung betrachtet Modus und Stimme getrennt 2 Wiederholung: Modus Schmids Konzept der Perspektivierung betrachtet die Erzählperspektive vielschichtig Perzeptive Perspektive: Wie und aus welcher Position wird wahrgenommen? Ideologische Perspektive: Wie und aus welcher Position wird das Wahrgenommene moralisch, ethisch, politisch bewertet? Räumliche Perspektive: Aus welcher räumlichen Situation wird das Geschehen wahrgenommen? Zeitliche Perspektive: Ist das „Jetzt“ an eine der Figuren gebunden oder drückt es eine autonome zeitliche Position der Erzählinstanz aus? Sprachliche Perspektive: Wessen Sprache vermittelt die Erzählinstanz? Die einer Figur oder die eigene? 2 Wiederholung: Modus Schmids Konzept der Perspektivierung betrachtet die Erzählperspektive vielschichtig Perzeptive Perspektive Ideologische Perspektive Räumliche Perspektive Zeitliche Perspektive Sprachliche Perspektive Kompakte Perspektive distributive Perspektive figural oder narratorial? Perzeption Ideologie Raum Zeit Sprache Narratorial x x x x x Figural 2 Wiederholung: Modus Schmids Konzept der Perspektivierung betrachtet die Erzählperspektive vielschichtig Perzeptive Perspektive Ideologische Perspektive Räumliche Perspektive Zeitliche Perspektive Sprachliche Perspektive Perzeption Ideologie Raum Zeit Sprache Narratorial Figural x x x x x Kompakte Perspektive distributive Perspektive figural oder narratorial? 2 Wiederholung: Modus Schmids Konzept der Perspektivierung betrachtet die Erzählperspektive vielschichtig Perzeptive Perspektive Ideologische Perspektive Räumliche Perspektive Zeitliche Perspektive Sprachliche Perspektive Perzeption Ideologie Raum Zeit Sprache Narratorial x x Figural x x x Kompakte Perspektive distributive Perspektive figural oder narratorial? 1 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Die Frau lehnte am Fenster und sah hinüber. Der Wind trieb in leichten Stößen vom Fluß herauf und brachte nichts Neues. Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind. Es hatte ihr noch niemand den Gefallen getan, vor ihrem Haus niedergefahren zu werden. Außerdem wohnte sie im vorletzten Stock, die Straße lag zu tief unten. Der Lärm rauschte nur mehr leicht herauf. Alles lag zu tief unten. Als sie sich eben vom Fenster abwenden wollte, bemerkte sie, daß der Alte gegenüber Licht angedreht hatte. Da es noch ganz hell war, blieb dieses Licht für sich und machte den merkwürdigen Eindruck, den aufflammende Straßenlaternen unter der Sonne machen. Als hätte einer an seinen Fenstern die Kerzen angesteckt, noch ehe die Prozession die Kirche verlassen hat. Die Frau blieb am Fenster. • Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, daß er keinen Hut aufhatte und verschwand im Innern des Zimmers. • Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, daß man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. • Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loßzureißen. • Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstim¬mig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. • Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte,trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. • Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Perzeption Ideologie Raum Zeit Sprache Narratorial x x Figural x x x Raum, Zeit: figural Ideologie: narratorial Perzeption: figural Sprache: narratorial 1 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Der Alte öffnete und nickte herüber. Meint er mich? dachte die Frau. Die Wohnung über ihr stand leer und unterhalb lag eine Werkstatt, die um diese Zeit schon geschlossen war. Sie bewegte leicht den Kopf. Der Alte nickte wieder. Er griff sich an die Stirne, entdeckte, daß er keinen Hut aufhatte und verschwand im Innern des Zimmers. Gleich darauf kam er in Hut und Mantel wieder. Er zog den Hut und lächelte. Dann nahm er ein weißes Tuch aus der Tasche und begann zu winken. Erst leicht und dann immer eifriger. Er hing über die Brüstung, daß man Angst bekam, er würde vornüberfallen. Die Frau trat einen Schritt zurück, aber das schien ihn nur zu bestärken. Er ließ das Tuch fallen, löste seinen Schal vom Hals – einen großen bunten Schal – und ließ ihn aus dem Fenster wehen. Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. • Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loßzureißen. • Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstim¬mig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. • Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. • Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. 1 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Dazu lächelte er. Und als sie noch einen weiteren Schritt zurücktrat, warf er den Hut mit einer heftigen Bewegung ab und wand den Schal wie einen Turban um seinen Kopf. Dann kreuzte er die Arme über der Brust und verneigte sich. Sooft er aufsah, kniff er das linke Auge zu, als herrsche zwischen ihnen ein geheimes Einverständnis. Das bereitete ihr so lange Vergnügen, bis sie plötzlich nur mehr seine Beine in dünnen, geflickten Samthosen in die Luft ragen sah. Er stand auf dem Kopf. Als sein Gesicht gerötet, erhitzt und freundlich wieder auftauchte, hatte sie schon die Polizei verständigt. Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loßzureißen. • Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstim¬mig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. • Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. • Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissenauf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. NARRATIVER MODUS: Berichtete Figurenrede 1 Welche Typen repräsentieren die Figuren des Onkels, der Mutter und der Erzählerfigur? 2 Wie wird die Figur des Onkels charakterisiert? 3 Was ist das Thema der Geschichte? 2 Thesenpapier Leistungen zur Benotung: 1. Thesenpapier auf Deutsch (1/3) 2. Hausarbeit (2/3) (Deutsch, 5-7 Seiten) Im Moodle für eine dieser Sitzungen eintragen (2-3 Personen pro Text) 2 Thesenpapier • Thesen sind Behauptungen, die man gut begründen und mit Argumenten gegen Einwände verteidigen kann. • Thesen sind keine allgemein bekannten Tatsachen oder Annahmen! • Thesen müssen belegbar und widerlegbar sein. • Thesen werden in wenigen (meist zwei bis fünf Sätzen) formuliert und erläutert. Hierbei ist Prägnanz und Zuspitzung wichtig. Thesen? „Wolfgang Borchert ist ein wichtiger Autor der Nachkriegszeit.“ „Verbindendes Thema der Kurzgeschichten in Ilse Aichingers Erzählband Der Gefesselte ist das Fortbestehen von Ressentiments in der Nachkriegszeit.“ 2 Thesenpapier • Ein Thesenpapier bietet eine Grundlage für eine akademische Diskussion über ein Thema oder einen Text. • Das Thesenpapier versammelt in Form von Thesen textanalytische Beobachtungen und Vorschläge zur Interpretation. • Die Thesen bieten Anlass Nachfragen, Einwände und Gegenthesen. • Die Thesen beziehen Methoden zur Textanalyse und Forschungsliteratur ein. • Die mindestens 3 und höchstens 5 Thesen bauen aufeinander auf. 2 Thesenpapier – Beispiel UNIVERSIDADE DE SÃO PAULO FACULDADE DE FILOSOFIA, LETRAS E CIÊNCIAS HUMANAS DEPARTAMENTO DE LETRAS MODERNAS – LÍNGUA E LITERATURA ALEMÃS FLM1002 – NARRATIVA BREVE – 2.2021 – PROF. DR. CHRISTIAN ERNST NOME SOBRENOME (N°USP) 28.09.2021 Thesenpapier zu Fokalisierung und Perspektivierung in Ilse Aichingers Kurzgeschichte Das Fenster-Theater Die Kurzgeschichte Das Fenster-Theater von Ilse Aichinger aus dem Jahre 1949 erschien 1953 in der Anthologie Der Gefesselte. Erzählungen. Eine einsame Frau beobachtet in einem Fenster gegenüber ihrer Wohnung einen alten Mann, der aus ihrer Sicht durch eine Art Pantominenspiel mit ihr Kontakt aufzunehmen versucht. Nach anfänglichem Interesse ruft sie plötzlich die Polizei, nachdem der Mann einen Kopfstand macht. Als sie mit den Polizisten in die Wohnung des Mannes eindringt, bemerkt sie, dass das Spiel des Mannes nicht ihr, sondern einem kleinen Jungen gegolten hat, der mit seinen Eltern in die vermeintlich leere Wohnung über ihr eingezogen ist. Bemerkenswert in Aichingers Kurzgeschichte ist die Erzählperspektive, welche der eingeschränkte Sicht der Frau folgt. Die Schlusspointe lässt sich hierbei nicht allein mit Genettes Konzept der Fokalisierung begreifen. Kopf: Angaben zur Universität, Lehrveranstaltung, Name und NUSP, Datum Überschrift Einleitung mit Vorstellung und knapper Inhaltsangabe zum Text und Begründung des Fokusses des Thesenpapiers (Fragestellung) 2 Thesenpapier – Beispiel 1. Nach Genette (1998) liegt eine extradiegetisch-heterogetische Erzählinstanz vor, die Erzählung scheint intern durch die Figur der Frau fokalisiert zu sein. Die eingeschränkte Perspektive der Frau am Fenster führt schließlich zum Mißverständnis des Spiels zwischen dem alten Mann und dem Jungen. Bei genauerer Betrachtung ist die Erzählung jedoch nicht durchgehend intern fokalisiert, der Befund einer Nullfokalisierung wird der Erzählung als Ganzen jedoch auch nicht gerecht. Dies zeigt, dass Genettes auf Wissen und Wahrnehmung begrenzter Begriff der Fokalisierung der Komplexität der Erzählperspektive im Fenster-Theater nicht gerecht wird. 2. Wolf Schmids (2005) differenziertes Modell der Perspektivierung erlaubt dagegen, das Spiel der Perspektiven im Text genauer zu beschreiben: Es liegt eine distributive Perspektive vor: perzeptiv, räumlich und zeitlich ist die Erzählperspektive figural angelegt und weitgehend an die Figur der Frau gebunden. Die ideologische und sprachliche Perspektive sind dagegen narratorial eingestellt, was sich schon zu Beginn bei der Charakterisierung der Frau zeigt („Die Frau hatte den starren Blick neugieriger Leute, die unersättlich sind.“ (Zeilen 2-3). 3. Hinsichtlich der Perzeption liegt kurzzeitig ein Wechsel vor: Der Anruf der Frau wird figural aus Sicht der Polizei dargestellt („Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen.“ Zeile 28 f.), der Polizeieinsatz erscheint durch diese Wahrnehmung motiviert, die Frau erscheint in diesem Moment noch als die Verantwortliche für den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz. Aufeinander aufbauende, nummerierte Thesen 2 Thesenpapier – Beispiel 4. Diese Wertung wird jedoch durch die sprachliche Perspektive ergänzt, wie die Parallelisierung des Eindringens der Polizei mit einem Einbruch zeigt („Überfallauto“ (Zeile 28), „Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte.“ (Zeile 38-39). Auch der Schlusssatz, dass der Junge den Wachleuten das zwischen ihm und dem alten Mann getauschte Lachen „mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht“ wirft, kann als narratoriale Bewertung des Polizeieinsatzes gelesen werden. 5. Die Frau und die Polizei erscheinen somit als eine Einheit, denn die vorschnelle Reaktion der Frau löst gleichsam eine Überreaktion der Polizei aus. Die schaulustige Menge folgt wiederum dem Verhaltensmuster der nach Sensation heischenden Frau. Das Spiel zwischen dem Kind und dem Alten kontrastiert somit mit einer totalitär geprägten Umwelt, die diese menschliche Form der Kommunikation als abnorm wertet, denunziert und sanktioniert, wogegen die Kurzgeschichte trotz ihres offenen Endes in ihrer Schlusspointe (vgl. Faure-Godbert 2009) klar Stellung bezieht, indem sie der gesellschaftliche Realität von Ressentiment, Sensationslust und Ordnungsdenken die kommunikativen Möglichkeiten von Spiel und Theater gegenüberstellt. Bibliografische Angaben: Sylvaine Faure-Godbert: "Vom Ende her und auf das Ende hin erzählen": Die Poetik des Endes im Erzählband Der Gefesselte von Ilse Aichinger. In: Ingeborg Rabenstein-Michel, Françoise Rétif, Erika Tunner (Ed.): Ilse Aichinger: Misstrauen als Engagement? Würzburg: Könighausen&Neumann, 2009, S. 99-108. Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink, 1998. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin: De Gruyter, 2005. Von der Textanalyse zur Interpretation Literaturangaben – so wie in den Thesen referenziert (einheitliches Format: DIN1501, MLA, ABNT) 2 Thesenpapier – sprachliche Mittel Referenzen Erklären Nach XY (20XY)… xxx bedeutet,… Laut… , d. h. (das heißt) XY (20XY) zufolge… xx lässt sich als … erklären XY (20XY) folgend… Dies zeigt,… Wie auch XY (20XY) feststellt, … Schlussfolgerungen Abwägen daher, deshalb, deswegen, aus diesem Grund Einserseits…, andererseits also, folglich, somit Während…, …. Schließlich Auf der anderen Seite… Einschränkungen / Einräumungen Zur Interpretation überleiten allerdings, jedoch, aber, trotzdem xx lässt sich somit als … interpretieren Obwohl…, … xx lässt sich somit als … werten Auch wenn…,… xx legt somit die folgende Deutung nahe: Wengleich Argument verstärken wiederum außerdem, desweiteren Sprachliche Mittel des Argumentierens verwenden! Konnektoren! Unpersönliche Ausdrücke statt „ich“: *Ich meine daher Dies legt nahe, dass 2 Thesenpapier – Bewertung Einleitung mit Inhaltsangabe – 1 Zielführende Auswahl und Anwendung geeigneter erzähltheoretische Konzepte – 3 Sinnvoller Interpretationsansatz – 2 Wissenschaftliche Literatur und Bibliografie – 1 Form des Thesenpapiers– 1 Anwendung sprachlicher Mittel – 1 Sprachliche Richtigkeit und Selbstständigkeit – 1 🡺 Note / 10 Bitte selbsttständig formulieren und Korrektur lesen Punktabzug bei offensichtlicher Nutzung von Translator-Programmen 3 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Und während er, in ein Leintuch gehüllt, abwechselnd an beiden Fenstern erschien, unterschied sie schon drei Gassen weiter über dem Geklingel der Straßenbahnen und dem gedämpften Lärm der Stadt das Hupen des Überfallautos. Denn ihre Erklärung hatte nicht sehr klar und ihre Stimme erregt geklungen. Der alte Mann lachte jetzt, so daß sich sein Gesicht in tiefe Falten legte, streifte dann mit einer vagen Gebärde darüber, wurde ernst, schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten und warf es dann hinüber. Erst als der Wagen schon um die Ecke bog, gelang es der Frau, sich von seinem Anblick loßzureißen. Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstim¬mig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. • Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. • Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Wechsel der figuralen Einstellung Sprache: narratorial 3 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Sie kam atemlos unten an. Eine Menschenmenge hatte sich um den Polizeiwagen gesammelt. Die Polizisten waren abgesprungen, und die Menge kam hinter ihnen und der Frau her. Sobald man die Leute zu verscheuchen suchte, erklärten sie einstimmig, in diesem Haus zu wohnen. Einige davon kamen bis zum letzten Stock mit. Von den Stufen beobachteten sie, wie die Männer, nachdem ihr Klopfen vergeblich blieb und die Glocke allem Anschein nach nicht funktionierte, die Tür aufbrachen. Sie arbeiteten schnell und mit einer Sicherheit, von der jeder Einbrecher lernen konnte. Auch in dem Vorraum, dessen Fenster auf den Hof sahen, zögerten sie nicht eine Sekunde. Zwei von ihnen zogen die Stiefel aus und schlichen um die Ecke. Es war inzwischen finster geworden. Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. • Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. • Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Wechsel der figuralen Einstellung 3 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Sie stießen an einen Kleiderständer, gewahrten den Lichtschein am Ende des schmalen Ganges und gingen ihm nach. Die Frau schlich hinter ihnen her. Als die Tür aufflog, stand der alte Mann mit dem Rücken zu ihnen gewandt noch immer am Fenster. Er hielt ein großes weißes Kissen auf dem Kopf, das er immer wieder abnahm, als bedeutete er jemandem, daß er schlafen wolle. Den Teppich, den er vom Boden genommen hatte, trug er um die Schultern. Da er schwerhörig war, wandte er sich auch nicht um, als die Männer schon knapp hinter ihm standen und die Frau über ihn hinweg in ihr eigenes finsteres Fenster sah. Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. 3 Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater (1949) Die Werkstatt unterhalb war, wie sie angenommen hatte, geschlossen. Aber in die Wohnung oberhalb mußte eine neue Partei eingezogen sein. An eines der erleuchteten Fenster war ein Gitterbett geschoben, in dem aufrecht ein kleiner Knabe stand. Auch er trug sein Kissen auf dem Kopf und die Bettdecke um die Schultern. Er sprang und winkte herüber und krähte vor Jubel. Er lachte, strich mit der Hand über das Gesicht, wurde ernst und schien das Lachen eine Sekunde lang in der hohlen Hand zu halten. Dann warf er es mit aller Kraft den Wachleuten ins Gesicht. Narratoriale Wertung 4 Figurenanalyse Dt.: Figur (Iat.figura: Form, Gestalt), von fingere (vortäuschen, erdichten) Engl.: character, (gr. kharakter: Kennzeichen, von kharcissein: einritzen, prägen) Figur ≠ P erson 4 Figurenanalyse Figuren als mentale Modelle, die in der narrativen Kommunikation aufgebaut und verändert werden und konzeptuelle Einheiten, deren Zustand / Merkmalsstatus vom (Modell-)Leser erinnert werden muss. Figurenbegriff nach Jannidis 2004 Figur als rhetorisches Phänomen: textgeneriertes, prototypisch organisiertes Konzept Figur als mentale Repräsentation eines empirischen Lesers: Weltwissen + Informationsverarbeitung 4 Figurenanalyse – Charakterisierung 4 Figurenanalyse – Charakterisierung 1. Eruierung aus dem Erzähltext (telling, nicht-diegetisch, explizite Informationen): • durch die Erzählinstanz vermittelte Informationen und Wertungen zum Äußeren (Physiognomie, Kleidung, Name), zu mentalen und charakterlichen Eigenschaften 2. Eruierung aus dem Erzählten (showing, diegetisch, implizite Informationen):• Sprachliche Äußerungen der Figur (Sprache und Inhalte) • Handlungen der Figur (Motivation, Ausführung) • Äußerungen anderer Figuren über die Figur • Beziehungen zu anderen Figuren,Interaktion mit anderen Figuren 4 Figurenanalyse – Charakterisierung 3. Kontextuelle Informationen • soziale, kulturelle, historische Zusammenhänge 4. Referenz zu Figurenmodellen / Figurentypen, • z.B. Junggeselle; Künstler; femme fatale) Intertextuelle Referenzen • Bezug zu literarischen oder historischen Figuren 4 Figurenanalyse – Figurenkonstellation Genrespezifische Figurenrollen: Wird die Anlage und Verteilung der Rollen unter den Figuren von Genrekonventionen bestimmt? Figurenkonstellationen: Gibt es systematische Beziehungen zwischen den Figuren in der Erzählung wie z.B. Oppositionen, Dualismen, Parallelismen, Ähnlichkeiten oder Negationen? 1 Welche Typen repräsentieren die Figuren des Onkels, der Mutter und der Erzählerfigur? 2 Wie wird die Figur des Onkels charakterisiert? 3 Was ist das Thema der Geschichte? 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Mein Onkel Fred ist der einzige Mensch, der mir die Erinnerung an die Jahre nach 1945 erträglich macht. Er kam an einem Sommernachmittag aus dem Krieg heim, schmucklos gekleidet, als einzigen Besitz eine Blechbüchse an einer Schnur um den Hals tragend sowie beschwert durch das unerhebliche Gewicht einiger Kippen, die er sorgfältig in einer kleinen Dose aufbewahrte. Er umarmte meine Mutter, küsste meine Schwester und mich, murmelte die Worte «Brot, Schlaf, Tabak» und rollte sich auf unser Familiensofa, und so entsinne ich mich seiner als eines Menschen, der bedeutend länger war als unser Sofa, ein Umstand, der ihn zwang, seine Beine entweder anzuwinkeln oder sie einfach überhängen zu lassen. Beide Möglichkeiten veranlassten ihn, sich wütend über das Geschlecht unserer Großeltern auszulassen, dem wir die Anschaffung dieses wertvollen Möbelstückes verdankten. Er nannte diese biedere Generation muffig und pyknisch, verachtete ihren Geschmack für jenes säuerliche Rosa des Stoffes, mit dem das Sofa überzogen war, fühlte sich aber keineswegs gehindert, einem sehr ausgiebigen Schlaf zu frönen. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Ich selbst übte damals eine undankbare Funktion in unserer unbescholtenen Familie aus: ich war vierzehn Jahre alt und das einzige Bindeglied zu jener denkwürdigen Institution, die wir Schwarzmarkt nannten. Mein Vater war gefallen, meine Mutter bezog eine winzige Pension, und so bestand meine Aufgabe darin, fast täglich kleinere Teile unseres geretteten Besitzes zu verscheuern oder sie gegen Brot, Kohle und Tabak zu tauschen. Die Kohle war damals Anlass zu erheblichen Verletzungen des Eigentumsbegriffes, die man heute mit dem harten Wort Diebstahl bezeichnen muss. So ging ich fast täglich zum Diebstahl oder Verscheuern aus, und meine Mutter, obwohl ihr die Notwendigkeit solch anrüchigen Tuns einleuchtete, sah mich morgens nur mit Tränen in den Augen meinen komplizierten Pflichten entgegengehen. So hatte ich die Aufgabe, ein Kopfkissen zu Brot, eine Sammeltasse zu Grieß oder drei Bände Gustav Freytag zu fünfzig Gramm Kaffee zu machen, Aufgaben, denen ich zwar mit sportlichem Eifer, aber nicht ganz ohne Erbitterung und Angst oblag. Denn die Wertbegriffe, so nannten es die Erwachsenen damals, waren erheblich verschoben und ich kam hin und wieder unberechtigterweise in den Verdacht der Unehrlichkeit, weil der Wert eines zu verscheuernden Objektes keineswegs dem entsprach, den meine Mutter für angemessen hielt. Es war schon eine bittere Aufgabe, als Vermittler zwischen zwei Wertwelten zu stehen, die sich inzwischen angeglichen zu haben scheinen. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Onkel Freds Ankunft weckte in uns allen die Erwartung starker männlicher Hilfe. Aber zunächst enttäuschte er uns. Schon vom ersten Tag an erfüllte mich sein Appetit mit großer Sorge, und als ich diese meiner Mutter ohne Zögern mitteilte, bat sie mich, ihn erst einmal «zu sich kommen zu lassen». Es dauerte fast acht Wochen, ehe er zu sich kam. Trotz aller Flüche über das unzulängliche Sofa schlief er dort recht gut, verbrachte den Tag dösend oder indem er uns mit leidender Stimme erklärte, welche Stellung er im Schlaf bevorzuge. Ich glaube, es war die Stellung eines Sprinters vor dem Start, die er damals allen anderen vorzog. Er liebte es, nach dem Essen auf dem Rücken liegend, mit angezogenen Beinen, ein großes Stück Brot genussvoll in sich hineinzubröckeln, dann eine Zigarette zu drehen und dem Abendessen entgegenzuschlafen. Er war sehr groß und blass und hatte am Kinn eine kranzförmige Narbe, die seinem Gesicht etwas von einem angeschlagenen Marmordenkmal gab. Obwohl mich sein Appetit und sein Schlafbedürfnis weiterhin beunruhigten, mochte ich ihn sehr gern. Er war der einzige, mit dem ich wenigstens über den Schwarzmarkt theoretisieren konnte, ohne Streit zu bekommen. Offenbar war er über das Zerwürfnis zwischen den beiden Wertwelten informiert. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Unserem Drängen, vom Krieg zu erzählen, gab er nie nach: er behauptete, es lohne sich nicht. Er beschränkte sich darauf, uns hin und wieder von seiner Musterung zu berichten, die offenbar überwiegend darin bestanden hatte, dass ein uniformierter Mensch Onkel Fred mit heftiger Stimme aufgefordert hatte, in ein Reagenzglas zu urinieren, eine Aufforderung, der Onkel Fred nicht gleich hatte nachkommen können, womit seine militärische Laufbahn von vornherein unter einem ungünstigen Zeichen stand. Er behauptete, dass das lebhafte Interesse des Deutschen Reiches für seinen Urin ihn mit erheblichem Misstrauen erfüllt habe, mit einem Misstrauen, das er in sechs Jahren Krieg bedenklich bestätigt fand. Er war früher Buchhalter gewesen, und als die ersten vier Wochen auf unserem Sofa vorüber waren, forderte meine Mutter ihn mit schwesterlicher Sanftmut auf, sich nach seiner alten Firma zu erkundigen er gab diese Aufforderung behutsam an mich weiter, aber alles, was ich ermitteln konnte, war ein absoluter Trümmerhaufen von zirka acht Meter Höhe, den ich nach einstündiger mühsamer Pilgerschaft in einem zerstörten Stadtteil auffand. Onkel Fred war über das Ergebnis meiner Ermittlung sehr beruhigt. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Er lehnte sich zurück, drehte sich eine Zigarette, nickte meiner Mutter triumphierend zu und bat sie, seine Habseligkeiten herauszusuchen. In einer Ecke unseres Schlafraumes fand sich eine sorgfältig vernagelte Kiste, die wir unter großer Spannung mit Hammer und Zange öffneten; es kamen heraus: zwanzig Romane mittleren Umfangs und mittlerer Qualität, eine goldene Taschenuhr, verstaubt aber unbeschädigt, zwei Paar Hosenträger, einige Notizbücher, das Diplom der Handelskammer und ein Sparkassenbuch über zwölfhundert Mark. Das Sparkassenbuch wurde mir zum Abholen des Geldes, alles andere zum Verscheuern übergeben, einschließlich des Diploms von der Handelskammer, das aber keinen Abnehmer fand, weil Onkel Freds Name mit schwarzer Tusche geschrieben war. So waren wir vier Wochen jegliche Sorge um Brot, Tabak und Kohlen los, ein Umstand, den ich sehr erleichternd fand, zumal alle Schulen wieder einladend ihre Tore öffneten und ich aufgefordert wurde, meine Bildung zu vervollständigen. Noch heute, wo meine Bildung längst komplett ist, bewahre ich den Suppen, die es damals gab, eine zärtliche Erinnerung, vor allem, weil man fast kampflos zu dieser zusätzlichen Mahlzeit kam, die dem gesamten Bildungswesen eine erfreuliche zeitgemäße Note gab. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Aber das Ereignis in dieser Zeit war die Tatsache, dass Onkel Fred gut acht Wochen nach seiner erfreulichen Heimkehr die Initiative ergriff. Er erhob sich an einem Spätsommertag morgens von seinem Sofa, rasierte sich so umständlich, dass wir erschraken, verlangtesaubere Wäsche, lieh sich mein Fahrrad und verschwand. Seine späte Heimkehr stand unter dem Zeichen großen Lärms und eines heftigen Weingeruchs: der Weingeruch entströmte dem Mund meines Onkels, der Lärm rührte von einem halben Dutzend Zinkeimern, die er mit einem großen Seil zusammengebunden hatte. Unsere Verwirrung legte sich erst, als wir erfuhren, dass er entschlossen sei, den Blumenhandel in unserer arg zerstörten Stadt zum Leben zu erwecken. Meine Mutter, voller Misstrauen gegen diese neue Idee, verwarf den Plan und behauptete, für Blumen bestehe kein Bedürfnis. Aber sie täuschte sich. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Es war ein denkwürdiger Morgen, als wir Onkel Fred halfen, die frischgefüllten Eimer an die Straßenbahnhaltestelle zu bringen, wo er sein Geschäft startete. Und ich habe den Anblick der gelben und roten Tulpen, der feuchten Nelken noch heute im Gedächtnis und werde nie vergessen, wie schön er aussah, als er inmitten der grauen Gestalten und der Trümmerhaufen stand und mit schallender Stimme anfing zu rufen: «Blumen ohne!» Über die Entwicklung seines Geschäftes brauche ich nichts zu sagen: sie war kometenhaft. Schon nach vier Wochen war er Besitzer von drei Dutzend Zinkeimern, Inhaber zweier Filialen, und einen Monat später war er Steuerzahler. Die ganze Stadt schien mir verändert: an vielen Ecken tauchten nun Blumenstände auf, der Bedarf war nicht zu decken; immer mehr Zinkeimer wurden angeschafft, Bretterbuden errichtet und Karren zusammengezimmert. 5 Heinrich Böll: Mein Onkel Fred (1952) Jedenfalls waren wir nicht nur dauernd mit frischen Blumen, sondern auch mit Brot und Kohlen versehen, und ich konnte meine Vermittlertätigkeit niederlegen, eine Tatsache, die viel zu meiner moralischen Festigung beigetragen hat. Onkel Fred ist längst ein gemachter Mann: seine Filialen blühen immer noch, er hat ein Auto, und ich bin als sein Erbe vorgesehen und habe den Auftrag, Volkswirtschaft zu studieren, um die steuerliche Betreuung des Unternehmens schon vor Antritt der Erbschaft übernehmen zu können. Wenn ich ihn heute sehe, einen massigen Menschen am Steuer seines rotlackierten Wagens, kommt es mir merkwürdig vor, dass es wirklich eine Zeit in meinem Leben gab, in der mir sein Appetit schlaflose Nächte bereitete.