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Full Terms & Conditions of access and use can be found at http://www.tandfonline.com/action/journalInformation?journalCode=yogs20 Download by: [Monash University Library] Date: 02 July 2016, At: 09:35 Oxford German Studies ISSN: 0078-7191 (Print) 1745-9214 (Online) Journal homepage: http://www.tandfonline.com/loi/yogs20 ‘Figurate dicta elucidare’. Notkers des Deutschen Martian-Übersetzung im Spannungsfeld von Dichtkunst und Artes-Lehre Michael Stolz To cite this article: Michael Stolz (1995) ‘Figurate dicta elucidare’. Notkers des Deutschen Martian-Übersetzung im Spannungsfeld von Dichtkunst und Artes-Lehre, Oxford German Studies, 24:1, 1-14, DOI: 10.1179/ogs.1995.24.1.1 To link to this article: http://dx.doi.org/10.1179/ogs.1995.24.1.1 Published online: 19 Jul 2013. 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Galler Monchs und Magisters Notker Labeo (t 1022) gilt zu Recht als eine Meisterleistung, da hier grundlegende Texte der antik-christlichen Kulturtradition vom Lateinischen in das sprachlich ungelenke Medium des Althoch- deutschen iibertragen und zugleich kommentierend erHiutert werden.1 Notkers in den Dezennien urn das Jahr 1000 angefertigte Uber- setzungen bewegen sich im profanen wie auch im theologischen Bereich. Sie beinhalten unter anderem die Consolatio philosophice des Boethius, femer dessen Bearbeitungen von Aristoteles' Schriften Kar:1Jyop(az und lIepi ePJ.l7Jvei'a,. Innerhalb der geistlichen Literatur ragt die Ubertragung des gesamten Psalters hervor. Hinzu treten deutsche Traktate aus dem Gebiet der Sieben Freien Kiinste sowie eine Teil- Ubersetzung von Martianus Capellas allegorischem Artes-Lehrbuch De nuptiis Philologice et Mercurii. Das auf antiken Erziehungsidealen basierende Bildungssystem der Sieben Freien Kiinste (septem artes liberales? dient im friihen Mittelalter als Grundlage des theologischen Studiums. Der Dreiweg sprachlicher Disziplinen (Trivium: Grammatik, Dialektik, Rhetorik) sowie der Vierweg mathematischer Facher (Quadrivium: Arithmetik, Geo- metrie, Musik, Astronomie) sollen die Voraussetzung fUr ein 1 V gI. Ernst Hellgardt, 'Notker Teutonicus. Uberlegungen zurn Stand der Forschung', PBB 108 (1986), S. 190-205, PBB 109 (1987), S. 202-21; Stefan Sonderegger, 'Notker III. von S1. Gallen', in 2VL 6 (1987), S. 1212·36. 2 Vgl. L. Hod}, 'Artes liberales', in Lexikon des Mitte/alters 1 (1980), S. 1058·62. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 2 Michael Stolz angemessenes Verstiindnis der Bibel schaffen. Auch Notker teilt diese von den Kirchenvatem begriindete Auffassung. Motivation flir seine Ubersetzungstiitigkeit diirften padagogische Zwecke innerhalb der St. Galler Klosterschule gewesen sein: 'Teutonice propter caritatem discipulorum' ('deutsch seinen Schiilem zuliebe'), wie es Ekkehard IV., ein Schiiler Notkers, formulierte.3 Die folgenden Ausfiihrungen beschaftigen sich mit Notkers Verdeutschung des Martianus Capella unter einem neuen, von der Forschung bislang unberiicksichtigten Blickwinkel: Sie behandeln das in der Ubertragung aufscheinende Spannungsverhaltnis von allegorischer Dichtkunst einerseits und Artes-Lehrstoff andererseits. Hierbei spielen Aspekte der didaktischen Vermittlung von Artes- Wissen eine entscheidende Rolle - Aspekte eines klosterlichen Lehrbetriebs, der im Grenzbereich von Latein und Volkssprache, von Schriftlichkeit und Miindlichkeit angesiedelt ist. Notkers lateinische Vorlage De nuptiis Philologite et Mercurii ist zwischen 410 und 439 n. Chr. entstanden. Der spatantike Autor Martianus Capella pdisentiert in diesem Kompendium Artes- Wissen im Gewand einer dichterischen Allegorie: Die beiden einleitenden Bucher erzahlen von der Verlobung und Hochzeit zwischen dem Gatt Merkur und dem Madchen Philologia. Ais Brautgeschenk erhalt Philologia von Merkur sieben Dienerinnen - Personifikationen der Sieben Freien Kunste.4 GemaB der bis ins Hochmittelalter vorherr- schenden Interpretation steht die Hochzeit Merkurs mit der Philologie flir die Verbindung von Beredsamkeit und Weisheit. 5 Die bei Martian auf den allegorischen Vorspann folgenden 3 Der Liber Benedictionum Ekkeharts IV. nebst den kleineren Dichtungen aus dem Codex Sangallensis 393, zum ersten Mal vollstandig hg. u. erIev. Johannes EgIi, St. Gallen 1909, 230, Z. 62, Anm. 6 (Glosse). 4 MaBgebliche Ausgabe jetzt: Marnanus Capella, hg. v. James Willis, Leipzig 1983. Vgl. dazu: William H. Stahl, Martianus Capella and the Seven Liberal Arts, 2 Bde., New York 1971-77. 5 Vgl. Gabriel Nuchelmans, 'Philologia et son mariage avec Mercure jusqu' a la fin du xue siec1e', Latomus 16 (1957), S. 84-107, hier 92-96. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 'Figurate dicta elucidare' 3 Bucher sind den Lehrgegenstanden der einzelnen septem artes liberales gewidmet. Notkers Dbersetzung hingegen umfaBt lediglich die ersten beiden Bucher des Kompendiums, welche oft gesondert iiberliefert sind und in der breiten handschriftlichen Tradition des Textes seit der Karolinger-Zeit ein Eigenleben fiihren.6 Die Uber- tragung beschriinkt sich damit auf die allegorische Rahmenhandlung, wahrend die restlichen sieben Biicher Martians ausgeblendet bleiben. Diese Unterschlagung impliziert freilich nicht, daB Notker damit den Artes-Lehrstoff prinzipiell ausgrenzt. Vielmehr beinhaltet die kommentierende Ubersetzung eine wahre Fiille von fachwissen- schaftlichen ErHiuterungen, die zur allegorischen narratio der lateinischen Vorlage hinzutreten und thematisch den verbleibenden sieben Biichem des Originals entsprechen. Notkers Text ist in einer einzigen S1.Galler Handschrift des 11. Jahrhunderts iiberliefert (St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 872, S. 2- 170) und liegt seit 1979 in einer von James C. King herausgegeben Neuedition vor.?Wie der von King beigefiigte Begleitband8 offenbart, basieren Notkers erganzende Ausfiihrungen auf einer Vielzahl von Quellentexten: An erster Stelle stehen Marti an-Kommentatoren des 9. Jahrhunderts wie Remigius von Auxerre; hinzu kommen latei- nische Artes-Lehrbiicher und einige von Notkers eigenen Schriften. Notker bietet Martians lateinischen Text zusammen mit der deutschen Kommentar-Ubertragung. Er ubersetzt dabei satzteil- bis abschnittweise, so daB sich in der Handschrift lateinische und deutsche Textpassagen abwechseln: Nacheinander stehen die alle- gorische Handlung der lateinischen Vorlage, defen deutsche 6 So z.B. in der Privatbibliothek des St. Galler Abts Hartmut (t urn 896) als 'Martiani de nuptiis Mercurii et Philologire libri II'. Vgl. Mittelalterliehe Bibliothekskataloge Deutsehlands und der Sehweiz, Bd. 1: Die Bistiimer Konstanz und Chur, bearb. v. Paul Lehmann, Munchen 1918, S. 86 f. 7 Notker der Deutsche, Martianus Capella, De nuptiis Philologice et Mereurii, hg. v. James C. King, Tiibingen 1979 (Die Werke Notkers des Deutschen 4; ATB 87). 8 Notker der Deutsche, Notker latinus zum Martianus Capella, hg. v. James C. King, Tiibingen 1986 (Die Werke Notkers des Deutschen 4A; ATB 98). D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 4 Michael Stolz Ubersetzung sowie anschlieBend die volkssprachlichen ErUiuterungen zur Artes-Lehre.9Die sprachlichen Anteile von Latein und Althoch- deutsch werden damit inhaltlich wie foIgt funktionalisiert: Der fiktive Stoff von Martians Rahmenerzahlung ist gleichmaBig auf den lateinischen Ausgangstext und dessen deutsche Ubersetzung verteilt. Der Bereich Artes- Wissen hingegen tritt - gewissermaBen ais Uberhang - zur allegorischen Handlung hinzu und bleibt mit seinen fachspezifischen ErHiuterungen der Volkssprache vorbehalten. Auf diese Weise besteht eine Korrelation zwischen dem sprachlichen Nebeneinander von Latein und Althochdeutsch sowie der Koexistenz von Dichtkunst und Artes- Wissen. Das Prinzip dieser Begegnung zwischen Dichtung und Wissenschaft ist vorgepragt bei Martian. Am Beginn des dritten Buchs betont der fiktive Autor, er wolle nun die allegorische Sprech- weise zugunsten niichtemer, fachbezogener Wahrheiten aufgeben. Doch seine Muse belehrt ihn eines Besseren und erkHirt, daB ohne dichterische Bildhaftigkeit wissenschaftliche Sachverhalte nicht darstellbar seien: 'ni figminis figura / nil posse comparari' - lautet ihre Devise.tO Die nachfolgenden Ausfiihrungen zur Grammatik sind denn auch wiederholt mit dichterischen Elementen angereichert. Bei Notker wird dieses Zusammentreffen von Dichtkunst und Artes-Wissen vollends in der sprachlichen Disposition offenbar: Hier der fiktive Stoff von Martians Rahmenerzahlung, pdisent im lateinischen Text und seiner deutschen Ubersetzung; dort die fach- spezifischen Erlauterungen, beschrankt auf die Volkssprache. Dieses iibersetzerische Verfahren wird in Notkers beriihmtem Brief an Bischof Hugo von Sitten deutlich artikuliert: Notker betont hier, daB er bestrebt war, lateinische Schriften in die eigene Volkssprache zu 9ygI. zum Verfahren auch Peter Ganz, 'Der Sonnenhymnus des Martianus Capella .bei Notker von St. Gallen', in Geistliehe Denkformen in der Literatur des Mittelalters, hg. v. Klaus Grubmiiller u.a., Miinchen 1984 (MMS 51), S. 139-53, bier 143; Rita Copeland, Rhetoric, Hermeneutics, and Translation in the Middle Ages. Academic Traditions and Vernacular Texts, Cambridge 1991, S. 99-103. l conatus s(u)m vertere et syllogistice aut figurate aut suasorie dicta [...] elucidare'.l1 'Figurate dicta elucidare' ('bildhaft-iibertragene Aussagen erHiutem,).12Diese Wendung ist im Zusammenhang mit Martian von Interesse, denn sie klingt wie ein Echo auf die Formel 'figminis figura' im dritten Buch von De nuptiis. Dichterische Bildhaftigkeit, fiir Martian ein notwendiges Mittel zur Darstellung von Artes- Lehrstoff, gibt dem Ubersetzer Notker AnlaB zu ErUiuterungen in der Volkssprache. Die fiktive Einkleidung von Artes-Wissen, wie sie Martian vomimmt, wird durch Notkers kommentierende Ubersetzung auf fachspezifische Gegebenheiten zuriickgefiihrt. In der Tat UiBtsich erkennen, daB Notker einpragsame, ja sogar drastische Sinnbilder und Mythologeme des Ausgangstextes als Vehikel zur Veranschaulichung von Artes-Lehrstoff benutzt. Dieses methodische Vorgehen ist beispielhaft an zwei ausge- wahlten Passagen zu beobachten, die im folgenden vorzustellen sind: Am Ende des zweiten Buchs (TI,135-139) schildem Martian und sein Ubersetzer Notker, wie Philologia g5ttliche Unsterblichkeit erlangt und zur Hochzeit mit Merkur in den Himmel auffahrt. Ehe sie die Himmelsreise antreten kann, muB sie sich von aHem irdischen llZit. nach: Ernst Hellgardt, 'Notkers des Deutschen Brief an Bischof Hugo von Sitten', in Befund und Deutung. Zum Verhiiltnis von Empirie und Interpretation in Sprach- und Literatunvissenschaft. Festschrift flir Hans Fromm, hg. v. Klaus Grubmiiller u.a., Tiibingen 1979, S. 169-92, hier 172, Z. 15-17. l~er Tenninusfigura wird in Antike und Mittel alter haufig im Sinne einer bildhaft- iibertragenen Ausdrucksweise gebraucht und iiberschneidet sich folglich mit der Bezeichnung tropus. Bereits QuintiIian, Institutio oratoria, IX, 1,1-3, beklagt diese begriffliche Unscharfe. Das Adjektiv figuratus begegnet in entsprechender Be- deutung auch bei Notker, der in seinem Traktat De arte rhetorica, Kap. 52, von einer 'figurata locutio per similitudinem' spricht: 'figurata commendat se etiam uenustate compositionis artificio~. aut signification is aIien~' (Die Schriften Notkers und seiner Schule, hg. v. Paul Piper, Bd. 1: Sehriften philosophisehen Inhalts, Freiburg i. Br.l Ttibingen 1882, S. 673). D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 6 Michael Stolz Wissen reinigen nnd speit deshalb eine Vielzahl von Biichern aus (ed. King, S. 124-128). Gleich einem Weisheitsquell ergieBen sich aus Philologias Mund Codices mit Schriftzeichen in vielerlei Sprachen (S. 124, Z. 12-14). Ausfiihrlich wird die rnaterielle Beschaffenheit der Bande geschildert: Es handelt sich urn Biicher aus Papyrus, bestri- chen mit Zedemharz; manche haben wertvolle Einbande aus Leinen; andere sind aus Pergament, einige wenige aus Lindenbast (S. 124, z. 21,-8. 125, Z. 6). Die Bucher werden von einer Schar junger Madchen aufgelesen, den personifizierten Wissenschaften: 'artes' und 'disciplin~' bei Martian (S. 125, Z. 21), 'liste unde limunga' bei Notker (S. 126, Z. 2). Auch zwei Vertreterinnen der Musen beteiligen sich am Auf- klauben der Codices: Urania und Calliope. In der Kommentar- tradition des 9. Jahrhunderts gilt Urania aIs die Muse der ctelestis musica, Calliope als die Muse der artificialis musica.13 GernaB dieser Auffassung bezeichnet Notker Urania aIs die 'natiirlicha in hfmele' (S. 126, Z. 5 f.), Calliope als die 'erdaIlta in erdo' (S. 126, Z. 6). Die von beiden Musen gesammelten Bucher veranlassen den Ubersetzer Notker zu volkssprachlichen Ausfiihrungen iiber Musik, Astronomie und Geometrie. So enthalten einige Codices musikalische Notationen auf iiber- groBen Diagrammen, namlich 'pagin~. distinct~ ad tonum. ac deduct~' - nach Martian, 'pagin~. aI after tonis keskidote. unde gelangte nab tero geskefte brftero' - in Notkers Ubersetzung (S. 126, Z. 8-10). Martian und Notker beschreiben hier die graphische Darstellung eines musikalischen Schemas.14 Doch geht Notker dabei weiter als seine Iateinische Vorlage. Was im deutschen Text foIgt, hat bei Martian keine Entsprechung mehr: Es ist die exakte Beschreibung eines Diagramms der griechisch-romischen Oktavgattungen (modi), das etwa in zeitgenossischen Handschriften von Boethius' Traktat De 13 Vgl. Notker latin us, ed. King [Anm. 8], S. 187. 14 Vgl. Henry Edward Wickens, Music and Music Theory in the Writings of Notker Labeo, D.Phil. thesis Oxford 1986, S. 445 f. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 'Figurate dicta elucidare' 7 institutione musica erhalten iSt.15 Die einzelnen Oktavgattungen sind dort graphisch wie Leitem dargestellt: 'gernalet [...] also leitera' , so Notker (S. 126, Z. 11). Diese Leitem bestehen aus kleinen Feldem und Strichen - 'feld keskaffeniu. also pagin~. unde briteliu' (S. 126, Z. 11 f.) -, welche die Intervallabstufungen von Tonen und Halb- tonen anzeigen. Legt man diese Skalen iibereinander, so ergibt sich ein Gebilde aus acht Tonleitem, von denen jede die vorhergehende urn eine Sprosse iiberragt: 'Die selben modi uuerdent sament kebil- dot. sarno-so ahto leiterun 6be ein-anderen gel6inet uuerden. unde iogelichiu dia andera fure-skieze eines spr6zen' (S. 126,Z. 13-15). Notker operiert hier didaktisch auBerst geschickt: Er bezieht Martians diffusen Hinweis iiber musikalische Notationen ('pagin~. distinctv ad tonum. ac deduct~') auf den rnusikologischen Gegen- stand der Oktavgattungen, konkretisiert diesen aber zugleich im anschaulichen Bild der Leiter, Stabe und Sprossen.Martians dichte- rische Fiktion miindet bei Notker folglich in eine fachbezogene ErHiuterung, die ihrerseits iiber Mittel der Anschaulichkeit verfiigt. Ein solches iibersetzerisches Verfahren diirfte mit der Wendung 'figurate dicta elucidare' aus dem Brief an den Bischof von Sitten gemeint seineEs ist gut vorstellbar, daB der Lehrmeister Notker dafiir irn Unterricht ein Diagramm beizog, wie es in Handschriften der Zeit iiberliefert ist. Der in Notkers Martian-Ubersetzung folgende Abschnitt ver- fahrt nach demselben Muster. Rier ist nun von weiteren Biichern die Rede, welehe Urania und Calliope auflesen. Emeut stehen dabei Diagramme am Ausgangspunkt fachlicher Erlauterung (S. 126, Z. 15- 20). Die bei Martian ond Notker erwahnten Abbildungen zeigen Kreise, Linien ond Halbkugeln - Gebilde, so Notkers Erganzung, die 'uuir in astronomia sehen' (S. 126, Z. 17 f.); andere enthalten 15 So etwain Codex Einsidlensis 298, S. 131. Vgl. Notker latinus, ed. King [Anm. 8], Abb. neben S. 169; femer das Diagramm bei: Boethius, De institutione arithmetica libri duo. De institutione musica libri quinque, hg. v. Gottfried Friedlein, Leipzig 1867,343, Descriptio II. Zu den Oktavgattungen vgl. Wickens [Anm. 15], S. 399-414. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 8 Michael Stolz mehreckige Figuren - Gebilde, so Notker, die 'uulr in geometria sehen' (S. 126, Z. 19). Diese Entgegensetzung von Geometrie und Astronomie wird in Notkers Kommentar sodann weiter entfaltet. Wah rend Martian an dieser Stelle mit Hinweisen auf die Unter- scheidung von theoremata und elementa recht dunkel bleibt, verweist der althochdeutsche Ubersetzer gemaB der KommentartraditionI6 auf die Gegeniiberstellung von contemplationes und creaturre: 'Pro diuersitate theorematum .i. contemplationum . et elementorum .i. creaturarum' (S. 126, Z. 20 f.). 1m deutschen Text operiert er folge- richtig mit dem Gegensatz der 'mfiot-pildungon [...] in geometria' (S. 126, Z. 22) und der 'natfirlichon geskefto [...] in astronomia' (S. 127, Z. 1). Ein althochdeutscher Reimspruch, vorgebracht im einprag- samen Gleichklang eines Homoioteleuton, macht das VerhaItnis beider Wissenschaften vollends deutlich: Taz in geometria gebildot uulrt. taz sint lfste. daz UUIT sehen in astronomia. daz sint uufste. (S. 127, Z. 1 f.) Geometrie ist die abstrakte, Astronomie die konkrete Wissenschaft. Erstere handelt von geometrischen Figuren - 'Hste', letztere von natiirlichen Dingen - 'uuIste' (namlich Himmelskorpem). Notker rugt einen weiteren Merkspruch mit Homoioteleuta hinzu: Doctrinaliter uuerdent corpora geouget in geometria. naturaliter uuerdent sie geouget in astronomia. (S. 127, Z. 2-4) Das Prinzip Notkerschen Obersetzens tritt in diesem Abschnitt klar vor Augen: Die poetisch-allegorische Vorlage - hier die drastische Szene der von Philologia erbrochenen Bucher - wird in der Verdeutschung fachspezifischen Lehr- und Merksatzen zugefuhrt. Das althochdeutsche Idiom dient dabei der Vermittlung von Artes- Wissen. - Dies zumindest schwerpunktmaBig, da sich in die alt- hochdeutschen Abschnitte - wohl aus sprachlicher Notwendigkeit 16 VgI. Notker latinus, ed. King [Anm. 8], S. 188. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 {Figurate dicta elucidare' 9 -lateinisches Fachvokabular einmischt. Der zweite hier zu analysierende Abschnitt findet sich an einer Stelle, die der Himmelsreise von Philologia vorangeht. Es handelt sich urn Brautgesange der Musen, in denen unter anderem Clio ein Preislied auf die rhetorischen Fahigkeiten der Philologia anstimmt (II, 122). Fiir Notker bietet dieser Auftritt AnlaB zu Exkursen iiber das Trivium (ed. King, S. 112-114). Das von Clio vorgebrachte Lob rhetorischer Kunstfertigkeit untermauert Notker mit Belegen aus Sallusts Bellum Catilinae, nam- lich mit Verweisen auf die beispielhafte Eloquenz der Kontrahenten Caesarund Marcus Portius Cato im Senatorenpalast (S. 112, Z. 9-14). Martians obskurer Vermerk zur Verbindung ungeschliffener oder ehrfurchtsgebietender Aussagen - 'ligans horrida sensa nexibus' (S. 112, Z. 14 f.) - bietet dem Ubersetzer Gelegenheit zur ausfiihrlichen Erlauterung des Syllogismus (S. 112, Z. 15-S. 113, Z. 6). Das Stich- wort 'grammatica regula' in Clios Gesang (S. 113, Z. 11 f.) bedingt Ausfiihrongen iiber Typen grammatischer Fehler auf Wort-, Satz- und Sinnebene: Barbarismen, Solozismen und Amphibolien (S. 113, Z. 12-17). Methodisch folgt Notker hier also denselben didaktischen Prinzipien wie in jenem Abschnitt, der Philologias Lauterung vor der Himmelsreise beschreibt. Eine Besonderheit des vorliegenden Passus besteht allerdings darin, daB Notker zusatzlich zum Vorlagentext und seiner kom- mentierenden Ubersetzung kleine lateinische Einsprengsel anfiigt: 'Suspensio' (S. 112, Z. 8), gefolgt von 'et hic' (S. 112, Z. 12, 15; S. 113, Z. 8, 12, 14, 17) sowie einem abschlieBenden 'Depositio' (S. 113, Z. 19).17 1m Blick auf einen zeitgenossischen St. Galler Grammatiktraktat mit dem Incipit Quomodo VII circumstantie rerum 17 Die Tennini stehen jeweils zwischen dem lateinischen Original und der deutschen Ubertragung: 'Tu qu~ sollers eras c1angere .i. dec1amare rhetorico sirmate [...] Suspensio. Nu do philologia . dil-dir 10 chunnig uuare . dina gesprachi ze ge6ugenne. mft langemo ding-chose. [...] Atque absoluere reum rabido .i. commoto pectore. Et hie. Vnde den sculdigen generen mft prazeligemo muote. [...] Nunc conspice stellata limina polL De po s i ti o. Dil des aIles meistra unz har-auuare. dil far nil. unde sc6uuo dIe gesternoten fnferte. des hfmeles' (ed. King, S. 112 f.). D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 10 Michael Stolz .in legendo ordinande sint18 lassen sieh diese Angaben vorab als syntaktisehe Signale interpretieren: 'Suspensio' steht fur suspensio vocis und markiert das leiehte Anheben der Stimme am Ende eines comma, d.h. am Ende eines nieht sinnabsehlieBenden Satzteils. 'Et hie' bedeutet: suspensio vocis 'auch hier', verlangt also ein neuer- liches Anheben der Stimme anHiBlich eines weiteren comma. 'Depositio' sehlieBlieh steht fUr depositio vocis und bezieht sich auf ein Senken der Stimme am Ende eines colon, d.h. eines fUr sich verstandlichen, sinnabschlieBenden Satzes oder Teilsatzes. Naeh den Notker-Forsehem H. Backes und J.C. King, welehe die syntaktische Funktion der Formeln hervorhoben,19 hat D.H. Green darauf aufmerksam gemaeht, daB die Ausdriieke mit einer mund- lichen Vortragsweise in Zusammenhang stehen.20 Man wird Green insofem Recht geben durfen, als die Termini tatsaehlieh Inflexionen der Stimmh6he anzeigen. Sie scheinen nieht primm- interpungierende Funktion zu haben, da Notker bereits tiber ein ausgefeiltes Inter- punktionssystem verfugt. 21Eine Durchsieht von Notkers Martian- Ubersetzung22 bestatigt, daB die Formeln einerseits dazu dienen, 18 Abdruck bei Piper [Anm. 12], XliI-XLIX; und in The St. Gall Tractate. A Medieval Guide to Rhetorical Syntax, hg. v. Anna A. GrotanslDavid W. Porter, Columbia 1995, S. 44-131. Vgl. dazu Anton Nat', Die Wortstellung in Notkers Consolatio. Untersuchungen zur Syntax und Obersetzungstechnik, BerlinJ New York 1979 (Das Althochdeutsche von S1. Gallen 5), S. 78 f.; Herbert Backes, Die Hochzeit Merkurs und der Philologie. Studien zu Notkers Martian-Obersetzung, Sigmaringen 1982, S. 31-33; GrotanslPorter, S. 23-39. 19 Backes [ADm. 18], S. 39,43 f., 46,56-63; Notker latinus, ed. King [Anm. 8], 14. 20 Dennis H. Green, 'The primary reception of the works of Notker the Gennan' , Parergon, n.s. 2 (1984), S. 57-78; ders., Medieval Listening and Reading. The primary reception of German literature 800-1300, Cambridge 1994, S. 183-86. Allerdings steht suspensio vocis nieht fUrUnterbrechungen oder Pausen im Vortrag, wie Green glauben mach en will. Vgl. jetzt auch GrotanslPorter [Anm. 18], 1, 33 f. 21 Vgl. Backes [Anm. 18], S. 61; Ganz [Anm.9], S. 145. 22 Vgl. die Stellenangaben in Notker latin us, ed. King [Anm. 8], S. 14; Grotansl Porter [Anm. 18], S. 34, Anm. 112. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 'Figurate dicta elucidare' 11 syntaktisch schwierige Perioden zu gliedem. Sie tauchen andererseits aber auch innerhalb weniger kornplexer Satzkonstruktionen auf und haben dort offensichtlich den Zweck, dem jeweiligen Abschnitt das rhetorische Gewicht gesprochener Sprache zu verleihen. Dies gilt etwafiirden Eingang einerRedeJupiters in Buch I (S. 80, Z. 1-7, 17- 22) und ebenso fur den vorliegenden Abschnitt. Das Preislied der Clio ist in seiner syntaktischen Struktur nicht komplexer als jene der iibrigen Musen. Ja, dort ist der Satzbau sogar mitunter schwerer durchschaubar, ohne daB die Gliederungsmittel der suspensio und depositio vocis zum Einsatz kamen. Bei Martian hat das Lied der Clio folgenden syntaktischen Aufbau (ed. Willis, II, 122, S. 36, Z. 10-19): Die Strophe besteht aus zehn kleinen Asklepiadeen, deren Satzteil- und Versenden regel- rnaBig parallel laufen. Es handelt sich urn eine Reihung von elliptischen Relativsatzen mit Partizipial- und Infinitivkonstruk- tionen, die irn achten Vers mit einem Hauptsatz abgeschlossen werden: 'nunc stellata poli conspice limina' ('betrachte jetzt die stemenbesaten Schwellen des Himmels'; S. 36, Z. 17). Notker bietet Martians lateinischen Text bereits in einern bereinigten Satzbau, der den Regeln des ordo naturalis mit Subjekt-Pradikat-Objekt-Stellung folgt.23 So lautet der Hauptsatz hier: 'nunc conspice stellata limina poli' (S. 113, Z. 18 f.). Vnd das rur die Satzkonstruktion wichtige Adjektiv 'sollers', welches bei Martian erst in der siebten Zeile erscheint, findet sich in Notkers Textfassung bereits irn ersten Vers des Gesangs, zusatzlich erganzt dUTchdie Kopula 'eras'; Clios Lied beginnt mer mit den Warten: 'tu que sollers eras clangere ... ' ('du, die geiibt war, Reden vorzutragen ... '; S. 112, Z. 6). Angesichts dieser syntaktischen Vereinfachung fragt es sich, warum Notker die Markierung suppositio vocis, depositio vocis 23 Dies gemaB den Vorgaben des oben, S. 9 f., erwahnten Grammatiktraktats. Dazu Naf [Anm. 18], S. 79-84; Backes [Anm. 18], 34-64; Nikolaus Henkel, Deutsche Ubersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der friihen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, Miinchen/ Zurich 1988 (MTU 90), S. 78-86; GrotanslPorter [Anm. 18], S. 3-23. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 12 Michael Stolz iiberhaupt noch verwendet, wahrend er darauf in den syntaktisch nicht weniger schwierigen Liedem der iibrigen Musen verzichtet. 24 Der SchluB liegt nahe, daB Notker hier einen der Rhetorik ge- widmeten Abschnitt - themenspezifisch - mit Angaben zur rhetorischen Vortragstechnik versieht. Ein solcher Vortrag findet seinen Ort zweifellos im klosterlichen Unterricht, wo der Magister einen mit trivial-rhetorischen Themen befaBten Abschnitt seinerseits mit rhetorischem Gestus vortdigt. Die Aneignung von Martians Vor- lage in Notkers kommentierender Ubersetzung bewegt sich damit nicht nur im Spannunsgfeld von Dichtung und Artes- Wissen, in der Polaritiit von Latein und Volkssprache, sondem auBerdem im Grenz- bereich von Schriftlichkeit und Miindlichkeit, einem Grenzbereich, der fUr das mittelalterliche Unterrichtswesen charakteristisch ist. 25 Notker profiliert sich auf diese Weise gleichermaBen in der Rolle des Ubersetzers wie in jener des Redners. Diese Konzeption aber hat in der antik-christlichen Ubersetzungstheorie Tradition. Sie erscheint bereits in Ciceros Schrift De optimo genere oratotum, wo es urn die Ubertragung griechischer Reden geht. Cicero seinerseits wird zitiert im beriihmten Brief 57 des Kirchenvaters Hieronymus, der dort iiber seine Techniken der lateinischen Bibeliibersetzung Rechenschaft ablegt. Cicero und Hieronymus lehnen iiberein- stimmend Wort-fiir-Wort-Ubertragungen ab und sprechen sich fUr ein sinngemaBes Ubersetzen aus. So lautet das Cicero-Zitat bei Hieronymus: 'nee conuerti ut interpres, sed ut orator, sententiis isdem et earum formis tam quam figuris, uerbis ad nostram consuetudinem aptis' ('Ich iibersetzte nicht 24 Vgl. z.B. den syntaktisch komplexen Abschnitt im Gesang der Polymnia: Verbum 'carpis' mit Akkusativ-Erganzungen, von 'carpis' abhangiger Relativsatz: 'quc:e[...] sueta [...] solita (eras)', 'sueta' und 'solita' erganzt durch Infinitivkonstruktionen, von denen z.T. weitere Nebensatze abhangig sind (ed. Willis [Anm. 4], II, 120, S. 35, Z. 8-17). Ahnlich schwierige Satzkonstruktionen finden sieh aueh in den Liedem der anderen Musen. 25 Vgl. z.B. Klaus Grubmiiller, 'Miindliehkeit, Sehriftlichkeit und Unterrieht. Zur Erforschung ihrerInterferenzen in der Kultur des Mittelalters', in DU 41 (1989), S. 41-54, bes. 49 f. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 'Figurate dicta eLucidare' 13 wie ein Dolmetscher, sondem wie ein Redner, ich bewahrte die Gedanken und ihre Formen wie Bilder,jedoch in einer Sprache, die unserem Gebrauch entspricht').26 Man kann mit dieser an einem Platonischen Formen -Begriff27 orientierten Auffassung auch Notkers Ubersetzungstechnik verstehen lemen: Notker behalt die Ideen, Formen und Bildvorstellungen des Ausgangstextes bei und pragt diese dem Material der Volkssprache auf. Er bewahrt die gedanklichen Bilder seiner Vorlage und iiber- mittelt sie in der kommentierenden Ubertragung den St. Galler Klosterschulem. Auch in diesem Sinne lieBe sich der Satz 'figurate dicta elucidare' aus Notkers Brief deuten. Vorlage und Ubersetzung stehen damit in einem Verhaltnis von Urbild und Abbild: 1m mundlichen Vortrag und der Notkers Unter- richt eigenen Tendenz zur visuellen Veranschaulichung - man denke an das Beispiel der Tonleiter - wird der in Martians Rahmen- handlung dunkel angedeutete Artes- Lehrsto ff sinnlich erfahrbar. Diese Urbild-Abbild-Relation selbst hat im iibrigen bei Martian und Notker auf der Erzahlebene eine auffallige Parallele. In diesem Zusammenhang ist nochmals an die Szene der von Philologia ausgespienen Codices zu erinnem: Einige der Bucher handeln von 26 Sancti Eusebii Hieronymi Epistulae, Bd. 1: Epistulae I-LXX, hg. v. Isidor Hilberg, WienlLeipzig 1910 (CSEL54), S. 503-26, hier 509; 'M. Tulli Ciceronis De optimo genere oratorum', in M. Tulli Ciceronis Rhetorica, Bd. 2, hg. v. A.S. Wilkins, Oxford 1935, S. 4 f. Dazu Copeland [Anm. 9],S. 33,48 f. 27 Es scheint mir angemessen, die Wendung 'formre tamquam figurre' bei Cicero- Hieronymus mit 'Formen wie Bilder' wiederzugeben. Ich fasse den Ausdruck jigurae hier nieht im Sinne von Stilfiguren (etwajigurl£ sententiarum) auf, sondem verstehe fof7n,(£ und jigurl£ als Begriffe in Platonischer Tradition. Diese Interpre- tation UiBtsich stiitzen mit einem Abschnitt aus Ciceros Orator, wo in bezug auf Plato die Tatigkeit des Kiinstlers mit jener des Redners verglichen wird: 'Ut igitur in formis et figuris [sc.: in Skulptur und Malerei] est aliquid perfectum et excellens, euius ad cogitatam speciem imitando referuntur ea qure sub oeulos ipsa non cadunt, sic perfectre eloquentire speciem animo videmus, effigiem auribus qurerimus. has rerom fonnas appelIat ioettc; [...] Plato' (M. Tulli Ciceronis Scripta, Fasc. 5: Orator, hg. v. R. Westman, Leipzig 1980, 3,9110, S. 3). D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6 14 Michael Stolz kosmographisch-zoologischen Themen und sind in einer Art Hieroglyphenschrift geschrieben (S. 125, Z. 8-10): 'Quorum liter~ animantium credebantur effigies' ('ihre Buchstaben sahen wie Bilder von Lebewesen aus'), so Martian. Und Notkers Kommentar-Uber- setzung: 'Tero bfiocho scrifte. ougton dero libhafton bilde. uuanda phisiologia saget de naturis animantium'. Hier ist ebenfalls ein VerhaItnisvon Urbild und Abbild beschrieben, durch das eine Vorlage sinnlich erfahrbar wird. Die Welt wird anschaulich im Medium einer Buchstabenschrift 'dero libhafton bilde'. Demselben Prinzip folgt Notker mit der Aneignung der in Martians allegorischer narratio implizierten Artes-Lehre. Der allego- rische Stoff und seine kommentierende Verdeutschung stehen in einer Relation von Urbild und Abbild, da der Ubersetzer Gedanken und Bildlichkeit seiner Vorlage beibehalt und sie zum Ausgangs- punkt der althochdeutschen Vergegenwartigung von Artes- Wissen macht. Zugleich aber befindet sich die volkssprachliche Vermitt- lungsweise in einem Ahnlichkeitsverhaltnis zur vermittelten Lehre. Wie die Hieroglyphenschrift den Lebewesen ahnelt, so ahnelt - im Gesang der Clio - die rhetorisch akzentuierte Vortragsweise dem rhetorischen Lehrinhalt des Abschnitts, der beispielhaft mit Sallusts Catilina - den mustergilltigen Reden Casars und Catos - zur Sprache kommt. Notker Labeo erweist sich damit als Grenzganger zwischen Dichtung und Wissenschaft, Latein und Volkssprache, als Grenz- ganger zwischen Schriftlichkeit und Miindlichkeit, zwischen wissen- schaftlicher Abstraktheit und konkreter Veranschaulichung. Sein Schiller Ekkehard IV. brachte diese vielschichtige Leistung auf eine pdignante Formel: Notker habe als erster in der Volkssprache geschrieben und sie dabei sinnlich erfahrbar - namlich wohl- schmeckend - gemacht: 'Primus barbaricam scribens faciensque saporam' .28 28Liber Benedictionum [Anm. 3], S. 230, Z. 62. D ow nl oa de d by [ M on as h U ni ve rs ity L ib ra ry ] at 0 9: 35 0 2 Ju ly 2 01 6