Prévia do material em texto
Frank Liedtke / Astrid Tuchen (Hg.)
Handbuch
Pragmatik
XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18
XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18
J. B. Metzler Verlag
Frank Liedtke / Astrid Tuchen (Hg.)
Handbuch Pragmatik
Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-476-04623-9
ISBN 978-3-476-04624-6 (eBook)
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist
urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb
der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über-
setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung
und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Herausgeber
Frank Liedtke ist Professor für Germanistische Linguistik/
Pragmalinguistik an der Universität Leipzig.
Astrid Tuchen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut
für Germanistik der Universität Leipzig.
J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft
Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
(Foto: shutterstock)
J. B. Metzler, Stuttgart
© Springer-Verlag GmbH Deutschland,
ein Teil von Springer Nature, 2018
XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18
Inhalt
Vorwort VII
I Tradition
1 Pragmatische Forschung unter wissenschafts-
geschichtlichem Aspekt Ingolf Max 3
2 Methodologie der Pragmatik Astrid Tuchen 13
II Hauptströmungen der Pragmatik
A Forschungsparadigmen
3 Sprechakttheorie Frank Liedtke 29
4 Gesprächsforschung und Interaktionale
Linguistik Jörg Bücker 41
5 Textlinguistik Kirsten Adamzik 53
6 Pragmatische Zeichentheorie
Sascha Bechmann 65
7 Neo-Gricesche Pragmatik Jörg Meibauer 76
8 Relevance Theory Alison Hall 87
9 Evolutionäre Anthropologie
Susanne Grassmann 96
B Aktuelle Forschungsgebiete
10 Lexikalische Pragmatik Reinhard Blutner 106
11 Experimentelle Pragmatik
Petra B. Schumacher 113
12 Formale Pragmatik Ralf Klabunde 122
13 Historische Pragmatik Andreas H. Jucker 132
14 Intercultural Pragmatics Istvan Kecskes 140
15 Interaktionale Soziolinguistik
Volker Hinnenkamp 149
16 Kritische Diskursanalyse Martin Reisigl 163
III Forschungsthemen
17 Erwerb pragmatischer Fähigkeiten und mögliche
Störungen (im Kindesalter) Cornelia Schulze /
Gerlind Grosse / Markus Spreer 177
18 Deixis und Anapher Rita Finkbeiner 186
19 Conventional implicatures and presupposition
Jacques Moeschler 198
20 Salience and Defaultness Shir Givoni /
Rachel Giora 207
21 Fokus-Hintergrund-Gliederung
Detmer Wulf 214
22 Pragmatischer Standard Sven Staffeldt 223
23 Interjektionen Elisabeth Reber 229
24 Ellipsen Ingo Reich 240
25 Zitat und Zitation Wolfram Bublitz 252
26 Fiktionalität/Narrativität Pamela Steen 263
27 Medialität Jan Georg Schneider 272
28 Höflichkeit Claus Ehrhardt 282
29 Übersetzung Juliane House 293
30 Humor in der Pragmatik Helga Kotthoff 302
31 Gesten Ellen Fricke / Irene Mittelberg 312
32 Expressive meaning Patrícia Amaral 325
33 Lügen Jörg Meibauer 334
IV Analysefelder
34 Sprache und Partizipation: Barrieren und
Teilhabe Bettina M. Bock 345
35 Sprache in der Politik Josef Klein 358
36 Sprache und Kunst Constanze Spieß 370
37 Sprache und Recht Dietrich Busse 383
38 Unterrichtskommunikation
Kristin Börjesson 394
39 Religiöse Sprachverwendung
Wolf-Andreas Liebert 405
40 Wissenschaftskommunikation Nina Janich /
Nina Kalwa 413
41 Rituelle Kommunikation Gunter Senft 423
42 Aphasie Angelika Bauer /
Fabian Overlach 431
43 Verbale Aggression Silvia Bonacchi 439
44 Internetbasierte Kommunikation
Michael Beißwenger / Steffen Pappert 448
VI
Anhang
Literaturverzeichnis 463
Autorinnen und Autoren 465
Sachregister 467
Inhalt
XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18XHUB-Print-Workflow | 00_Liedtke_Pragmatik_04623_Titelei_{Druck-PDF} | 07.12.18
Vorwort
Pragmatik ist eine junge Disziplin, die sich gleichwohl
in schneller Entwicklung in verschiedene Teilparadig-
men und Forschungsgebiete ausdifferenziert hat. Aus-
gehend von den Vorlesungen und Schriften von John
L. Austin, H. Paul Grice und John R. Searle in ihrer
sprachphilosophischen Prägung sowie der Soziologie
der Lebenswelt von Alfred Schütz, Aaron V. Cicourel
und Harold Garfinkel hat sich eine Vielzahl von An-
sätzen mit ihren jeweils spezifischen Forschungsthe-
men und Analysefeldern herausgebildet. Sie hat sich
dabei auch in Gebiete ausgebreitet, die vormals ande-
ren linguistischen Teildisziplinen wie der Syntax und
Semantik, der Phonologie und sogar der Morphologie
vorbehalten waren. Werden diese verschiedenen Strö-
mungen mit ihren teils konkurrierenden Methoden
und Gegenstandsbereichen unter dem gemeinsamen
Dach der linguistischen Pragmatik zusammengefasst,
so kann dies nur glaubwürdig gelingen, wenn man ei-
nen Pragmatikbegriff zugrunde legt, der theoretische
Vielfalt zulässt. Das verbindende Element der ver-
schiedenen pragmatischen Ansätze besteht dabei in
der Einhaltung theoretischer wie forschungsprakti-
scher Standards oder auch allgemein gesagt in dem
Einnehmen einer pragmatischen Perspektive auf den
jeweiligen Untersuchungsgegenstand.
Hierzu gehören die Anerkennung der Rolle des
Kontextes einer sprachlichen Äußerung – wiederum
in einem weiten Sinn des Wortes – sowie die Berück-
sichtigung der für die Emergenz ihrer Bedeutung ver-
antwortlichen Faktoren. Die mediale Form der Äuße-
rung, sei sie nun schriftlich oder mündlich, gestisch
oder in Gestalt computervermittelter Kommunikati-
on, ist ebenso zu berücksichtigen wie ihre Einbettung
in einen politischen, religiösen, juristischen oder di-
daktischen Zusammenhang. Die Frage, ob es sich um
fiktionale Erzählung, um humorvolle Rede, um zitat-
hafte Wiedergabe oder gar um Lügen handelt, ist
ebenso zentral wie das komplexe Thema des Erwerbs
von Prinzipien des Sprachgebrauchs beim Kind und
mögliche Störungen des kindlichen Erwerbsprozesses
oder der kommunikativen Fähigkeiten bei Erwachse-
nen. Schließlich ist die Verkettung sprachlicher Äuße-
rungen zu größeren Einheiten monologischer oder
dialogischer Kommunikation entweder im direkten
Austausch oder in Rahmen von Massenkommunika-
tion mit ihren vielfältigen Einfluss- und Bezugsgrö-
ßen zu berücksichtigen, ebenso wie die Verbindung
dieser größeren Einheiten in Form von thematisch
strukturierten Diskursen.
Kennzeichen pragmatischer Forschung ist es, dass
eine Beschränkung auf ein für alle Ansätze verbindli-
ches Theorieformat, die über die benannten Standards
hinausgehen würde, als Behinderung möglichen Er-
kenntnisgewinns gelten muss. Ebenso kontraproduk-
tiv wäre die Festlegung einer allgemeinen Unter-
suchungsmethode ohne Rücksicht auf die jeweils spe-
zifische Fragestellung. So erweist sich beispielsweise
die Satzorientierung der Sprechakttheorie als vorteil-
haft für die Untersuchung des Grammatik-Pragmatik-
Verhältnisses. Ist die Gesprächsforschung auf Tran-
skripte authentischer Gespräche angewiesen, so sind
Korpora unterschiedlichster Provenienz eine unent-
behrliche Grundlage für die Text- oder die Diskurslin-
guistik. Zeichentheoretische Überlegungen sind in be-
sonderem Maße auf die Berücksichtigung der Ver-
schränkung sprachlicher und nichtsprachlicher Zei-
chengebung angewiesen. Forschungen im Rahmen der
neo-Griceschen Pragmatik oder der Relevanztheoriewerden zunehmend mit den Instrumentarien der ex-
perimentellen Pragmatik durchgeführt; auch kultur-
anthropologische Fragestellungen werden im Format
experimenteller Studien mit Probanden verfolgt.
Schließlich werden musterhafte Dialoge mithilfe for-
maler Methoden dargestellt.
Die pragmatische Perspektive, die Beachtung der
benannten theoretischen wie forschungspraktischen
Standards mit jeweils eigenen Fragestellungen und
Untersuchungsmethoden zeichnet die in diesem
Handbuch versammelten Beiträge aus. Sie geben den
aktuellen Forschungsstand des jeweils dargestellten
Themengebiets wieder, geben Anregungen für eine
vertiefte Beschäftigung mit diesem und zeigen Mög-
VIII
lichkeiten seiner Weiterentwicklung auf. So ist es ge-
lungen, ein umfassendes Bild der linguistischen Prag-
matik zu zeichnen, das allerdings notwendigerweise
unvollständig bleibt. Dies liegt vor allem an der Ent-
wicklungsdynamik des dargestellten Paradigmas, das
jeden Versuch einer Stillstellung zuverlässig unter-
läuft. Gleichwohl kann der Anspruch erhoben wer-
den, die Bahnen einer zukünftigen Entwicklung, so-
weit es möglich ist, vermessen zu haben.
Das vorliegende Handbuch zeichnet sich durch ei-
ne thematische wie disziplinäre Vielfalt aus, die nur
um den Preis einer nicht begründungsfähigen Be-
und Abgrenzungsstrategie hätte umgangen werden
können. Diese Grundhaltung einer theoretischen Of-
fenheit ist in einer Anmerkung des Erkenntnistheo-
retikers Paul Feyerabend aus seinem Buch Wider den
Methodenzwang (Frankfurt a. M., 1976: 5) konden-
siert, die für dieses Handbuch als Motto dienen soll:
»Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtbar,
Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft.«
Ein solch umfangreiches Publikationsvorhaben ist
nicht zu realisieren ohne die vielfältige Unterstützung
durch den Metzler-Verlag. Hier ist vor allem Frau
Hechtfischer zu danken, die uns als Lektorin in ihrer
stets freundlichen Art jederzeit kompetent unterstützt
hat. Mareike Fraider hat uns in Leipzig bei der Erstel-
lung und Formatierung des Manuskripts entscheiden-
de Hilfe geleistet. Auch ihr möchten wir an dieser Stel-
le herzlich danken. Last but not least bedanken wir
uns bei den Beiträgerinnen und Beiträgern zu diesem
Handbuch, die über den langen Entstehungszeitraum
hinweg mit uns kooperierten.
Frank Liedtke und Astrid Tuchen
Vorwort
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
I Tradition
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
1 Pragmatische Forschung unter
wissenschaftsgeschichtlichem
Aspekt
1.1 Einleitung
Pragmatisches Denken lässt sich durch die gesamte
schriftlich überlieferte Geschichte der Philosophien,
der Religionen, der Jurisprudenz und einer ganzen Rei-
he von Wissenschaften bis in die aktuelle Forschung hi-
nein nachweisen. Dies gilt insbesondere dann, wenn
dabei nicht nur auf die Verwendung von Wörtern wie
›pragma‹, ›pragmata‹, ›pragmatisch‹, ›Pragmatik‹ und
›Pragmatismus‹ geschaut wird, sondern auch auf den
Gebrauch vieler verwandter Termini, die sich durch-
weg in Kontext der modernen Pragmatikforschung fin-
den: ›Äußerung‹, ›Sprechakt‹, ›Konnotation‹, ›Präsup-
position‹, ›Kontext(abhängigkeit)‹, ›Handlung‹, ›Ge-
brauch‹, ›Intention‹, ›Implikatur‹, ›Hintergrundannah-
men‹, ›Fokus-Hintergrund-Gliederung‹, ›Relevanz‹,
›Rhetorik‹, ›informale Logik‹, ›langue de parole‹, ›Per-
formanz‹ etc. (s. Kap. III; Forschungsthemen).
Die Charakterisierung von Pragmatik als ein theo-
retisches Projekt setzte im Wesentlichen erst ab der
Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Den Kontext bildeten
dabei die Bestrebungen neben den bereits etablierten
Naturwissenschaften auch der Linguistik, der Logik,
der Psychologie, der Pädagogik und der Jurisprudenz
einen eigenständigen Status als Wissenschaft zu verlei-
hen. Wenn wir die obige erweiterbare Liste von Termi-
ni, die mit dem Ausdruck ›Pragmatik‹ eng verwandt
sind, in Anschlag bringen, dann ergibt sich ein höchst
komplexes, mehrdimensionales Netzwerk, welches
von der Antike bis in die moderne Forschung reicht
und mit einer Vielzahl von Wissenschaften und phi-
losophischen Konzeptionen verwoben ist, wobei sich
weiterhin neue Fasern entwickeln und zu Fäden ge-
flochten werden. Das vorliegende Handbuch doku-
mentiert dies bezogen auf die miteinander vernetzten
Dimensionen (A) Forschungsparadigmen, (B) Aktuel-
le Forschungsgebiete, (C) Forschungsthemen und (D)
Analysefelder.
1.2 Antike Wurzeln im neuzeitlichen
Kontext
Es ist davon auszugehen, dass die Substantive ›prag-
ma‹ (Singular) bzw. ›pragmata‹ (Plural) im Altgriechi-
schen zunächst zum Wortschatz der Alltagssprache
gehörten und dort vor allem im Sinne von ›Beschäfti-
gung‹ (ta politika pragmata = Staatsgeschäfte), ›Ange-
legenheit‹, ›Handlung‹ und ›Tat‹ verwendet wurden.
Platon (428/27 v. Chr.–348/47 v. Chr.) hat den Termi-
nus ›pragma‹ in philosophisch-ontologischen Kon-
texten primär nicht in dieser eher dynamischen, son-
dern in einer statischen, auf Dinge bezogenen Bedeu-
tung verwendet. Cătălin Enache (2007) unterscheidet
hierbei mit Blick auf die über einhundert Fundstellen
in Platons Texten sechs unterschiedliche Lesarten:
›pragma‹ als (a) materieller Körper, (b) Kunstgegen-
stand, (c) abstrakter Gegenstand, (d) wirklich Seien-
des gegenüber schattenhaft Seiendem, (e) Denotat ei-
nes Namens und (f) Erkenntnisgegenstand. Der Plu-
ral ›pragmata‹ kann sich zudem beziehen auf (g) ewige
Gegenstände der reinen Erkenntnis, Ideen und auch
(h) die Gesamtheit des Seienden.
Man könnte nun meinen, dass im Kontext moder-
ner pragmatischer Forschung allein die dynamische
Lesart in Frage kommt. Dem steht jedoch entgegen,
dass sich auch Äußerungen, Intentionen etc. als prag-
matische Gegenstände auffassen lassen. Dies kann auf
philosophische (platonische) Weise oder in theoreti-
schen Kontexten (Untersuchungsgegenstände) erfol-
gen. Gottlob Frege (1848–1925) unterscheidet in sei-
ner Sprechweise vom Fassen des Gedankens den ei-
gentlichen Gedanken als Sinn des Satzes von eben die-
sem Fassen:
»Dem Fassen der Gedanken muß ein besonderes geis
tiges Vermögen, die Denkkraft entsprechen. Beim Den
ken erzeugen wir nicht die Gedanken, sondern wir fas
sen sie. Denn das, was ich Gedanken genannt habe,
steht ja im engsten Zusammenhange mit der Wahr
heit. Was ich als wahr anerkenne, von dem urteile ich,
daß es wahr sei ganz unabhängig von meiner Anerken
nung seiner Wahrheit, auch unabhängig davon, ob ich
daran denke. Zum Wahrsein eines Gedankens gehört
nicht, daß er gedacht werde.« (Frege 1918/19: 74)
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_1
4
Für Frege sind Gedanken zwar sinnlich nicht wahr-
nehmbar, aber objektiv. Sie bilden einen konstitutiven
Teil seiner Antwort auf die Frage: Wie ist Logik als
Wissenschaft möglich? Frege ist davon überzeugt,
dass die Logik ausschließlich eine Theorie der Gedan-
ken und keine Theorie ihres Fassens darstellt. Da aber
das Fassen z. B. als eine einstellige Funktion von Ge-
danken aufgefasst werden kann, ist der Versuch eine
›pragmatische Logik‹ davon zu entwickeln, nicht von
vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine solche Lo-
gik wäre dann nicht eine formale Theorie von Gegen-
ständen einer bestimmten Sorte, sondern von Verben
mit deutlich dynamischer Komponente.
Frege unterscheidet weiterhin zwischen Wahrsein
und Fürwahrhalten (1918/19: 58 f.):
»Das Fürwahrhalten des Falschen und das Fürwahr
halten des Wahren kommen beide nach psychologi
schen Gesetzen zustande. Eine Ableitung aus diesen
und eine Erklärung eines seelischen Vorganges, der in
ein Fürwahrhalten ausläuft, kann nie einen Beweis
dessen ersetzen, auf das sich dieses Fürwahrhalten be
zieht. Können bei diesem seelischen Vorgange nicht
auch logische Gesetze beteiligt gewesen sein? Ich will
das nicht bestreiten; aber wenn es sich umWahrheit
handelt, kann die Möglichkeit nicht genügen. Möglich,
daß auch Nichtlogisches beteiligt gewesen ist und von
der Wahrheit abgelenkt hat.«
Frege öffnet hier die Tür zu einer Logik des Fürwahr-
haltens einen kleinen Spalt um sie danach sofort wie-
der zu verschließen. Dagegen präsentieren sich mo-
derne epistemische Logiken von Ausdrücken der
Form ›Das epistemische Subjekt a hält den Satz (die
Proposition) p für wahr‹ bzw. ›a ist überzeugt, dass p‹
etc. und pragmatische Theorien propositionaler Ein-
stellungen bzw. linguistische Modelle zu dass-Kon-
struktionen als ein weites Öffnen dieser Tür.
Aristoteles (384 v. Chr.–322 v. Chr.) gilt mit seiner
assertorischen Syllogistik, die er in der Ersten Analytik
entwickelt hat, als der Begründer der Logik überhaupt.
Jede Theoriebildung im strengeren Sinne beruht auf
der Bereitstellung von Invarianten, von kontextunab-
hängigen Größen. Für Frege sind z. B. ›das Wahre‹, ›das
Falsche‹, ›der Gedanke‹, ›die Verneinung‹ etc. logische
Invarianten. Solche Invarianten können mit Bezug auf
stabile empirische Messergebnisse gesetzt oder in ei-
nem theoretischen Akt konstruiert werden. Beispiele
sind die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit, die Gravi-
tationskonstante, das Plancksche Wirkungsquantum
genauso wie Phonem, Morphem, Wort, Satz, Nominal-
phrase, Proposition etc. Invarianten müssen zudem
symbolisch sein.
Eine Minimalbedingung für Symbole jeglicher Art
ist, dass mehrere Vorkommen eines konkreten Zei-
chens (eines bestimmten Buchstabens, einer Silbe, ei-
nes Wortes, einer Phrase, eines künstlichen Aus-
drucks) als dieselben Vorkommen gelten. Moderner
ausgedrückt: Beliebig viele Token eines Zeichens stel-
len Vorkommen desselben abstrakten Zeichentyps
dar. Erst durch die Verwendung von Symbolen wird es
möglich, logische Gesetze zu formulieren bzw. die lo-
gische Form von empirischen Gesetzen anzugeben.
Betrachten wir ein Beispiel für einen gültigen Syllogis-
mus (Barbara):
Alle Lebewesen sind sterblich.
Alle Menschen sind Lebewesen.
Alle Menschen sind sterblich.
Damit diese Struktur einen Schluss darstellen kann,
müssen ›alle ... sind‹, ›Lebewesen‹, ›sterblich‹ und
›Menschen‹ jeweils Symbole sein. Dagegen kann
Alle Zirkel sind geometrische Figuren.
Homers Poem ist ein Zirkel.
Homers Poem ist eine geometrische Figur.
als Schluss bereits aufgrund der Tatsache zurück-
gewiesen werden, dass die beiden Vorkommen von
›Zirkel‹ nicht symbolisch sind, was wir allerdings häu-
fig so ausdrücken, dass die Bedeutung der beiden Vor-
kommen von ›Zirkel‹ differiert bzw. wir eine Ambi-
guität von ›Zirkel‹ vor uns haben. Oberflächengleich-
heit von Zeichen sichert nicht ihren Symbolcharakter:
In dem Termausdruck ›4 – (–3)‹ ist – entsprechende
geläufige Syntaxregeln vorausgesetzt – das erste Vor-
kommen von ›–‹ ein zweistelliger termbildender Ope-
rator (Subtraktion) und das zweite Vorkommen von
›–‹ ein einstelliges Vorzeichen, welches eine negative
ganze Zahl anzeigt.
Betrachtet Aristoteles in der Ersten Analytik logi-
sche Schlüsse, so untersucht er in der Topik dialekti-
sche Debatten zwischen zwei Gesprächspartnern als
kooperative Aktivitäten, die auf gemeinsamen Hin-
tergrundwissen, Kontextinformation und bestimm-
ten pragmatischen Prinzipien beruhen (vgl. Malink
2015). Der Unterschied zeigt sich bereits bezogen auf
quantitativ unbestimmte Sätze, in denen sich keine
Vorkommen von Ausdrücken wie ›alle‹ und ›einige‹
finden. Ein Satz wie Menschen sind Lebewesen ist un-
bestimmt, da er keine bestimmte Angabe dazu ent-
I Tradition
5
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
hält, wie viele Gegenstände der Rede in Betracht gezo-
gen werden. Allerdings tendieren wir dazu, diesen
Satz als alle Menschen sind Lebewesen zu verstehen.
Dagegen hat der Satz Menschen sind gesund eine ana-
loge Oberflächenstruktur. Die Lesart alle Menschen
sind gesund erscheint angesichts unserer Kenntnis von
kranken Menschen kontraintuitiv. Viel näherliegende
Lesarten dagegen sind einige Menschen sind gesund
bzw. viele Menschen sind gesund. Im Sinne der asserto-
rischen Syllogistik der Ersten Analytik wäre
Lebewesen sind sterblich.
Menschen sind Lebewesen.
Menschen sind sterblich.
kein gültiger Schluss bzw. wir können dieses Beispiel
gar nicht überprüfen, da (...) sind (...) keine bestimmte
Satzform bildet und damit kein Symbol darstellt. Für
die affirmativen Fälle gelten nur alle (...) sind (...) und
einige (...) sind (...) als Symbole. Betrachten wir dieses
Beispiel jedoch als dialektische Argumentation im
Kontext der Topik, dann ist die obige Struktur bereits
in der vorliegenden Form gültig in folgendem prag-
matischen Sinne: Wir betrachten nicht die wörtliche
Bedeutung von z. B. Lebewesen sind sterblich, sondern
die Sprecher-/Hörerbedeutung davon. Das heißt, die-
ses Muster wird nicht mehr kontextfrei als logische
Form und damit als Symbol betrachtet. Dieses Muster
ist eingebettet in einen dialektischen Argumentati-
onskontext, in dem sich als Sprecher-/Hörerbedeu-
tung die universelle Lesart ergibt. Wichtig ist, dass
Aristoteles solche Formen mit unbestimmten Prämis-
sen und/oder unbestimmter Konklusion im Sinne der
Topik weder als enthymemisch (es fehlt hier keine Prä-
misse), noch die einzelnen Teilsätze als unvollständig
oder gar mehrdeutig ansieht. Wenn die intendierte
Bedeutung des Sprechers (die Universalität beider
Prämissen und der Konklusion) vom Hörer geteilt
wird, dann liegt eine gültige dialektische Argumenta-
tion vom Sprecher gegenüber dem Hörer vor.
Ein weiteres bis in die Antike reichendes Thema
rankt um die Erfassung von Existenzvoraussetzungen
(Existenzpräsuppositionen) sowohl mit Bezug auf
Sätze der Form alle A sind B bzw. einige A sind B als
auch hinsichtlich einfacher Sätze wie Kepler starb im
Elend (Frege 1892). Der Schluss von alle A sind B auf
einige A sind B gelingt nur, wenn die Existenz von
mindestens einem A vorausgesetzt wird. Der Satz
Kepler starb im Elend bzw. derjenige, der die Planeten-
bahnen entdeckte, starb im Elend scheint nur dann
wahr bzw. falsch sein können (einen Fregeschen Ge-
danken auszudrücken), wenn der Eigenname ›Kep-
ler‹ etwas bedeutet, etwas benennt. Doch dann drückt
der Satz
(1) Der gegenwärtige König von Frankreich ist weise.
keinen Gedanken aus, da es gegenwärtig keinen König
von Frankreich gibt. Dieses Problem wurde durch-
gängig auch im Mittelalter und seit dem Beginn der
Neuzeit – vor allem bei Leibniz (1646–1716) – dis-
kutiert.
Frege sieht keine Möglichkeit, diese Existenz-
voraussetzung in der logischen Syntax zu erfassen und
fordert:
»Wenn man etwas behauptet, so ist immer die Voraus
setzung selbstverständlich, daß die gebrauchten ein
fachen oder zusammengesetzten Eigennamen eine
Bedeutung haben. Wenn man also behauptet, ›Kepler
starb im Elend‹, so ist dabei vorausgesetzt, daß der Na
me ›Kepler‹ etwas bezeichne; aber darum ist doch im
Sinne des Satzes ›Kepler starb im Elend‹ der Gedanke,
daß der Name ›Kepler‹ etwas bezeichne, nicht enthal
ten.« (Frege 1892: 40)
Bertrand Russell (1872–1970) wollte in »On Deno-
ting« (1905) den Anwendungsbereich der Logik gene-
rell auf Ausdrücke der Form ›bestimmter Artikel + No-
men im Singular‹ (definite Kennzeichnungsausdrü-
cke) bzw. ›unbestimmter Artikel + Nomen im Singular‹
(indefinite Kennzeichnungsausdrücke) erweitern und
dabei zugleich die Zweiwertigkeit der logischen Form
von Sätzen, die solche Ausdrücke enthalten, bewahren.
Für Russell sind definite Kennzeichnungsausdrücke
keine Eigennamen, sondern Beschreibungen, die auf
genau ein Objekt zutreffen sollen. Satz (1) wird para-
phrasiert als ›Es gibt genau einen König von Frankreich
und dieser ist weise‹. Falls es nun keinen König von
Frankreich oder dort sogar zwei Könige gibt, so ist die-
ser Satz jeweils einfach falsch.
Die Denkweise sowohl von Frege als auch die von
Russell zielt auf die Angabe von vollständigen logi-
schen Formen ganz im Sinne von Aristoteles in der
Ersten Analytik. Zu einempragmatischen Zugang
mit Blick auf definite Kennzeichnungen verhilft uns
eine begriffliche Unterscheidung, die Peter Frederick
Strawson (1919–2006) in »On Referring« (1950: 325)
eingeführt hat. Er unterscheidet zwischen einem Satz
(a sentence), einem Gebrauch eines Satzes (a use of a
sentence) und einer Äußerung eines Satzes (an utte-
rance of a sentence). Jede dieser Komponenten hat ihre
1 Pragmatische Forschung unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt
6
jeweils spezifischen Invarianzbedingungen. Satz (1)
kann als Symbol betrachtet werden; jede Äußerung
bzw. jeder Gebrauch dieses Satzes ist die Äußerung
bzw. der Gebrauch desselben Satzes. Fall (a): Wenn
nun ein Sprecher diesen Satz zur Herrschaftszeit Louis
XIV äußert und ein anderer Sprecher dies zur Herr-
schaftszeit Louis XV tut, dann machen sie unter-
schiedlichen Gebrauch desselben Satzes. Fall (b):
Wenn beide Sprecher diesen Satz zur Herrschaftszeit
Louis XIV äußern, dann machen sie denselben Ge-
brauch desselben Satzes. Sätze an sich sind weder
wahr noch falsch. Wahr bzw. falsch ist der jeweilige
Gebrauch eines Satzes. Die Wahrheitswerte können
im Fall (a) voneinander abweichen, im Fall (b) aber
nicht. Dennoch bleiben die Äußerungen der beiden
Sprecher im Fall (b) verschieden. Wenn wir unseren
Beispielsatz heute äußern, dann ist es eine weitere Äu-
ßerung desselben Satzes. Doch liegt überhaupt ein
Gebrauch vor? Falls ja: Ist dieser Gebrauch dann wahr
oder falsch?
1.3 Pragmatismus, Abduktion und phi-
losophische Kritik
›Pragmatismus‹ oder auch ›Pragmatizismus‹ wird vor
allem mit einer philosophischen Strömung in den Ver-
einigten Staaten von Amerika identifiziert, deren
Hauptvertreter zunächst Charles Sanders Peirce
(1839–1914), William James (1842–1910) und John
Dewey (1859–1952) waren. Peirce führte den Termi-
nus Pragmaticism in den frühen 1870er Jahren – vor
allem 1872 in Gesprächen mit den Mitgliedern des
Metaphysical Club in Cambridge/Massachusetts – ein.
Der Pragmatismus entfaltete sich dann um die Wende
vom 19. zum 20. Jahrhundert und wurde seit den
1970er Jahren des letzten Jahrhunderts vor allem
durch Richard Rorty (1931–2007), Hilary Putnam
(1926–2016) und Robert Brandom (1950–) reaktiviert.
Die Bestimmung erfolgt über die pragmatische
Maxime, von der allerdings eine Vielzahl verschiede-
ner, wenn auch verwandter, Formulierungen vorlie-
gen. Peirce versteht Pragmatismus 1903 als eine Maxi-
me der Logik in einem speziellen Sinne: »Consider
what effects that might conceivably have practical
bearings we conceive the object of our conception to
have: then, our conception of those effects is the whole
of our conceptions of the object« (Peirce 1998: 135).
»Pragmatism, considered as the maxim that the entire
meaning and significance of any conception lies in its
conceivably practical bearings, [...]« (ebd.: 145).
Innerhalb der Logik unterscheidet Peirce zwischen
Deduktion, Induktion und Abduktion. Mit Blick auf
Induktion müssen wir uns mit Bezug auf die Maxime
fragen, wie Wahrscheinlichkeiten auf praktische Ge-
gebenheiten angewendet werden. Pragmatismus ver-
steht Peirce als abduktive Logik. Peirce gibt folgendes
Schlussschema an (ebd.: 231):
»The surprising fact, C, is observed;
But if A were true, C would be a matter of course.
Hence, there is reason to suspect that A is true.«
Das Überraschende an diesem Schema ist, dass es be-
reits bezogen auf die beiden Prämissen und die Kon-
klusion in signifikanter Weise von den Aristotelischen
Beispielen abweicht. Es hat nicht einmal die Form
C
Wenn A, dann C
A
Sondern ›A‹ ist eingebettet in die Konjunktivkonstruk-
tion ›were true‹ eingeleitet durch ›but‹ (erste Prämisse)
bzw. die Phrase ›there is reason to suspect‹ (Konklusi-
on). Ähnliches gilt für ›C‹. Es ist intuitiv einsichtig,
dass es sich weder um einen deduktiven noch um ei-
nen induktiven Schluss handeln kann. Damit der ab-
duktive Schluss in einem pragmatischen Sinn gültig
ist, kann ›A‹ nicht selbst bereits Symbol sein, sondern
die beiden Vorkommen von ›A‹ sind nur relativ zu ih-
rer Einbettung vollständig bestimmt: »Thus, A cannot
be abductively inferred, or if you prefer the expression,
cannot be abductively conjectured, until its entire con-
tents is already present in the premiss, ›If A were true,
C would be a matter of course« (ebd.: 231). Auch im
abduktiven Schluss kann relativ zum content von A
keine Erweiterung stattfinden: »its entire contents«.
Dennoch wird die Konklusion zur conjecture. Für
Peirce existiert an dieser Stelle kein Dualismus von Lo-
gischem und Empirischem: »the account just given of
abduction is proposed as a proof that all conceptions
must be given substantially in perception« (ebd.: 231).
James versteht Pragmatismus vor allem als eine
universelle philosophische Methode:
»The pragmatic method is primarily a method of set
tling metaphysical disputes that otherwise might be
interminable [...]. The pragmatic method [...] is to try to
interpret each notion by tracing its respective practical
consequences. What difference would it practically
make to anyone if this notion rather than that notion
I Tradition
7
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
were true? If no practical difference whatever can be
traced, then the alternatives mean practically the
same thing, and all dispute is idle. Whenever a dispute
is serious, we ought to be able to show some practical
difference that must follow from one side or the
other’s being right.« (James 1907: 45 f.)
Mit Bezug auf Peirce betont er, dass unsere Überzeu-
gungen tatsächlich Regeln für Handlungen darstellen.
Diese Methode beinhaltet eine philosophiekritische
Komponente: Ein Pragmatist
»turns away from abstraction and insufficiency, from
verbal solutions, from bad a priori reasons, from fixed
principles, closed systems, and pretended absolutes
and origins. He turns towards concreteness and ade
quacy, towards facts, towards action, and towards
power. That means the empiricist temper regnant,
and the rationalist temper sincerely given up. It means
the open air and possibilities of nature, as against
dogma, artificiality and the pretence of finality in
truth.« (ebd.: 51)
James gilt zudem als Religionspsychologe bzw. Religi-
onsphilosoph, als Begründer der amerikanischen Psy-
chologie als Wissenschaft und als Vorläufer der Ge-
staltpsychologie.
1.4 Pragmatik als Wissenschaft
Wichtige Voraussetzungen für die einflussreiche Be-
stimmung des Begriffs ›Pragmatik‹ als Namen für eine
neue Wissenschaft durch Charles William Morris
(1901–1979) und Rudolf Carnap (1891–1970) waren
zum einem die Entwicklung einer formalen Theorie
von Relationen vor allem durch Frege in seiner Be-
griffsschrift (1879) und Bertrand Russell/Alfred North
Whitehead (1861–1947) in der Principia Mathematica
(1910–1913) als zwei- bzw. höherstellige Funktionen
und zum anderen ein komplexeres Verständnis von
Zeichen. Auf beiden Gebieten hat Peirce Pionierarbeit
geleistet.
Zu den bemerkenswertesten Ideen gehört seine Be-
stimmung von Zeichentypen als dreidimensionale
dreistellige Relationen (vgl. Peirce 1998 [1903]). Ein
Zeichentyp ist eine dreistellige Relation R(x,y,z), wo-
bei für die drei Argumentstellen x, y und z jeweils drei
Werte in Frage kommen, die zu unterschiedlichen Di-
mensionen gehören, indem sie jeweils eine Erstheit,
eine Zweitheit bzw. eine Drittheit darstellen. In der
ersten Dimension geht um die Charakterisierung ei-
nes Zeichentyps als Zeichentyp (Erstheit: Qualizei-
chen, Zweitheit: Sinzeichen, Drittheit: Legizeichen),
in der zweiten Dimension um die Bestimmung eines
Zeichentyps in Relation zu einem Objekt (Erstheit:
Ikon, Zweitheit: Index, Drittheit: Symbol) und in der
dritten um den Interpretanten (Erstheit: Rhema,
Zweitheit: Dici-/Dikentzeichen, Drittheit: Argument).
Jeder konkrete Zeichentyp ist immer durch alle drei
Argumentstellen bestimmt und steht immer zu meh-
reren anderen Zeichentypen in einem Verwandt-schaftsverhältnis bezogen auf die Übereinstimmung
in einer oder sogar zwei Argumentstellen und zudem
relativ zu variierenden Dimensionen.
Peirce fordert bestimmte Abhängigkeiten zwi-
schen x, y und z: Wenn z. B. der dritte Ausdruck z in-
nerhalb der dreistelligen Relation R als Drittheit be-
stimmt wird – also als Argument –, dann müssen
auch die Werte für die beiden anderen Argumentstel-
len Drittheiten sein. Jedes Argument ist damit immer
auch Symbol (Wert für y) und zudem ein Legizeichen
(ein allgemeines Gesetz, Wert für x). Ein Argument
(z. B. der obige gültige Syllogismus Barbara) ist somit
›reine‹ Drittheit. Außerdem ist es mit all denjenigen
Zeichentypen verwandt, die ebenfalls an der y-Argu-
mentstelle die Drittheit Symbol (rhematische Legi-
symbole bzw. dikentische Legi-Symbole) bzw. an der
x-Argumentstelle die Drittheit Legizeichen aufwei-
sen. Dies sind bei Peirce fünf weitere von insgesamt
10 Zeichentypen. ›Symbol‹ ist damit keine Bestim-
mung eines einzelnen Zeichentyps, sondern charak-
teristisch für drei verschiedene Zeichentypen, die zu-
mindest an der y-Argumentstelle übereinstimmen.
Im Unterschied zum oben verwendeten Symbol-
begriff versteht Peirce unter einem Symbol im Kon-
text der zweiten Argumentstelle eines dreistellig be-
stimmten Zeichentyps die Relation dieses Zeichen-
typs zu einem Objekt (Interpretanten) aufgrund eines
Gesetzes und daher als Drittheit.
Anknüpfend an Peirce bestimmt Morris in Founda-
tions of the Theory of Signs die Pragmatik (1938: 6) ne-
ben der Syntax (Studium der »formal relations of signs
to one another«) und der Semantik (Studium der »re-
lations of signs to the objects to which the signs are ap-
plicable«) als das Studium der »relation of signs to in-
terpreters« im Rahmen einer allgemeinen Semiotik
als einer umfassenden Zeichentheorie. Alle drei Cha-
rakterisierungen haben die Form R(s,x), d. h. sie wer-
den dargestellt als das Studium zweistelliger Relatio-
nen R, deren erste Argumentstelle immer s – signs –
ist, wobei für die zweite Argumentstelle x wiederum
1 Pragmatische Forschung unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt
8
signs (Syntax), objects (Semantik) bzw. interpreters
(Pragmatik) stehen kann. Im Unterschied zu Peirce
erfolgt keine Charakterisierung endlich vieler mehr-
dimensional unterschiedener Zeichentypen. Ein und
dasselbe Zeichen kann sowohl syntaktisch, seman-
tisch als auch pragmatisch studiert werden. Jedes Zei-
chen lässt sich als eine universelle Invariante auffas-
sen. Es gibt keine an sich pragmatischen, semanti-
schen bzw. syntaktischen Zeichen.
Carnap gibt in Introduction to Semantics eine Expli-
kation von Pragmatik an, wobei es für ihn keine Rolle
spielt, ob diese Relation zwei- oder dreistellig ist: »If in
an investigation explicit reference is made to the spea-
ker, or, to put it in more general terms, to the user of a
language, then we assign it to the field of pragmatics.
(Whether in this case reference to designate is made or
not makes no difference for this classification)« (Car-
nap 1942: 9). Eine Untersuchung ist danach bereits
pragmatisch, wenn sie den Sprecher bzw. Sprachnut-
zer explizit einbezieht (zweistellig). Es kann zusätzlich
der Bezug auf das Bezeichnete einbezogen werden
(dreistellig).
In Signs, Language, and Behavior (1946) erweitert
Morris seine Charakterisierung von Pragmatik deut-
lich:
»The following definitions retain the essential features
of the prevailing classification, while freeing it from
certain restrictions and ambiguities: pragmatics is
that portion of semiotic which deals with the origin,
uses, and effects of signs within the behavior in which
they occur; semantics deals with the signification of
signs in all modes of signifying; syntactics deals with
combinations of signs without regard for their specific
significations or their relation to the behavior in which
they occur.« (Morris 1946: 302)
1.5 Pragmatik zwischen Semantik und
Sprachphilosophie
Im Zusammenhang mit der äußerst weitgreifenden
Bestimmung von Semiotik von Morris (»all modes of
signifying« (1946: 302)) stoßen wir auf das viel dis-
kutierte Problem der Eigenständigkeit der Pragmatik
relativ zu einer offenbar immer wieder erweiterbaren
logischen bzw. linguistischen Semantiktheorie einer-
seits und relativ zu einer umfassenden Sprachphiloso-
phie andererseits. Für Morris selbst scheint die Prag-
matik beides zu sein – Sprachtheorie und Sprachphi-
losophie: »pragmatics studying the origin, uses, and
effects of signs within the total behavior of the inter-
preters of signs« (ebd.: 303). Die Charakterisierung
von »behavior« durch »the total« zeigt an, dass es sich
auch um ein philosophisches Projekt handelt.
»Nevertheless, in general it is more important to keep
in mind the field of semiotic as a whole, and to bring to
bear upon specific problems all that is relevant to their
solution. The present study has deliberately preferred
to emphasize the unity of semiotic rather than break
each problem into its pragmatical, semantical, and
syntactical components.« (ebd.: 303)
Das philosophische Interesse, welches auf die Sprache
in ihrer Gesamtheit zielt, wird hier angezeigt durch
»in general«, »as a whole«, »all that« und »the unity
of«. Das theoretische Interesse sollte sich letztlich vor
allem auf die einzelnen Komponenten konzentrieren.
Carnap unterstellt sicher einen deutlich anderen
Philosophiebegriff, wenn er in »Some Concepts of
Pragmatics« (1955: 91) schreibt: »It seems to me that a
system of theoretical pragmatics is urgently needed, not
only for psychology and linguistics, but also for analytic
philosophy. Since pure semantics is sufficiently devel-
oped, the time seems ripe for attempts at constructing
tentative outlines of pragmatical systems.« Die analyti-
sche Philosophie hat demnach einen Bedarf an der Be-
reitstellung präzise bestimmter formaler Explikationen
für Glauben, Äußerung etc. und darauf aufbauend an
der Formulierung logischer Systeme als ›theoretische
Pragmatik‹. Mit der Entwicklung einer Handlungs-
logik bzw. einer Logik der Aktion durch Georg Henrik
von Wright (1916–2003), Lennart Åqvist (1932–),
Franz von Kutschera (1932–), Nuel D. Belnap (1930–)
et al. wurde diese Richtung weiter verfolgt.
Jede Theorie hat ihre Reichweite, die eng mit der
oben bereits erwähnten Invariantenbildung zusam-
menhängt. Frege sagt, dass es Aufgabe der Logik ist,
die Gesetze des Wahrseins und nicht die des Fürwahr-
haltens zu erkennen (vgl. 1918/19: 58). Die Statik als
eine Teiltheorie der Mechanik ist nicht in der Lage
Aussagen zur Beschleunigung von Körpern zu treffen.
Eine Sprachtheorie Chomskyscher Prägung versteht
sich in der Regel als eine Theorie sprachlicher Kom-
petenz und nicht als Theorie sprachlicher Performanz.
Eine philosophische Betrachtung möchte sich in der
Regel von derartigen Beschränkungen bezogen auf die
Reichweite frei machen. Pragmatik kann dann auch
als Sprachphilosophie ohne spezifischen theoreti-
schen Anspruch aufgefasst werden. In den Blick wird
die Sprache in ihrer Gesamtheit genommen.
I Tradition
9
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Eine äußerst konsequente Umsetzung dieser Stra-
tegie finden wir in der Spätphilosophie von Ludwig
Wittgenstein (1889–1951) vor. Sein Spätwerk Philoso-
phische Untersuchungen (1953) enthält zwar keinen
Ausdruck der Form ›pragma-‹ und gilt dennoch als
Pragmatiklehre. Eine solche Lehre steht zu einer Prag-
matiktheorie in einem ähnlichen Verhältnis wie eine
Harmonielehre als Anleitung zum Komponieren neu-
er Musik zu einer systematischen Musiktheorie. In ir-
ritierender Weise wird zur Charakterisierung der
Sprachauffassung in Wittgensteins Philosophischen
Untersuchungen sehr häufig das Label ›Gebrauchs-
theorie der Bedeutung‹ verwendet. Obgleich Wittgen-
stein im § 109 schreibt:
»Richtig war, daß unsere Betrachtungen nicht wissen
schaftliche Betrachtungen sein durften. Die Erfahrung,
›daß sich das oder das denkenlasse, entgegen unserm
Vorurteil‹ – was immer das heißen mag – konnte uns
nicht interessieren. (Die pneumatische Auffassung des
Denkens.) Und wir dürfen keinerlei Theorie aufstellen.
Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen
sein. Alle Erklärung muß fort, und nur Beschreibung an
ihre Stelle treten. Und diese Beschreibung empfängt
ihr Licht, d. i. ihren Zweck, von den philosophischen Pro
blemen. Diese sind freilich keine empirischen, sondern
sie werden durch eine Einsicht in das Arbeiten unserer
Sprache gelöst, und zwar so, daß dieses erkannt wird:
entgegen einem Trieb, es mißzuverstehen. Diese Pro
bleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Er
fahrung, sondern durch Zusammenstellung des längst
Bekannten. Die Philosophie ist ein Kampf gegen die
Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer
Sprache.« (Wittgenstein 1953: § 109)
Das Label ›Gebrauchstheorie‹ wird häufig mit § 43 in
Verbindung gebracht: »Man kann für eine große Klas-
se von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹
– wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung –
dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes
ist sein Gebrauch in der Sprache« (Wittgenstein 1953,
§ 43). Wenn nun aber tatsächlich jede Verwendungs-
möglichkeit eines Wortes ohne die Beschränkung auf
bestimmte Kontexte zu seiner Bedeutung beiträgt,
dann ist die Angabe der Bedeutung eines Wortes nicht
isoliert von der Angabe der Bedeutung eines jeden an-
deren Wortes der Sprache zu haben. Und dies lässt
sich weder durch die Postulierung von invarianten
Bedeutungen für einzelne Wörter noch durch die An-
gabe universeller Eigenheiten (Wesensbestimmun-
gen, Universalgrammatik) für Sprache erreichen:
»Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache
nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erschei
nungen garnicht Eines gemeinsam, weswegen wir für
alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind
miteinander in vielen verschiedenen Weisen ver-
wandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Ver
wandtschaften wegen nennen wir sie alle ›Sprachen‹.«
(Wittgenstein 1953: § 65)
Letztlich bezieht sich Wittgenstein aber nicht nur auf
»Sprachen« bzw. »Sprachspiele«, sondern vor allem
auf »die Sprache« bzw. »das Sprachspiel«: »Ich werde
auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit
denen sie verwoben ist, das ›Sprachspiel‹ nennen.«
Die Tätigkeiten, Gesten, Zeigehandlungen etc. sind
der Sprache inhärent und treten nicht von außen hin-
zu. Pragmatische Betrachtungen ohne Beschränkung
der Reichweite, ohne die Angabe lokaler bzw. globaler
invarianter Formen ergeben philosophische Unter-
suchungen von höchstem Interesse, jedoch keine
Theorien.
Es gibt eine Reihe von logischen Theorieentwürfen,
die anfangs ›Pragmatik‹ getauft wurden. Wenn diese
Entwürfe jedoch hinreichend ausgearbeitet vorlagen,
wurden sie häufig in ›Semantik‹ umbenannt. Ein pro-
minentes Beispiel ist der komplexe logische Ansatz
»Pragmatics« (1968) von Richard Montague (1930–
1971), der sich als eine zwar raffinierte, aber letzt-
lich doch ›intensionale Semantik‹ erwies. Auch Robert
Stalnaker (1940–) entwickelte in »Pragmatics« (1970)
eine Bedeutungstheorie, in der die Bestimmung des
Wahrheitswertes einer Äußerung nicht nur von der je-
weiligen Situation (möglichen Welt), sondern separat
davon zusätzlich von einem Präsuppositionskontext
(später: ›common ground‹) abhängt. Da letztlich aber
beide Kontextfaktoren eine logisch analoge Rolle spie-
len, wurde der Ansatz in der Folge als ›zweidimensio-
nale Semantik‹ bezeichnet (vgl. Stanford Encyclopedia
of Philosophy, Eintrag: Two-Dimensional Semantics).
1.6 Pragmatik als Theorie
Mit den Arbeiten von John Langshaw Austin (1911–
1960) und Herbert Paul Grice (1913–1988) liegen in-
teressante Forschungsansätze vor, die recht klar als
Theoriebestrebungen eingeordnet werden können,
deren Status als ausgearbeitete Theorien allerdings
nach wie vor umstritten ist und die daher zum Aus-
gangspunkt einer Vielzahl alternativer Vorschläge ge-
worden sind.
1 Pragmatische Forschung unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt
10
Ein kräftiger Faden in dem Netzwerk pragmati-
scher Theorienbildung lässt sich bezüglich der Auffas-
sung konstatieren, dass Sprache nicht ausschließlich
bezogen auf Sätze betrachtet werden muss, sondern
vor allem auch in Hinsicht auf den Vollzug von
Sprechhandlungen oder Sprechakten. Zu diesem Fa-
den gehören zumindest Karl Bühler (1879–1963),
Adolf Reinach (1883–1917), Austin und John Rogers
Searle (1932–).
Bühler hat mit seiner Monographie Sprachtheorie.
Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934) eine um-
fassende Sprachtheorie entwickelt, die in unmittel-
barer Nachbarschaft zur Gestaltpsychologie steht und
die ein Produkt der umfassenden Auseinanderset-
zung mit vielen prominenten sprachphilosophischen
Auffassungen und sprachwissenschaftlichen Vor-
arbeiten darstellt. Zu den Prinzipien der Sprachfor-
schung gehören dabei eine Axiomatik, ein Organ-
onmodell der Sprache, welches Sender und Empfän-
ger einbezieht, ein Aufbau-Modell der Sprache in Be-
zug auf ihre Zeichennatur, die Unterscheidung von
Sprechhandlung und Sprachwerk bzw. von Sprechakt
und Sprachgebilde. Sprechhandlungen werden im
Kontext des Zeigfeldes der Sprache betrachtet, womit
für die Untersuchung von Deixis und Anaphorizität
ein neuer theoretischer Zugang eröffnet wird.
Adolf Reinach hatte 1904 bei Theodor Lipps (1851–
1914) mit der Arbeit Über den Ursachenbegriff im gel-
tenden Strafrecht promoviert. Gerade bezogen auf
Kontexte der Rechtsprechung gelang ihm eine Taxo-
nomie einer bestimmten Varietät von Sprechhandlun-
gen, die er ›soziale Akte‹ nennt. ›Von etwas überzeugt
sein‹ bzw. ›etwas behaupten‹ sind keine sozialen Akte.
Wenn ich etwas mitteile, muss ich mich an einen Ad-
ressaten wenden. Andere soziale Akte sind ›Fragen‹,
›Bitten‹ und ›Befehle‹,
»welche, im Gegensatz zu der Mitteilung, ihrem We
sen nach auf korrespondierende oder besser auf res
pondierende Betätigungen hinzielen, mögen diese Be
tätigungen auch realiter nicht zustande kommen. Je
der Befehl und jede Bitte zielt ab auf ein in ihnen vor
gezeichnetes Verhalten des Adressaten. Erst die
Realisierung dieses Verhaltens schließt endgültig den
Kreis, welcher durch jene sozialen Akte eröffnet ist.«
(Reinach 1913: 709)
Letztlich gilt für alle sozialen Akte: »Ist ein Befehl oder
eine Bitte vollzogen, so hat sich damit etwas geändert
in der Welt.« (ebd.: 711)
Austin beginnt die Darstellung seiner Sprechakt-
theorie (1962) mit einer hypothetischen dichoto-
mischen Unterteilung sprachlicher Äußerungen in
konstative und performative. Konstative Äußerungen
berichten, beschreiben, behaupten etwas. Sie sind
wahr oder falsch. Sie drücken im Sinne Freges Gedan-
ken aus. Performative Äußerungen stellen selbst
Handlungen dar (Äußerungen im Kontext von Tau-
fen, Trauungen, Versprechen geben etc.). Sie können
glücken oder auch missglücken. Eine Theorie perfor-
mativen Misslingens aufzustellen war ein neuartiges
Projekt. Ein analoges Projekt wäre im Rahmen einer
Syntaxtheorie die Frage auf welch unterschiedliche
Weisen eine Zeichenkette systematisch nicht korrekt
gebildet sein kann. Fälle des Misslingens können zum
Gegenstand neurokognitiver Untersuchungen ge-
macht werden.
Austin bemüht sich dann darum den Begriff ›expli-
zit performative Äußerung‹ anhand charakteristi-
scher sprachlicher Merkmale als eine kontextunab-
hängige Invariante zu postulieren. Der Versuch – Sät-
ze der ersten Person Singular Präsens Indikativ Aktiv
– scheitert jedoch an Austins eigener kritischer Über-
prüfung in jeder erdenklichen Kombination dieser
sprachlichen Merkmale. Austins Alternativvorschlag
besteht darin, auf eine äußere Dichotomie von Äuße-
rungen gänzlich zu verzichten und mit Sprechakten
zu beginnen, wobei die äußere Unterscheidung zu ei-
ner inneren wird.
An die Stelle des Konstativen tritt der lokutionäre
Akt (als vollständige Einheit der Rede), an die Stelle
des Performativen der illokutionäreAkt (als Akt, den
man vollzieht, indem man etwas sagt) und hinzu tritt
der perlokutionäre Akt (als Akt, den man vollzieht,
dadurch dass man etwas sagt). Eine Theorie der
Sprechakte hat sich dann auf den illokutionären Akt in
seiner methodischen Stellung zwischen dem lokutio-
nären und perlokutionären Akt zu konzentrieren.
Diese drei Akte treten aber niemals isoliert auf, son-
dern stellen nur theoretische Annahmen über die
Struktur eines jeden Sprechaktes als Dimensionen des
Gebrauchs dar. Wenn einer dieser Akte fehlt, dann
liegt überhaupt kein Sprechakt vor. Damit ist die
Reichweite einer möglichen Theorie bestimmt: Nicht
jede sprachliche Handlung ist ein Sprechakt. Zu klä-
ren wären noch die Invarianz von Sprechakttypen und
ihre Klassifikation gemäß der illokutionären Rolle be-
stimmter Verben. Es hat sich als überaus schwierig er-
wiesen, hierbei zu sowohl theoretisch als auch empi-
risch fruchtbaren Festschreibungen zu kommen.
Grice steckt mit seinem Kooperationsprinzip
(1989: 26) den Rahmen für seine Theorie der Implika-
I Tradition
11
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
turen ab: »Make your conversational contribution
such as is required, at the stage at which it occurs, by
the accepted purpose or direction of the talk exchange
in which you are engaged.« Implikaturen unterschied-
licher Art können nur in Bezug auf kooperative Ge-
sprächsbeiträge auftreten. Da im Rahmen der Koope-
ration die Verletzung bestimmter Maximen zulässig
ist, erlaubt gerade erst die Bezugnahme auf diesen
Rahmen die Erschließung der jeweiligen Implikatur.
Die Verletzung einer Maxime kann im Zusammen-
hang mit anderen Maximen stehen und die Verlet-
zung könnte sich auf mehrere Maximen zugleich be-
ziehen. Bestimmte Implikaturen – z. B. skalare Impli-
katuren – lassen sich leichter modellieren als andere –
z. B. auf die Relevanz bezogene. Die Äußerung:
(2) Einige Schüler (dieser Klasse) sind fleißig.
hat die skalare quantitative Implikatur:
(3) Nicht alle Schüler sind fleißig.
Bezüglich einer logisch normierten Skala gilt, dass aus
dem Gegenteil von (3), d. h. alle Schüler sind fleißig, (2)
folgt. Die Verneinung von (2) mit entsprechender Fo-
kussierung bzw. Hutkontur ausgesprochen – Nicht EI-
NIGE Schüler sind fleißig, sondern ALLE – bezieht sich
dann auf die Implikatur und nicht auf das Gesagte.
Bestandteile der Redesituationen in den Beispielen
von Grice sind: In der Regel wird einer Dialogsituati-
on zwischen A und B ein kurzer Kontext (a) voran-
gestellt, in dem A bzw. B bereits erwähnt werden. Der
erste Sprecher A macht eine Äußerung, die einen wei-
teren Kontext (b) liefert. Schließlich äußert der zweite
Sprecher B den Zielsatz. Es gibt Fälle, in denen der
Kontext (a) offenbar nicht benötigt wird: A sagt: Smith
scheint derzeit keine Freundin zu haben. B antwortet:
Er war in der letzten Zeit oft in New York. Die Implika-
tur ist: ›Smith hat – möglicherweise – eine Freundin in
New York‹. Allerdings gibt es Fälle, in denen der Kon-
text (b) leer ist bzw. weder der Kontext (a) noch der
Kontext (b) realisiert wird, z. B. bei der Äußerung of-
fenkundiger Gemeinplätze wie Schnaps ist Schnaps
bzw. bei der hyperbolischen Äußerung jedes hübsche
Mädchen liebt einen Seemann.
Grice (1989: 32 f.) unterscheidet folgende Fälle der
Generierung von Implikaturen:
1. Keine Maxime ist verletzt, aber die Äußerungen
von A und B stehen in einer Redesituation schein-
bar in keinem kooperativen Zusammenhang.
2. Eine Maxime wird verletzt, was aber durch die
Vermeidung eines Konflikts mit einer anderen
Maxime erklärbar wird.
3. Exploitation: Eine Maxime wird missachtet, um
mittels einer Redefigur eine Implikatur anzuzeigen.
Gerade diese Idee, dass in vielen Fällen weder die Ziel-
äußerung allein, noch die lokale Verletzung einer Ma-
xime allein, noch die Kontexte (a) oder (b) genügen,
um Implikaturen zu erklären, führt zu einem Modell-
rahmen mit vielen Anwendungsoptionen und eröff-
net einen Zugang zur Neurokognitionsforschung.
Die Situation der Pragmatik als Theorie stellt sich
relativ uneinheitlich dar. Die oben skizzierten, recht
unterschiedlichen Ansätze stellen nur etablierte Bei-
spiele bestimmter Theorieentwürfe dar, die zudem
nach wie vor als Forschungsorientierung dienen. Es
besteht eine gewisse Spannung zwischen der auf die
Phänomene bezogenen Forderung nach der Berück-
sichtigung relevanter Kontextfaktoren und der theo-
retischen Forderung zur Bereitstellung invarianter, in
bestimmter Weise kontextunabhängiger, Begriffe. Da-
bei taucht zudem die Frage auf, ob Pragmatik (i) in ge-
wisser Weise als ein additives Theorieformat verstan-
den wird, welches sich als Erweiterung einer Syntax-
bzw. Semantiktheorie versteht bzw. auf diese Theorien
aufsetzt oder (ii) ob der in die Optik genommene Phä-
nomenbereich mit einem unabhängigen Theoriefor-
mat, welches nicht mit einer sprachphilosophischen
Betrachtung verschmilzt, erfasst werden soll. Austins
anfängliche Unterteilung der Äußerungen in konstati-
ve und performative fällt wohl unter (ii). Seine Sprech-
aktkonzeption fällt eher unter (i), da der lokutionäre
Akt mit seinen Teilakten – phonetischer, phatischer
und rhetischer Akt – die Basis für den illokutionären
Akt bildet. Damit werden Akustik, Phonetik, Syntax
und Semantik zu relevanten Theorien für eine umfas-
sende Sprechakttheorie. Bestimmte Ansätze, die sich
auf Begriffe wie ›Relevanz‹, (kollektive) ›Intention‹
konzentrieren, können sich als Forschungsprogram-
me in der Richtung (ii) präsentieren. Auf jeden Fall
stellt sich Pragmatik als eine höchst aktuelle, vielfälti-
ge und lebendige Forschungslandschaft dar, in der
auch etablierte Sichtweisen auf den Begriff ›Theorie‹
kritisch hinterfragt werden.
Literatur
Aristoteles (1995): Philosophische Schriften. 6 Bände. Ham-
burg.
Austin, John Langshaw (1962): How to Do Things with
Words. The William James Lectures delivered at Harvard
University 1955. Oxford.
Bühler, Karl (1934): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunk-
tion der Sprache. Jena.
1 Pragmatische Forschung unter wissenschaftsgeschichtlichem Aspekt
12
Carnap, Rudolf (1942): Introduction to Semantics. Cam-
bridge, Mass.
Carnap, Rudolf (1955): Some concepts of pragmatics. In:
Philosophical Studies: An International Journal for Phi-
losophy in the Analytic Tradition. Bd. 6(6), 89–91.
Enache, Cătălin (2007): [PRAGMATA UND CHREMATA]
ΠΡΑΓΜΑΤΑ und ΧΠΗΜΑΤΑ. Ein Beitrag zum Verständ-
nis der ontologischen Terminologie Platons. In: Rhei-
nisches Museum für Philologie 150, Bad Orb, 239–262.
Frege, Gottlob (1879): Begriffsschrift. Eine der arithmeti-
schen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens.
Halle.
Frege, Gottlob (1892): Über Sinn und Bedeutung. In: Zeit-
schrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF
100/1, 25–50.
Frege, Gottlob (1918/19): Der Gedanke. Eine logische
Untersuchung. In: Beiträge zur Philosophie des deutschen
Idealismus 1, 58–77.
Grice, Herbert Paul (1989): Studies in the Way of Words.
Cambridge, Mass.
James, William (1907): Pragmatism. A New Name for Some
Old Ways of Thinking. New York/London/Bombay u. a.
Malink, Marko (2015): The beginnings of formal logic:
Deduction in Aristotle’s Topics vs. Prior Analytics. In:
Phronesis 60, 267–309.
Montague, Richard (1968): Pragmatics. In: Raymond Kli-
bansky (Hg.): Contemporary Philosophy. A Survey. Flo-
rence, 102–122.
Morris, Charles William (1938): Foundations of the Theory
of Signs. Chicago/Cambridge.
Morris, Charles William (1946): Signs, Language, and Beha-
vior. New York.
Morris, Charles William (1965): On the unity of the prag-
matic movement. In: Rice University Studies 51(4), 109–
119.
Peirce, Charles Sanders (1998): The essential Peirce. Selected
philosophical writings, Bd. 2 (1893–1903). In: The Peirce
Edition Project (Hg.): Bloomington/Indianapolis [1903].
Reinach, Adolf (1905): Über den Ursachenbegriff im gelten-
den Strafrecht. Leipzig.
Reinach, Adolf (1913): Zur Phänomenologie des Rechts.Die
apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes. In:
Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische For-
schung 1, 685–847.
Russell, Bertrand (1905): On denoting. In: Mind, New
Series, Bd. 14(56), 479–493.
Russell, Bertrand/Whitehead, Alfred North (1910–1913):
Principia Mathematica. Bd. 1. Cambridge.
Stalnaker, Robert (1970): Pragmatics. In: Synthese 22(1–2),
272–289.
Stanford Encyclopedia of Philosophy, Eintrag: Two-Dimen-
sional Semantics. In: https://plato.stanford.edu/entries/
two-dimensional-semantics/.
Strawson, Peter Frederick (1950): On referring. In: Mind,
New Series, Bd. 59(235), 320–344.
Wittgenstein, Ludwig (1953): Philosophische Untersuchun-
gen. Oxford.
Ingolf Max
I Tradition
13
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
2 Methodologie der Pragmatik
2.1 Vorbemerkungen
In diesem Kapitel werden folgende Fragen umrissen:
Wie lassen sich die Daten, mit denen in der Pragmatik
gearbeitet wird, beschreiben und welche Methoden
werden dabei angewandt, um Fragestellungen zu be-
arbeiten? Wie gelangt die Pragmatik zu neuen Er-
kenntnissen und wie verfeinert sie bestehendes Wis-
sen? Intuition und Introspektion stellen dabei als Me-
thode der Pragmatik den Ausgangspunkt dieses Kapi-
tels dar. Die Hinwendung zur Empirie und mit
welchen Daten im Rahmen verschiedener Unter-
suchungen gearbeitet wird, wird im weiteren Verlauf
beispielhaft an den Arbeitsweisen der Analyse von
Gesprächen, der experimentellen Pragmatik sowie
der Korpuspragmatik erläutert.
2.2 Introspektion und Intuition
Introspektion und Intuition können in diesem Rah-
men verstanden werden als das Denken und Ziehen
von Schlüssen über Sprache basierend auf Erfahrun-
gen sowie Wissensbeständen des eigenen Sprach-
gebrauchs (vgl. Bednarek 2011: 539). Hypothesen in
Bezug auf konkrete Phänomene können an einem
oder mehreren erdachten Beispielen mithilfe der eige-
nen Sprachkompetenz untersucht werden. Dabei wird,
um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen oder Annah-
men zu bestätigen, die Argumentationsstruktur auf die
eigene Erfahrung und Beobachtung mit und durch
Sprache gestützt.
Nicht wenige traditionelle Forschungsgegenstände
der Pragmatik wie z. B. Sprechakte, Implikaturen und
Präsuppositionen werden mithilfe von Introspektion
und Intuition der Untersuchenden betrachtet. Die
Sprachbeispiele mit denen H. Paul Grice, John L. Aus-
tin und andere arbeiteten, um ihre Hypothesen zu
stützen und Theorien zu entwickeln, sind erdacht oder
erinnert und nicht im Rahmen einer systematisch
kontrollierten Datenerhebung entstanden. Auch ko-
gnitionslinguistisch ausgerichtete Theorien wie bei-
spielsweise die Relevanztheorie nutzten zu Beginn ih-
rer Entwicklung die von Grice eingeführten und intui-
tionsbasierten Konzepte des Kooperationsprinzips
und der Konversationsmaxime, um die eigene Argu-
mentation zu stützen (vgl. Sperber/Wilson 1981). Ins-
besondere die detaillierten Auseinandersetzungen
mit ein und demselben Sprachbeispiel (denken wir an
Searles die Katze ist auf der Matte), ermöglich(t)en es
viele Interpretationsmöglichkeiten vor unterschiedli-
chen Äußerungskontexten zu durchdenken und ad-
äquate Erklärungsansätze für diese zu entwickeln.
Die so introspektiv gewonnenen Hypothesen bie-
ten im besten Falle die Möglichkeit der empirischen
Überprüfbarkeit (z. B. im Rahmen experimenteller
Untersuchungen, korpusgestützter Studien oder Ge-
sprächsanalysen). Je nach Datenlage kann die Hypo-
these dann bestätigt oder abgelehnt und/oder verän-
dert werden.
Für Doris Schönefeld (2011: 4 f.) stellen Introspekti-
on und Intuition Formen der empirischen Sprachwis-
senschaft dar; denn auch in der Selbstbeobachtung
werden sprachliche Daten gesammelt, untersucht und
beschrieben, wenn auch nur die dem Untersuchenden
eigens zugänglichen. Bublitz/Norrick (2011: 5) vertre-
ten einen ähnlichen Standpunkt: »Introspection counts
as data.« Robert de Beaugrande (1991: 2) beschreibt
dies jedoch als Zwickmühle des Linguisten; Sprache
kann immer nur durch die Sprache des Beobachtenden
interpretiert und nicht als etwas Sprachunabhängiges
betrachtet werden. »In consequence, linguists deal
with data in whose constitution and interpretation they
are always to some degree involved [...]«.
2.3 Von der Intuition zu performance data
Introspektiv gewonnene Daten leisteten und leisten,
wie oben erläutert, einen unverzichtbaren Teil zur Er-
kenntnisgewinnung sowie Hypothesen- und somit
auch Theoriebildung in der Pragmalinguistik. Die
Grenzen sowie Vertiefung und Präzisierung von be-
reits bestehendem Wissen von und durch Introspekti-
on und Intuition sind jedoch nicht von der Hand zu
weisen. An dieser Stelle soll dargestellt werden, welche
Gründe es für die auf »performance data« (Adolphs
2008: 21) ausgerichtete Theoriebildung und -präzisie-
rung gibt.
Probleme, die sich ergeben, wenn allein Introspek-
tion und Intuition als Datenbasis bzw. Wissensquelle
für Erklärungsansätze dienen, werden u. a. von Ira
Noveck und Dan Sperber (2007) diskutiert. Insbeson-
dere die Tatsache, dass häufig mit erdachten Äußerun-
gen von nicht existierenden Kommunikationsteilneh-
mern gearbeitet wird, sei ihrer Ansicht nach proble-
matisch, da es sich bei deren Interpretationen nicht
um tatsächliche Intuition handele, sondern eher um
»educated guesses [...] about hypothetical pragmatic
facts, but are not themselves pragmatic facts and they
2 Methodologie der Pragmatik
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_2
14
may well in error« (ebd.: 3). Ebenso problematisch sei
die Tatsache, dass die eigene Sprachkompetenz Gren-
zen unterworfen ist und auch nur die Sprachbeispiele
introspektiv untersucht werden können, die dem
Sprecher ›in den Sinn kommen‹ oder als angemessen
erscheinen (vgl. hierzu Henne/Rehbock 2012: 33 f.).
Uli Sauerland und Petra Schumacher (2016: 5) ma-
chen deutlich, dass pragmatische Theorien, welche auf
dem Griceschen Grundgerüst aufbauen, beobach-
tungsbasiert sind. Um jedoch nennenswerte Fort-
schritte in der Pragmatik erzielen zu können, müssten
überprüfbare Hypothesen in einem formalisierten
theoretischen System aufgestellt und diese mit dafür
geeigneten Methoden getestet werden können. Das
Nichtvorhandensein solch überprüfbarer Hypothesen
hätte zu einem Mangel an Methoden zur Überprü-
fung von Annahmen geführt, welche nicht allein auf
Beobachtung und Intuition basieren. Formlose Be-
obachtungen allein genügen hier nicht mehr, denn:
»[...] further progress requires experimental methods
because they are more sensitive than informal obser
vations and can test hypotheses that are too fine
grained for observation alone. Pragmatics differs in
this respect from other areas such as syntax and se
mantics, where observation based research has al
ready enabled researchers to formulate sophisticated,
precise theories.« (ebd.: 5)
Auch Noveck/Sperber (2007) plädieren für den Ein-
satz experimenteller Methoden, denn diese unterlie-
gen »strict methodological criteria and measure just
what they are intent on measuring« (ebd.: 3). Die da-
durch gewonnenen Daten können Aufschluss über
kognitive Mechanismen geben, welche allein durch
Intuition nicht zugänglich sind.
Die Daten der Pragmatik müssen jedoch nicht in
einem experimentellen Setting erhoben werden.
Ebenso sind authentische Gesprächsdaten, wie sie bei-
spielsweise im Rahmen der Gesprächsanalyse ver-
wendet werden, Grundlage für empirische Unter-
suchungen. Wie in Abschnitten 4. und 6. deutlich
wird, können auch schriftsprachliche Daten der On-
line-Kommunikation oder gar gescriptete Dialoge aus
Literatur und Fernsehen analysiert werden.
Was jedoch die Datenerfassung der Introspektion
und der Datenerfassung von größeren und vor allem
systematisch angelegten Studien, Untersuchungen
und Experimenten unterscheidet, ist die Möglichkeit
einer größerenDatenmenge und dass vom Forscher
unabhängig produzierte Daten analysiert werden; es
handelt sich um »other-oriented observation« (de
Beaugrande 1991: 2). Monika Bednarek spricht in die-
sem Zusammenhang von »attested data« (2011: 540),
Svenja Adolphs von »language-in-use« und »perfor-
mance data« (2008: 21 f.), Geoffrey Sampson von »in-
terpersonally-observable data« (2005: 23). Diese Be-
griffe bezeichnen demnach Sprachdaten, welche tat-
sächlich von Sprecher/innen oder Schreiber/innen in
konkreten Kontexten produziert worden sind (vgl.
Bednarek 2011: 540). Diesen Daten gegenüber stehen
nicht-attestierte Sprachbeispiele, welche introspektiv
gewonnen werden und keine tatsächlich getätigten
Entsprechungen haben. Dabei stehen weder Informa-
tionen über Sprecher, Äußerungszeitpunkt und -ort
sowie Ko-Text zur Verfügung, da diese nicht ›existie-
ren‹ und nur vom Forschenden selbst zum Zwecke der
Explikation einer Annahme oder Theorie konstruiert
werden (vgl. ebd.: 539).
Im Folgenden werden drei empirisch ausgerichtete
Methoden, welche in der Pragmatik Anwendung fin-
den, näher betrachtet: die Analyse von Gesprächen,
die experimentelle Pragmalinguistik sowie der Be-
reich der Korpuspragmatik.
2.4 Gesprächsanalyse
Die Gesprächsanalyse gilt als eine Methode, welche
ein »radikale[s] Empirieverständnis« vertritt (Dep-
permann 2008: 10 f.) bzw. dem »strikten Empirismus«
(Mroczynski 2014: 35) zugeordnet werden kann. An-
hand authentischer Gesprächsdaten untersucht sie
z. B. laut Arnulf Deppermann (2008: 9) »nach welchen
Prinzipien und mit welchen sprachlichen und ande-
ren kommunikativen Ressourcen Menschen ihren
Austausch gestalten und dabei die Wirklichkeit, in der
sie leben, herstellen«. Dabei wird u. a. das Ziel ver-
folgt, den globalen Verlauf und das lokale Manage-
ment von Gesprächen zu konstatieren.
Obwohl die Gesprächsanalyse nicht als eine ur-
sprünglich pragmalinguistische Methode aufgefasst
werden sollte, da sie sich aus der sozialwissenschaft-
lich ausgerichteten Ethnomethodologie entwickelte,
wird die Arbeitsweise dennoch seit Mitte der 1970er
Jahre angewandt, um pragmalinguistische Phänome-
ne und Fragstellungen an authentischem Sprachmate-
rial zu untersuchen (vgl. Brinker/Sager 2010: 16 f., für
eine ausführliche Darstellung der Entwicklung der
Gesprächsanalyse im deutschsprachigen Raum; s. Bü-
cker Kap. II.4 sowie Schwitalla 2001).
Robert Mroczynski (2014: 37 ff.) grenzt die linguis-
I Tradition
15
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
tische Teildisziplin der Gesprächslinguistik von der
klassischen eher »an soziologischen Phänomenen in-
teressiert[en]« Gesprächsanalyse ab, indem er deut-
lich macht, dass sich Erstere insbesondere in Bezug
auf Methoden- und Datenpluralität offen zeigt. Ob-
wohl beide Bereiche jedoch weiterhin der klare Bezug
auf die Empirie (vgl. ebd.: 42) eint, werden in der Ge-
sprächslinguistik auch Aspekte untersucht, welche
nicht anhand der vorliegenden Daten nachgewiesen
werden können (vgl. ebd.: 37). Dies bedeutet, dass
auch Aspekte eines Gesprächs für den Untersuchen-
den als bedeutungs- und untersuchungsrelevant ange-
sehen werden können, die für die am Gespräch betei-
ligten weniger oder gar nicht relevant zu sein schei-
nen, wie z. B. Ironie oder auch konversationelle Impli-
katuren, auf welche nicht weiter in einem Gespräch
eingegangen wird.
Laut der display-These im Rahmen der Gesprächs-
analyse wird davon ausgegangen, dass »Gesprächs-
partner einander offen aufzeigen, welchen Sinn und
welche Bedeutsamkeit sie ihren Äußerungen wech-
selseitig zuschreiben« (Deppermann 2008: 50), dies
hat Folgen bezüglich »methodologische[r] Leitlini-
en« (ebd.: 51): Gesprächsanalytiker sollten in der La-
ge sein, »zu explizieren, daß und wie die Äußerungen
der Gesprächsteilnehmer im Sinne seiner Aussagen
interpretiert werden können« (ebd.: 51). Hiermit im
Zusammenhang steht ebenfalls die Unterscheidung
von Sinn und Bedeutung einer Äußerung, welche in
der Gesprächslinguistik berücksichtigt wird und aus
pragmalinguistischer Sicht relevant ist.
Zu Beginn einer gesprächslinguistischen Arbeit
steht immer die Forschungsfrage bzw. eine Arbeits-
hypothese. Wird die Entwicklung dieser anhand bereits
bestehender Theorien und Konzepte entwickelt, kann
nach Brinker/Sager (2010: 23) von einem »problemori-
entieren Vorgehen« gesprochen werden, wobei sich
hier die Auswahl des Datenmaterials an der Fragestel-
lung orientieren muss. Anders ist dies bei der »mate-
rialorientierten« Vorgehensweise (vgl. ebd.); hier wird
die Fragestellung erst nach der Auseinandersetzung
mit den Daten entwickelt, sie ist also materialgestützt,
da die Daten bereits vorliegen (zur Problematik der ma-
terialgestützten Entwicklung von Untersuchungsfra-
gestellungen vgl. Deppermann 2008: 19 f.).
Unabhängig davon, für welche der beiden Vor-
gehensweisen sich die Untersuchenden entscheiden,
muss eine Vorauswahl des zu untersuchenden Mate-
rials stattfinden. Schon die Entscheidung die Aufnah-
me des einen Gesprächs dem anderen vorzuziehen
(z. B. ärztliches vs. studentisches Beratungsgespräch),
verlangt die Auseinandersetzung mit einem zugrun-
deliegenden Forschungsinteresse. Ohne Rückgriff auf
bereits bestehende Arbeiten, welche meist in einem
wissenschaftlichen Diskurs eingebettet sind, kann
eher schwerlich begründet werden, warum ein Ge-
spräch für eine Untersuchung interessant erscheint.
Generell besteht jedoch der Anspruch, dass mit
keinem allzu festen Theorie- und Begriffskonzept an
die Analyse herangegangen wird; dies bietet dem/der
Untersuchenden die Möglichkeit auch noch während
der fortschreitenden Analyse die Fragestellung dem
Material anzupassen sowie Aspekten Raum zu geben,
die zu Beginn der Arbeit als nicht relevant oder un-
interessant angesehen wurden. Ebenso kann damit
der Fehler vermieden werden, nur das zu sehen, was
mit der Fragestellung und der zugrunde gelegten
Theorie in Einklang zu bringen ist. Mroczynski
spricht von einer »gezielten Veränderbarkeit«, welche
»den anfänglichen Horizont zu überwinden ermög-
licht und dadurch Raum für alternative Sichtweisen
schafft« (Mroczynski 2014: 47).
Das Gespräch: Datengrundlage, Aufzeichnung,
Transkription
Das authentische Gespräch stellt die Datengrundlage
einer gesprächslinguistisch ausgerichteten Unter-
suchung dar. Es handelt sich dabei um Fälle gespro-
chener Sprache, welche im Rahmen eines zweck-
gerichteten kommunikativen Austausches zwischen
mindestens zwei oder mehr Gesprächspartnern, pro-
duziert wird. Die am Gespräch Teilnehmenden wech-
seln dabei fließend von der Sprecher/innen- in die
Hörer/innen-Rolle und erzeugen sequentielle Ge-
sprächsbeiträge, die sich inhaltlich aufeinander bezie-
hen sowie »intentional und partnerorientiert« (Linke/
Nussbaumer/Portmann 2004: 297) sind. Gerade die-
ser intentionale Charakter macht das Gespräch als
Untersuchungsgegenstand interessant und unabding-
bar für die Pragmatik; die Gestaltung eines Austau-
sches und die dabei vollzogene Herstellung der Wirk-
lichkeit durch die Gesprächsteilnehmer wird als Han-
deln durch und mit Sprache verstanden.
Um Gespräche, welche flüchtige Ereignisse darstel-
len, somit aufgrund ihrer zeitlichen Gebundenheit
wieder vergehen, für eine Analyse nutzbar zu machen,
müssen diese konserviert werden. Eine qualitativ hoch-
wertige Ton- und Videoaufnahme ist dabei Grund-
voraussetzung (vgl. Sager 2001: 1025). Generelle Eigen-
schaften (was wurde wie gesagt), aber auch non-verbale
oder körperlich-visuelle Informationen, wie z. B. Ges-
2 Methodologie der Pragmatik
16
tik, Mimik, Blickverhalten und Körperorientierung
(vgl. Stukenbrock 2013: 252) eines Gespräches können
und sollen somit in ihrer Natürlichkeit für wiederholtes
Ansehen und Hören vorbereitet werden.
Hierin besteht ein großer Unterschied gegenüber
der Arbeit an erdachtem oder erinnertem Sprach-
material: Es handelt sich um den Prototyp von attested
data. Im Idealfall kann durch das Beständig-Machendes Gespräches den Problemen des Informationsver-
lustes aufgrund kognitiver Leistungsbeschränkungen
sowie der subjektiven Wahrnehmung, welche Erwar-
tungen, Interessen und Motivationen der/des Ana-
lysierenden in den Vordergrund rücken und steuern
vorgebeugt werden (vgl. Henne/Rehbock 2012: 37 f.).
Auch der Anspruch an Natürlichkeit der Gesprächs-
daten kann durch den Untersuchenden beeinflusst
werden; bekannt ist dieses Phänomen unter dem Be-
griff ›Beobachterparadoxon‹ (vgl. Labov 1971). Als na-
türlich sind solche Gespräche zu bewerten, die auch
ohne die Gegenwart des Beobachtenden bzw. der tech-
nischen Aufnahmegeräte stattgefunden hätten. Je-
doch: Wie natürlich sind Gespräche, wenn sich die
Teilnehmenden beobachtet oder gar ›analysiert‹ füh-
len? Die Erhebung der gewünschten Daten erfordert
technische Aufnahmen, welche qualitativ hochwertig
sein sollten; dafür greift der/die Untersuchende mehr
oder weniger stark in den natürlichen Hergang eines
Gesprächs ein. Die Datenerhebung selbst ist ein »kom-
munikativ-sozialer Vorgang« (Sager 2001: 1024), wel-
cher Einfluss auf die Natürlichkeit und Störfreiheit des
Gespräches nehmen kann. (Für eine ausführliche Dar-
stellung des Problems und mögliche Lösungsansätze
vgl. u. a. Henne/Rehbock 2012: 44 f.; Schu 2001: 1093;
Brinker/Sager 2010: 31 ff.)
Liegt eine Ton- oder Videoaufnahme des Gesprä-
ches vor, wird diese nach bestimmten Transkriptions-
konventionen verschriftet. Die Transkription ermög-
licht es, Eigenschaften gesprochener Sprache festzuhal-
ten, welche nicht durch die gebräuchliche Orthogra-
phie dargestellt werden können. Im deutschsprachigen
Raum überwiegt das gesprächsanalytische Transkripti-
onssystem GAT bzw. dessen Weiterentwicklung GAT 2
(vgl. Selting et al. 2009), welches unterschiedliche Ana-
lysetiefen je nach Forschungsinteresse (Minimal-, Ba-
sis-, Feintranskript) ermöglicht.
Je nach Fragestellung oder Untersuchungsschwer-
punkt hat der/die Analysierende selbst zu entschei-
den, welche Eigenschaften sowie Abschnitte eines Ge-
spräches transkribiert werden. So scheint es sinnvoll,
bei Interesse an ironischen Äußerungen den Ton-
höhenverlauf zu erfassen, da des Öfteren durch diesen
eine ironische Lesart signalisiert werden kann (vgl.
Kreuz/Roberts 1995). Eine Videoaufnahme könnte
hier ebenfalls hilfreich sein; Mimik, insbesondere Be-
wegungen im Bereich der Augen, welche bei iro-
nischen Äußerungen unter Umständen eingesetzt
werden könnten, lassen sich nicht mit einer Tonauf-
nahme festhalten und entsprechend auch nicht ad-
äquat beschreiben und untersuchen.
Ist die technische Phase, bei der am Ende die Video-
bzw. Tonaufnahmen stehen, abgeschlossen, liegen Se-
kundärdaten vor, welche nach der Transkription noch-
mals verkürzt und modifiziert für die eigentliche Ana-
lyse als Tertiärdaten bereit stehen (vgl. Brinker/Sager
2010: 35 f.). Das angefertigte Transkript stellt dabei den
Ausgangspunkt der Analyse dar und ermöglicht »ein
Datensegment beliebig lange in Bezug auf unterschied-
liche Gesichtspunkte in verschiedenen Auflösungs-
niveaus zu untersuchen« (Deppermann 2008: 40).
Dass nicht immer ein eigens für das Untersuchungs-
interesse relevantes Gespräch aufgenommen werden
kann bzw. muss, zeigt z. B. die Arbeit von Anja Stuken-
brock (2014). Materialgestützt und theoriebasiert setzt
sich die Autorin mit einem pragmalinguistischen Phä-
nomen auseinander. Stukenbrock interessiert sich in
ihrer multimodalen Analysen für die Frage, inwiefern
deiktische Ausdrücke und der Einsatz körperlicher
Ressourcen (Gestik, Mimik, Körper- und Augenbewe-
gungen) in Bezug auf die Verschiebung einer physisch
präsenten Origo hin zu einem imaginierten Feld zu-
sammenspielen.
Für ihre Untersuchung greift Stukenbrock auf schon
bestehende Gesprächsdaten zurück, Videodateien von
face-to-face-Interaktionen ganz unterschiedlicher Art
(u. a. aus Selbstverteidigungstrainings, Doktor-Patient-
Interaktionen, Reality-TV-Sendung, Kochsendungen,
formellen Gesprächen sowie institutionellen Settings;
vgl. Stukenbrock 2014: 73). Ebenso bezieht die Autorin
Interaktionen mit ein, an denen mehr als zwei Ge-
sprächspartner teilnehmen.
Stukenbrock interessiert sich insbesondere für die
Verwendung körperlicher Ausdrucksressourcen der
Gesprächsteilnehmer und stützt sich dabei auf die Me-
thode der multimodalen Analyse der Gespräche. Hier-
bei werden Videokameras für die Aufnahme von Be-
wegungen, welche während des Sprechens stattfinden,
eingesetzt. Stukenbrock verwendet dafür Standbilder,
diese »werden aus der Videoaufnahme ausgewählt; sie
erfassen entscheidende Momente für ein bestimmtes
Phänomen (z. B. den Gestenverlauf)« (Stukenbrock
2013: 228). Bei der Transkription werden dann Ver-
bindungslinien eingesetzt, welche es ermöglichen, Ge-
I Tradition
17
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
sprochenes den dabei ausgeführten Bewegungen so
gut wie möglich zuzuordnen. Neben dem Standbild-
verfahren können Bewegungen auch symbolisch im
Transkript festgehalten werden (vgl. Stukenbrock
2013: 228 f.). Stukenbrock selbst macht deutlich, dass
bei beiden Varianten der/die Untersuchende selbst
entscheidet, welche Bewegungen als ›wichtig‹ erschei-
nen und dass aufgrund des Umfangs nicht alle Bewe-
gungen transkribiert werden (können) (vgl. ebd.).
Stukenbrocks Arbeit stützt sich auf theoretische
Vorbetrachtungen und leistet mit ihren Erkenntnissen
einen Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs und
Fortschritt der Pragmatik. Der theoretische Rahmen
ist hierbei klar abgesteckt: Karl Bühlers Konzept der
Deixis am Phantasma. Das Untersuchungsinteresse
leitet in diesem Fall die Entscheidung zur multimoda-
len Analyse; will ich wissen, wie Sprache und Bewe-
gung zusammen agieren, muss ich beides festhalten,
um es zusammenhängend analysieren zu können.
Die vorgestellte empirische Untersuchung arbeitet
im Rahmen der Gesprächsanalyse und geht mit einer
konkreten Fragestellung, welche theoretisch basiert
ist, an das Untersuchungsmaterial heran. Authenti-
sche Gesprächsdaten dienen als Grundlage für die Be-
antwortung der Fragestellung bzw. Ausgangsthese. An
ihnen kann auch gezeigt werden, ob sich das konzep-
tuelle Grundgerüst eignet bzw. erweitert und/oder
verändert werden muss.
2.5 Experimentelle Pragmatik
Bei der experimentellen Pragmatik kann von einem
relativ jungen Bereich der Pragmatik gesprochen wer-
den, welcher sich im Spannungsfeld von pragmalin-
guistischer Theorie und psycho- und neurolinguisti-
scher Methode entwickelt hat (vgl. Noveck/Sperber
2004: 1). Dabei wird primär die empirische Unter-
suchung bereits bestehender pragmalinguistischer
Theorien angestrebt. Hierbei sind es die durch experi-
mentelle Untersuchungen erhobenen Daten, welche
dazu dienen sollen, aus pragmalinguistischen Theo-
rien aufgestellte Hypothesen zu überprüfen.
Pragmalinguistische Theorien dienen dabei als
Ausgangspunkt empirischer Untersuchungen. Somit
müssen empirisch überprüfbare Hypothesen aus den
Theorien ableitbar sein und dafür geeignete Metho-
den der Untersuchung gefunden oder auch, wenn nö-
tig, entwickelt werden. Den in den überprüften Theo-
rien verwendeten Termini werden, im Rahmen der
Operationalisierbarkeit, messbare Einheiten zugewie-
sen. Die aufgestellten Hypothesen können dabei ent-
weder falsifiziert werden oder die Daten weisen bei
der Interpretation Hinweise für die Korrektheit der
Hypothesen auf. Die Ergebnisse der experimentellen
Pragmatik entsprechen demnach nicht der bloßen
Verfeinerung bereits bestehender Theorien. Vielmehr
können und sollen sie angewandt werden, um das ge-
nerelle Wissen zur Sprachverarbeitung, sei es das Ver-
stehen, die Produktion oder die Sprachentwicklung,
zu erweitern und zu präzisieren.
Zusätzlich rückt die Verwendung neurolinguisti-
scher Untersuchungsmethoden die bisher eher ide-
ellen und somit immateriellen Theoriebegriffe und
Untersuchungsgegenstände, wie z. B. wörtliche/über-
tragene Bedeutung, Ironie und Metapheroder kon-
textuelle Relevanz von Äußerungen, in den Bereich der
prinzipiell möglichen Lokalisierbarkeit im mensch-
lichen Gehirn (einen Überblick zu Metapher, Ironie
und Idiom bieten Bohrn/Altmann/Jacobs 2012; zur
Relevanz vgl. Feng et al. 2017). Die Prozesse, welche
bei der Verarbeitung, Interpretation sowie der Produk-
tion von konkreten Äußerungen ablaufen, können
ebenso zeitlich fixiert werden. Dies ist insofern hilf-
reich und notwendig, da doch einige Theorien sich
voneinander unterscheidende Aussagen über den zeit-
lichen Verlauf einer Äußerungsinterpretation machen
(s. hierzu bspw. die Experimente zum zeitlichen Ver-
lauf bei der Interpretation von skalaren Implikaturen
vgl. z. B. Bott/Bailey/Grodner 2012; Breheny/Fergu-
son/Katsos 2012).
Methoden
Die Methoden der experimentellen Pragmatik ent-
stammen zu einem großen Teil der Psycho- und Neu-
rolinguistik. Gemeinsam ist allen Methoden, dass
den am Experiment teilnehmenden Probanden »un-
ter Ausschluss möglichst vieler störender Einflussfak-
toren – eine ›interpretierbare‹ Reaktion auf einen
komplexen kognitiven Reiz« (Schlesewsky 2009: 170)
elizitiert werden soll. Die so gewonnenen Daten sind
demnach attestiert und elizitiert. Es gibt hierbei ver-
schiedene Herangehensweisen die Methoden hin-
sichtlich unterscheidender Merkmale zu kategorisie-
ren. Die häufigste Differenzierung (vgl. u. a. Schwarz-
Friesel 2008; Kaiser 2013) unterteilt zwischen off-
line- und on-line-Methoden. Erstere erheben Daten,
welche erst nach der Verarbeitung eines Reizes ge-
messen werden können und geben Aufschlüsse über
die Interpretation eines Reizes. In den meisten Fällen
handelt es sich hierbei um Folgen einer Sprachver-
2 Methodologie der Pragmatik
18
arbeitung (vgl. Kaiser 2013: 137). Klassische Vertreter
dieser Methoden sind (Multiple-Choice-)Fragebö-
gen, Discourse-Completion-Tasks sowie Wort-Frag-
ment-Vervollständigungsaufgaben.
On-Line Methoden wiederum können Prozesse er-
fassen, welche direkt während der Verarbeitung eines
Reizes ablaufen. Somit können auch die Prozesse der
Sprachverarbeitung erfasst werden, welche sehr rasch,
innerhalb weniger Millisekunden und für das mensch-
liche Auge nicht wahrnehmbar im Kognitionsapparat,
ablaufen (für eine ausführliche Diskussion vgl. Kaiser
2013). Insbesondere die Messung ereigniskorrelierter
Potentiale (EKP) kann hier als eine Messtechnik ange-
führt werden.
Des Weiteren ist es möglich, die Methoden dahin-
gehend zu unterscheiden, ob die Daten auf dem Ver-
halten der Probanden basieren (bspw. Akzeptabilitäts-
urteile von Äußerungen oder psychologische Tests)
oder ob diese auf physiologische Vorgänge der Pro-
banden (wie z. B. Messung ereigniskorrelierter Poten-
tiale, Blickbewegungen oder Stoffwechselvorgängen
im Gehirn) zurückzuführen sind (vgl. Haspelmath
2009: 158).
Beispielstudien zur skalaren Implikaturen
Im Folgenden sollen auszugsweise einige der Metho-
den unter Rückbezug auf Beispielstudien erläutert
werden. Hierbei liegt der Schwerpunk auf Experimen-
ten, welche bezüglich der Verarbeitung von skalaren
Implikaturen durchgeführt wurden. Die Begründung
hierfür liegt zum einen in der Menge an vorliegenden
Experimenten, welche mit vielen verschiedenen Me-
thoden arbeiten, und zum anderen kann an der gegen-
seitigen Beeinflussung der Experimente gezeigt wer-
den, wie sich diese auf die zugrundeliegenden Theo-
rien auswirken.
Im Rahmen einer Satz-Verifikations-Aufgabe wur-
den Probanden bei Noveck/Posada (2003) angehalten,
ihnen am Computerbildschirm präsentierte Sätze hin-
sichtlich ihrer Wahrheit bzw. Falschheit zu beurteilen.
Die Entscheidung sollten diese durch das Drücken ei-
ner dafür ausgelegten Taste deutlich machen. Dabei
wurde die Zeit, welche die Probanden benötigten, um
eine Entscheidung zu fällen, gemessen. Nicht nur Sät-
ze, sondern auch Bilder können hinsichtlich ihrer
Wahrheit und Falschheit in sogenannten Bild-Verifi-
kations-Aufgaben beurteilt werden. Hierbei werden
den Probanden Bilder präsentiert, begleitet oder ge-
folgt von einem geschriebenen oder gesprochenen
Satz, welche dann im Folgenden beurteilt werden soll.
In Kombination mit anderen Untersuchungsmetho-
den kann ein Phänomen auf diese Weise mithilfe ver-
schiedener Datentypen, wie z. B. durch Messung neu-
rologischer und/oder verhaltensbasierter Faktoren,
untersucht werden (vgl. u. a. Hunt III et al. 2013; Polit-
zer-Ahles et al. 2013; Spychalska et al. 2014).
Die in Noveck/Posada (2003) präsentierten Sätze
ließen sich in offensichtlich richtig (1), offensichtlich
falsch (2) und unterinformativ (3) einordnen.
(1) Einige Teppiche haben Flecken.
(2) Einige Enten haben Kassetten.
(3) Einige Hunde haben Ohren.
Die unterinformativen Sätze sind hierbei von beson-
derer Bedeutung, weil an ihnen beobachtet werden
kann, ob eine sogenannte skalare Implikatur (SI) auto-
matisch, per default gezogen wird oder ob dies nicht
der Fall ist. SI treten im Zusammenhang mit Ausdrü-
cken auf, welche bezüglich ihrer informativen Stärke
auf einer Skala (auch Horn-Skala vgl. Horn 1984,
1989) aufgereiht werden können. In Sätzen wie (3)
wird die skalare Implikatur durch den Ausdruck ›eini-
ge‹ ausgelöst; die Skala sieht dementsprechend fol-
gendermaßen aus: <alle, [...], einige>. Bei der Verwen-
dung eines Ausdrucks der Skala kann davon aus-
gegangen werden, dass alle links davon stehenden
negiert werden können. Hierbei liegt die erste Unter-
maxime der Griceschen Quantitäts-Maxime zugrun-
de: »Make your contribution as informative as is re-
quired (for the current purposes of the exchange)«
(Grice 1975: 45). Der Sprecher drückt mit dem ver-
wendeten skalaren Term genau so viel aus, wie es dem
Zweck des Gesprächs angemessen ist.
Eine vielfach diskutierte Frage ist nun in diesem
Zusammenhang, ob es sich bei den gezogenen Schlüs-
sen um default, also relativ kontextunabhängige und
automatische Interpretationen handelt, so wie es z. B.
Neo-Griceaner Stephen Levinson (2000) annimmt,
oder ob diese immer wieder neu, in Abhängigkeit vom
jeweiligen Kontext (ad hoc), erstellt werden (vgl. Cars-
ton 1995, 2002; Sperber/Wilson 1995). Skalare Impli-
katuren sollten dem Kontext-Modell entsprechend
nur dann gezogen werden, wenn dies vom Kontext
unterstützt wird.
Noveck/Posada (2003) versuchen mit ihrem Expe-
riment Hinweise für die Adäquatheit einer der beiden
Ansätze zu finden. Aufgrund der Einbettung in präzi-
se ausgearbeitete pragmatische Theorien können für
beide Seiten – Neo-Gricescher sowie relevanztheore-
tischer – überprüfbare Hypothesen abgeleitet wer-
I Tradition
19
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
den. Insbesondere der Zeitverlauf bei der Verarbei-
tung von Sätzen mit skalaren Ausdrücken lässt klare
Vorhersagen zu.
Hierbei liegen folgende Annahmen zugrunde:
Wird (3) pragmatisch interpretiert, sollte der Satz als
›falsch‹ beurteilt werden, da nicht nur einige Hunde
Ohren haben, sondern tatsächlich alle. Die Entschei-
dung sollte dementsprechend mehr Zeit in Anspruch
nehmen. Wird die skalare Implikatur nicht gezogen,
so sollte der Satz als ›wahr‹ beurteilt werden, denn da
alle Hunde Ohren haben, so haben offensichtlich auch
einige Hunde Ohren. Man kann hier auch von einem
logischen Urteil sprechen, welches vergleichsweise
schnell gefällt werden sollte.
12 der 19 Probanden beurteilten die unterinforma-
tiven Sätze als falsch, sieben dagegen als wahr. Die
Messung der Reaktionszeit zur Beurteilung der Sätze
ergab, dass die pragmatische Bewertung ›falsch‹ (1203
ms) der unterinformativen Sätze signifikant mehr Zeit
in Anspruch nahm als die logische Bewertung mit
›wahr‹ (655 ms). Vor diesem Hintergrund bietet dem-
nach der relevanztheoretische Ansatz das adäquatere
Erklärungsmodell für die erhobenen Daten.
Gleichzeitig zur Reaktionszeit-Messung wurde ei-
ne Messung ereigniskorrelierter Potentiale (EKP)
durchgeführt. Bei dieser Methode werden im Gegen-
satz zu Reaktionszeit-Messungen oder dem Eye-Tra-
cking keine behavioralen,sondern neurologische Re-
aktionen gemessen. Dafür werden Elektroden auf der
Kopfoberfläche der Probanden angebracht, welche
»elektrische Signale der Großhirnrinde ableiten«
(Schwarz-Friesel 2008: 36), die bei der Verarbeitung
von Sprache entstehen.
Der Vorteil dieser Methode liegt in der Vielfältig-
keit der Informationen, die sich aus den gemessenen
Potentialen ermitteln lassen. Die Wellenprofile der
EKPs können hinsichtlich ihres zeitlichen Auftretens,
ihrer Polarität (positiv oder negativ), ihrer Dauer so-
wie ihrer Verteilung auf der Kopfoberfläche charakte-
risiert werden (vgl. Kaiser 2013: 158). Ereigniskorre-
liert sind die gemessenen Potentiale insofern, als sie
zeitlich an einen konkreten Stimulus oder das Lösen
einer Aufgabe gebunden sind, z. B. die Präsentation
eines bestimmten Wortes in einem Satz. Die vom Sti-
mulus ausgelöste elektrische Aktivität kann somit ge-
messen werden. Im Fall des Experimentes von No-
veck/Posada handelte es sich um das letzte Wort der
präsentierten Sätze (bspw. »Some books have pages«;
Noveck/Posada 2003: 210).
Insbesondere die N400-Komponente, welche u. a.
bei Schwierigkeiten semantischer Integration auftritt,
war von Interesse. Das Wellenprofil schlägt bei dieser
400 ms nach Auftreten des Stimulus negativ aus. Die
Daten ergaben, dass offensichtlich falsche und offen-
sichtlich richtige Sätze eine weitaus stärkere N400-
Komponente gegenüber den unterinformativen Sät-
zen aufweisen. Dies wird von den Autoren dadurch
begründet, dass mehr Interpretationsarbeit geleistet
werden muss, wohingegen die flachere N400-Kom-
ponente der unterinformativen Sätze auf eine geringe
semantische Integrationsarbeit hinweist. Die unter-
informativen Sätze zeigten demnach keine neurona-
len Auffälligkeiten bei der Verarbeitung und dies
selbst bei den Probanden, die die Implikatur tatsäch-
lich zogen. Die skalare Implikatur kann also in diesem
Fall nicht schnell und automatisch gezogen werden,
sondern unterliegt einem »late-arriving, effort-de-
manding decision process« (ebd.: 203).
Die Autoren sehen unter Bezug auf die Interpretati-
on der Daten der Reaktionszeit-Messung im relevanz-
theoretischen Ansatz ein adäquateres Erklärungs-
modell für diese Ergebnisse, da dieses die Voraussage
zulässt, dass ein logisches Urteil weitaus schneller als
ein pragmatisches gefällt werden kann. Pragmatische
Urteile dagegen unterliegen einem kognitiv aufwändi-
geren Prozess, welcher mehr Zeit in Anspruch nimmt
(vgl. ebd.: 209).
Hierbei liegt die Annahme zugrunde, dass die ge-
messene Reaktionszeit als Indikator für die kognitive
Verarbeitungszeit betrachtet werden kann, wobei län-
gere Reaktionszeiten auf einen größeren kognitiven
Verarbeitungsaufwand sowie mögliche Verarbei-
tungsschwierigkeiten hinweisen können (vgl. Kaiser
2013: 137).
An dieser Stelle soll auf zwei Kritikpunkte von
Huang/Snedeker (2009) und Nieuweland et al.
(2010), welche Schwierigkeiten in Bezug auf die In-
terpretierbarkeit und Nachteile bezüglich der Mes-
sung von Reaktionszeiten von skalaren Implikaturen
diskutieren, eingegangen werden. Insbesondere die
Möglichkeit, dass es generell einfacher ist, unterinfor-
mative Sätze als ›wahr‹ zu beurteilen, weil diese leich-
ter mit der eigenen Erfahrung abgleichbar sind und
deswegen kürzere Reaktionszeiten gemessen werden,
wird besprochen. Die pragmatische Interpretation
nehme mehr Zeit in Anspruch, gerade weil sie erst wi-
derlegt werden muss und nicht, weil sie abgeleitet
wird. Des Weiteren wird angemerkt, dass individuelle
Strategien der Probanden beim Lösen von Verifikati-
ons-Aufgaben Einfluss auf die Reaktionszeiten haben
können. So ließe sich erklären, dass einige Probanden
bei Noveck/Posada (2003) generell längere Reakti-
2 Methodologie der Pragmatik
20
onszeiten aufweisen und dies unabhängig vom prä-
sentierten Satztyp.
Andere Untersuchungen ergaben ebenfalls längere
Reaktionszeiten bei der Verarbeitung von skalaren
Implikaturen (vgl. u. a. Bott/Bailey/Grodner 2012;
Bott/Noveck, 2004; Huang/Snedeker 2009). Wie De-
gen/Tanenhaus (2016) jedoch anmerken, werden in
diesen Studien den Probanden einzelne Sätze ohne
jeglichen Kontext präsentiert. Die Probanden haben
also keine Möglichkeit die Bedeutung der Sätze vor ei-
nem Kontext einzuordnen. Dies entspricht nicht all-
täglichen Kommunikationssituationen, in welchen
Gesprächsteilnehmer üblicherweise mit sprachlichen
Äußerungen, welche skalare Ausdrücke enthalten,
konfrontiert sind. Somit können die Ergebnisse nur
für die im Experiment verwendeten Bedingungen als
gültig erachtet werden. Die Experimente von Brehe-
ny/Ferguson/Katsos (2012), Grodner et al. (2010) so-
wie Degen/Tanenhaus (2016) dagegen arbeiten mit
Sätzen, die skalare Ausdrücke enthalten, welche in ei-
nem Kontext präsentiert werden und so eher einer all-
täglichen Sprachsituation entsprechen.
Die oben erwähnte Studie von Grodner et al. (2010)
arbeitet mit dem sogenannten Visual World Paradigm,
um der Frage nachzugehen, wann skalare Implikatu-
ren auftreten relativ zur semantisch-logischen Bedeu-
tung. Den Probanden wurden im ersten Schritt auf ei-
nem Display drei Jungen links im Bild, drei Mädchen
rechts im Bild und in der Mitte Gegenstände dreier
unterschiedlicher Typen präsentiert. Eine Sprachauf-
nahme beschrieb die genaue Anzahl und den Typ der
auf dem Display sichtbaren Dinge. In einem zweiten
Schritt wurden die Gegenstände auf die Jungen und
Mädchen verteilt; die Probanden sollten einer gespro-
chenen Instruktion nach auf z. B. das Mädchen, wel-
ches einige der Bälle hat (›einige-Kind‹), mit dem
Mauszeiger klicken (»Klick on the girl who has summa
[sic!] the balls« (Grodner et al. 2010: 45).
Dabei wurden unter Hinzunahme der Eye-Tra-
cking-Methode die Augenbewegungen der Proban-
den aufgenommen. Eye-Tracking als on-line Methode
ist deswegen gut für die Untersuchung eines zeitlichen
Verarbeitungsverlaufs geeignet, weil Augenbewegun-
gen zeitlich stark an den Sprachfluss gebunden sind;
Sprecher betrachten fast zeitgleich die Gegenstände
über die gesprochen wird. Augenbewegungen können
demnach Aufschluss darüber geben, wie sprachlicher
Input interpretiert wird (vgl. Kaiser 2013: 145 f.). Bei
Grodner et al. wurden die Fixationen der Probanden
auf die dargestellten Kinder gemessen. Dabei ergab
sich, dass die Fokussierung auf das ›alle-Kind‹ fast ge-
nauso schnell verlief wie die auf das ›einige-Kind‹. Zu-
sätzlich konnte gezeigt werden, dass Probanden das
Kind fixierten, welches mit der pragmatischen Inter-
pretation von ›einige‹ übereinstimmt und vermieden
das Kind zu betrachten, welches mit der logischen In-
terpretation von einige (›alle‹) übereinstimmt, noch
bevor der Gegenstand ausgesprochen wurde. Proban-
den lehnten also bereits beim Hören von ›einige‹ die
logische Interpretation ab.
Mit dem Vorhandensein eines ausreichenden Kon-
texts können somit Zeitverzögerungen bei der Ver-
arbeitung von SI zurückgehen. Die Annahme, dass
skalare Ausdrücke generell langsamer verarbeitet wer-
den und demnach das Default-Modell abgelehnt wer-
den müsse, wie es Noveck/Posada (2003) annehmen,
ist somit nicht uneingeschränkt haltbar.
Degen/Tanenhaus (2016) plädieren aufgrund des-
sen für einen constraint-basierten Ansatz, in welchem
die Wahrscheinlichkeit, dass eine SI gezogen wird und
mit welcher Geschwindigkeit dies geschieht, abhängig
ist von der Stärke des Kontextes, in welchem die Äuße-
rung eingebunden ist: »The greater the contextual sup-
port, the more likely the implicature, and the faster it
should be derived« (ebd.: 169). Demnach ist nicht län-
ger die Frage nach der Verarbeitungszeit von skalaren
Implikaturen in dekontextualisierten Sätzen relevant,
sondern die Frage, welche konkreten Kontextfaktoren
wie Einfluss auf die Verarbeitung nehmen und wie sich
diese Faktoren unter der Annahme, dass Sprache effi-
zient verarbeitet wird, verhalten. Somit können An-
nahmen des Default-Modells (Spracheffizienz) sowie
des kontextuellen Ansatzes der Relevanztheoretiker(starker Einfluss des Kontextes) vereint werden (vgl.
ebd.: 197).
2.6 Korpuspragmatik
Eine weitere Möglichkeit pragmalinguistische Phäno-
mene zu überprüfen, bietet die Arbeit mit Korpora.
Ein Korpus stellt »eine Sammlung schriftlicher oder
gesprochener Äußerungen dar [...]« (Lemnitzer/Zins-
meister: 2006: 7). Diese liegen als für Computer zu-
gängliche digitale Daten vor, sind »maschinenlesbar«
(ebd.) und zusätzlich zum Gespräch weitere Informa-
tionen – Metadaten und linguistische Annotationen –
enthalten. Seit den 1960er Jahren stehen Korpora für
die Arbeit an linguistischen Fragestellungen zur Ver-
fügung, die, wie Gisle Andersen (vgl. 2011: 591) je-
doch anmerkt, vorwiegend in den Feldern Syntax, Se-
mantik, Morphologie und Lexikologie genutzt wur-
I Tradition
21
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
den. Vereinzelte frühe pragmatische Studien mit Kor-
pora »include linguistic stylistics [...] and aspects of
text linguistics« (ebd.).
Wie sehr sich die Situation verändert hat, lässt
sich insbesondere an den zahlreichen Publikationen
(Adolphs 2008; Romero-Trillo 2008; Felder/Müller/
Vogel 2012; Aijmer/Rühlemann 2014; Rühlemann/
Clancy 2017), welche sich mit dem Verhältnis von
Pragmatik und Korpuslinguistik auseinandersetzen,
erkennen. Als Bezeichnung für dieses relativ junge
Feld hat sich dabei der Begriff ›Korpuspragmatik‹
etabliert, welcher von Felder/Müller/Vogel (2012: 4 f.)
wie folgt definiert wird:
»[...] linguistische[r] Untersuchungsansatz, der in di
gital aufbereiteten Korpora das Wechselverhältnis
zwischen sprachlichen Mitteln einerseits und Kon
textfaktoren andererseits erforscht und dabei eine Ty
pik von FormFunktionsKorrelation herauszuarbeiten
beabsichtigt. [...] Die Analyse bedient sich insbeson
dere einer Kombination qualitativer und quantitativer
Verfahren.«
Korpora dienen dabei in einem Großteil der Fälle als
Datenquelle der untersuchten Fragestellung; sie stüt-
zen »[...] sich bevorzugt auf Daten, die nicht experi-
mentell evozierten Sprachgebrauchskontexten ent-
stammen oder die experimentell sorgfältig kontrol-
liert wurden« (Bücker 2011). Die durchgeführten Un-
tersuchungen sind entweder korpusbasiert oder
korpusgestützt; bei Ersteren wird so weit wie möglich
theorieunabhängig an das Datenmaterial herangegan-
gen und versucht korpusbasiert zu neuen Erkenntnis-
sen zu gelangen. Korpusgestützt sind dagegen Unter-
suchungen, die theoriegeleitete Hypothesen, welche
vor der Betrachtung der Daten formuliert wurden,
empirisch überprüfen (vgl. Felder 2012: 124).
Dass die ursprünglich größtenteils quantitativ aus-
gerichteten Methoden der Korpuslinguistik für die
Pragmatik von Interesse sind, scheint auf den ersten
Blick verwunderlich; beschäftigt sich doch die Prag-
matik mit sprachlichen Handlungen im Kontext. Wie
Rühlemann/Clancy (2018, im Druck) allerdings deut-
lich machen, stellen moderne Korpora eine Vielzahl
an kontextuellen Daten zur Verfügung. Insbesondere
moderne Korpora gesprochener Sprache werden mit
Informationen zu Alter, Geschlecht, Bildungsniveau,
sozio-kulturellem Hintergrund sowie Hinweisen zur
Kommunikationssituation versehen und bieten so die
Grundlage für die Untersuchung pragmalinguisti-
scher Fragestellungen. Diese machen bisher jedoch ei-
nen relativ kleinen Teil bestehender Korpora aus, so
dass für die jeweiligen Forschungsvorhaben indivi-
duelle Korpora angelegt werden müssen, damit si-
chergegangen werden kann, dass »der jeweilige Unter-
suchungsgegenstand auch angemessen repräsentiert
ist« (Felder/Müller/Vogel 2012: 15).
Prinzipiell bieten Korpora die Möglichkeit, nach
tatsächlich getätigten Äußerungen zu suchen, welche
die erdachten Sprachbeispiele, mit denen sehr lange
in der Pragmalinguistik gearbeitet wurde, ersetzen
können. Wie de Beaugrande (1996: 527) diesbezüg-
lich anmerkt, haben die Daten bereits die Introspek-
tion der Text- oder Äußerungsproduzenten durch-
schritten und somit gehe es nicht länger um die Frage,
welche Äußerungen akzeptabel sind, sondern warum
diese sprachlichen Daten den Weg in das Korpus ge-
funden haben und welche Funktion sie im jeweiligen
Kontext erfüllen.
Die bislang durchgeführten Studien der Korpu-
spragmatik sind insbesondere gekennzeichnet durch
den Versuch die Form einer Äußerung mit ihrer
Funktion in Verbindung zu bringen. Folgende prag-
matische Phänomene wurden bisher mithilfe von
Korpora untersucht: Pragmatische Marker (zu Inter-
jektionen; vgl. u. a. Norrick 2009, zu Diskursmarkern
in öffentlichen Ansprachen; vgl. Han 2011, zu näm-
lich; vgl. Onea/Volodina 2011, zu Reparaturmarkern;
vgl. Pfeifer 2017), Sprechakte (zur Unterbreitung von
Vorschlägen; vgl. Adolphs 2008; zur Antwort auf Dan-
kes-Äußerungen in Abhängigkeit vom sozio-öko-
nomischen Setting; vgl. Rüegg 2014; zur Formulie-
rung von der Notwendigkeit die Toilette aufsuchen zu
müssen; vgl. Levin 2014; zu Direktiva; vgl. McAllister
2014; zu Komplimenten; vgl. Jucker 2007), Sprecher-
einstellungen (zur Prosodie von please und die damit
vermittelte Einstellung des Sprechers; vgl. Wichmann
2004) sowie Referenz (zur Personalreferenz in Sport-
pressekonferenzen und Politikinterviews; vgl. Meier
2018). Andere zentrale Themen wie z. B. konversatio-
nelle Implikaturen lassen sich vergleichsweise schwer
anhand großer Korpora untersuchen, da hier Form
und Funktion typischerweise auseinandergehen und
somit der ›lexikalische Haken‹, welcher als Einstieg in
korpuslinguistische Untersuchungen angesehen wird,
fehlt (vgl. Rühlemann 2012: 290). Insbesondere das
Feld der internetbasierten Kommunikation wird hin-
sichtlich der Pragmatik mithilfe von Korpora unter-
sucht, da die Daten zu einem Großteil schon maschi-
nenlesbar vorliegen (s. Kap. IV.44).
Ein auf der Relevanztheorie basierender Zugang
zur Analyse von Diskursmarkern wird von Andersen
2 Methodologie der Pragmatik
22
(2014) mithilfe einer sprachkontrastierenden Studie
(Englisch und Norwegisch) unternommen. Es wurde
unter Rückgriff auf die Relevanztheorie untersucht,
welche Rollen der Marker as if als nachdrückliche Ab-
lehnung sowie die Interjektion duh in Bezug auf
die Erstellung von Proposition, Explikatur und Impli-
katur einer Äußerung spielen. Für die Studie wurde
eine Vielzahl verschiedener Korpora (schriftsprach-
lich und gesprochensprachlich) herangezogen und
unter Anwendung standardisierter korpuslinguisti-
scher Methoden (wie Analyse von Konkordanzen)
nach relevanten linguistischen Mustern untersucht.
Infrage kommende Token wurden qualitativ bezüg-
lich ihres Kontextes analysiert, wobei sich wieder-
holende Muster und die pragmatische Funktion im je-
weiligen Kontext erfasst wurden.
Es konnte gezeigt werden, dass unabhängig von der
Sprache, as if die nachdrücklich ablehnende Einstel-
lung des Sprechers zur vorher geäußerten Proposition
zum Ausdruck bringt und somit Einfluss nimmt auf
die hörerseitige Erstellung der Explikatur im Sinne
von der Sprecher glaubt nicht, dass P. Die sprachliche
Formel nimmt somit Einschränkungen auf die Erstel-
lung der Explikatur vor (vgl. Andersen 2014: 158).
Die relativ junge Interjektion duh hingegen drückt
eine Art von Geringschätzung oder negativer Einstel-
lung des Sprechers auf das vorher Geäußerte aus, wie
am eigenen Beispiel zur Erläuterung in (5) demons-
triert ist.
(4) Wie bist du in die Wohnung gekommen?
(5) Durch die Tür, duh!
Mit dem Gebrauch von duh kann u. a. deutlich ge-
macht werden, dass die vorher explizit geäußerte Pro-
position offensichtlich wahr ist und diese Offensicht-
lichkeit für Sprecher und Hörer darüber hinaus auch
manifest sein sollte. Der Sprecher macht mit dem Ge-
brauch von duh deutlich, dass er annimmt, dass das
kontextuelle Hintergrundwissen des Hörers die Of-
fensichtlichkeit der Wahrheit der Proposition umfas-
sen sollte. Die negative Einstellung welche gleichzeitig
vermittelt wird, bezieht sich auf das Explizitmachen-
Müssen des eigentlich bereits Offensichtlichen (vgl.
ebd.: 162). Eineweitere Funktion der Interjektion duh
ist, dass Sprecher/innen etwas Negatives deutlich ma-
chen können, was für die Kommunikationspartner/
innen bisher noch nicht offensichtlich war und dass
dieser Umstand, die Handlung oder das Ereignis,
durch den/die Sprecher/in selbst abgewertet wird, wie
in (6) beispielhaft gezeigt ist:
(6) Ich war heute extra früh in der Bibliothek und
dann habe ich gemerkt, dass ich meinen Netzste-
cker für den Laptop vergessen habe, duh!
Hierbei, so Andersen (vgl. ebd.: 163), wird eine schwa-
che Implikatur ausgelöst: P wird durch duh als eine be-
dauerliche Folge einer unklugen Handlung dargestellt.
Relevanztheoretisch betrachtet ist die durch die Inter-
jektion ausgelöste Bedeutung kein Teil der Explikatur
und kodiert prozedurale Informationen und keine
konzeptuellen. Vielmehr wird die Einstellung des
Sprechers zur Explikatur vor dem gegebenen Kontext
vermittelt.
Die einzelnen Funktionen der hier betrachteten
Marker können nur durch eine präzise Analyse der
Kontexte, in welche diese eingebunden sind, unter-
sucht werden. Eine rein quantitative Analyse, wie
z. B. die absolute oder relative Häufigkeit des Vor-
kommens eines Diskursmarkers in einem Korpus,
kann nichts über dessen Funktionen aussagen. Den-
noch können quantitative Informationen Aufschluss
darüber geben, wann ein aus einer fremden Sprache
entlehntes Wort zum ersten Mal und mit welcher
Häufigkeit aufkommt. So wie es z. B. Andersen (2014)
für das Vorkommen der aus dem Englischen entlehn-
ten Ausdrücke what if und duh im Norwegischen
und Englischen untersucht hat. Pragmalinguistische
Fragestellungen, die insbesondere das Ziel haben ei-
ne Beziehung von Form und Funktion abzubilden,
können auf eine gewissenhafte Auseinandersetzung
mit dem Kontext der jeweiligen Vorkommnisse nicht
verzichten.
Neben Korpora, die realsprachliche Daten bein-
halten, wird auch zunehmend an fiktivem Sprach-
material gearbeitet. Beispielsweise untersucht Hang
Su (2017) an Transkripten der Sitcom The Big Bang
Theory, ob sich eine Übereinstimmung von gramma-
tischer Form mit dem Sprechakt des Bittens aufzei-
gen lässt. Welche Funktionen manipulative Äußerun-
gen vor dem Hintergrund des Griceschen Kooperati-
onsprinzips und den Höflichkeitsstrategien nach Le-
vinson übernehmen können, betrachtet Sandrine
Sorlin (2017) unter Hinzunahme der ersten drei Staf-
feln der Politserie House of Cards. Die Buchreihe The
Hitchhikers‹ Guide to the Galaxy wird von Andreas H.
Jucker (2015) als Korpus verwendet, um die Funktio-
nen der Partikel uh und um zu untersuchen. Auch
fiktionale Dialoge können somit als Datenquelle für
die Auseinandersetzung mit pragmalinguistischen
Fragestellungen genutzt werden, so lange beachtet
wird, dass der vorliegende Texttyp Eigenschaften und
I Tradition
23
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Merkmale besitzt, welche sich von realsprachlichen
Daten unterscheiden.
2.7 Schlussbemerkungen
So vielfältig die Untersuchungsgegenstände der Prag-
matik, so zahlreich sind auch die Methoden, welche
eingesetzt werden, um Theorien zu präzisieren und
beschreibungsadäquater zu machen aber auch, um un-
beantwortete Fragestellungen anzugehen. Ausgehend
von den Vor- und Nachteilen der introspektions-
basierten Empirie konnte gezeigt werden, mit welch
unterschiedlichen Datentypen und Methoden in der
Pragmatik gearbeitet wird: erinnerte oder erdachte
Satzbeispiele; mithilfe von Video- und Tonaufnahmen
aufgezeichnete authentische Gespräche; den Proban-
den unter Laborbedingungen elizitierte Äußerungen,
gemessene Reaktionszeiten und Gehirnströme in Be-
zug auf präsentierte Stimuli; große und kleine Korpora
gesprochen- oder schriftsprachlicher Natur. Diese
Auflistung kann dabei natürlich nur einen zusammen-
fassenden Überblick über die Daten und Methoden,
welche herangezogen werden, um Hypothesen zu
überprüfen bzw. neue aufzustellen und bestehende
Theorien zu stützen, darstellen. Zusätzlich wird diese
Liste weniger umfassend oder länger und komplexer
in Abhängigkeit davon, wo die Grenzen der linguisti-
schen Pragmatik verlaufen, bzw. gezogen werden.
Die im Beitrag aufgezeigte Methodenpluralität
zeugt von einer lebendigen und im Wandel begriffe-
nen Wissenschaft, welche nicht davor zurückschreckt,
neue Verfahren und Techniken für sich zu entdecken
und für die Bearbeitung verschiedenster Fragestellun-
gen und Problembereiche nutzbar zu machen. Ein
Ausblick auf die Entwicklung der Pragmatik lässt da-
rauf schließen, dass ein solcher Beitrag zukünftig nur
an Umfang gewinnt und darauf hoffen, dass es die da-
mit einhergehenden Erkenntnisse ebenso tun werden.
Literatur
Adolphs, Svenja (2008): Corpus and Context. Investigating
Pragmatic Functions in Spoken Discourse. Amsterdam.
Karin Aijmer/Rühlemann, Christoph (Hg.) (2014): Corpus
Pragmatics. A Handbook. Cambridge.
Andersen, Gisle (2011): Corpus-based pragmatics I: qualita-
tive studies. In: Wolfram Bublitz/Neil R. Norrick (Hg.):
Foundations of Pragmatics. Berlin/Boston, 587–627.
Andersen, Gisle (2014): Relevance. In: Karin Aijmer/Chris-
toph Rühlemann (Hg.): A Handbook. Cambridge, 143–
168.
Beaugrande, Robert de (1991): Linguistic Theory. The Dis-
course of Fundamental Works. Harlow (UK).
Beaugrande, Robert de (1996): The ›pragmatics‹ of doing
language science: The ›warrant‹ for large corpus linguis-
tics. In: Journal of Pragmatics 25, 503–535.
Bednarek, Monika (2011): Approaching the data of pragma-
tics. In: Wolfram Bublitz/Neil R. Norrick (Hg.): Foundati-
ons of Pragmatics. Berlin/Boston, 537–559.
Bohrn, Isabel C./Altmann, Ulrike/Jacobs, Arthur M. (2012):
Looking at the brains behind figurative language – A
quantitative meta-analysis of neuroimaging studies on
metaphor, idiom, and irony processing. In: Neuropsycho-
logia 50, 2669–2683.
Bott, Lewis/Noveck, Ira (2004): Some utterances are under-
informative: The onset and time course of scalar inferences.
In: Journal of Memory and Language 51/3, 437–457.
Bott, Lewis/Bailey, Todd M./Grodner, Daniel (2012): Distin-
guishing speed from accuracy in scalar implicatures. In:
Journal of Memory and Language 66, 123–142.
Breheny, Richard/Ferguson, Heather J./Katsos, Napoleon
(2012): Investigating the timecourse of accessing conver-
sational implicatures during incremental sentence inter-
pretation. In: Language and Cognitive Processes, 1–25,
DOI:10.1080/01690965.2011.649040.
Brinker, Klaus/Sager, Sven F. (52010): Linguistische
Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin.
Bublitz, Wolfram/Norrick, Neil R. (2011): Introduction: the
burgeoning field of pragmatics. In: Wolfram Bublitz/Neil
R. Norrick (Hg.): Foundations of Pragmatics. Berlin/Bos-
ton, 1–20.
Bücker, Jörg (2011): Von Familienähnlichkeiten zu Netz-
werkrelationen: Interaktion als Evidenz für Kognition
(GIDI Arbeitspapierreihe, Nr. 33).
Carston, Robyn (1995): Quantity maxims and generalized
implicature. In: Lingua 96, 213–244.
Carston, Robyn (2002): Thoughts and Utterances: The Prag-
matics of Explicit Communication. Oxford.
Degen, Judith/Tanenhaus, Michael K. (2016): Availability of
alternatives and the processing of scalar implicatures: a
visual world eye-tracking study. In: Cognitive Science
40/1, 172–201.
Deppermann, Arnulf (42008): Gespräche analysieren. Eine
Einführung. Wiesbaden.
Felder, Ekkehard (2012): Pragma-semiotische Textarbeit
und der hermeneutische Nutzen von Korpusanalysen für
die linguistische Mediendiskursanalyse. In: Ekkehard Fel-
der/Marcus Müller/Friedemann Vogel (Hg.): Korpusprag-
matik. Thematische Korpora als Basis Diskurslinguisti-
scher Analysen. Berlin/Boston, 115–174.
Felder, Ekkehard/Müller, Marcus/Vogel, Friedemann
(2012): Korpuspragmatik. Paradigma zwischen Hand-
lung, Gesellschaft und Kognition. In: Dies. (Hg.): Korpu-
spragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslin-
guistischer Analysen. Berlin/Boston, 3–30.
Feng, Wangshu/Wu, Yue/Jan, Catherine/Yu, Hongbo/Jiang,
Xiaoming/Zhou, Xiaolin (2017): Effects of contextualrelevance on pragmatic inference during conversation: An
fMRI study. In: Brain and Language 171, 52–61.
Grice, H. Paul (1975): Logic and conversation. In: Peter
Cole/Jerry L. Morgan (Hg.): Syntax and Semantics 3:
Speech Acts. New York, 41–58.
Grodner, Daniel/Klein, Natalie M./Carbary, Kathleen M./
2 Methodologie der Pragmatik
24
Tanenhaus, Michael K. (2010): »Some,« and possibly all,
scalar inferences are not delayed: Evidence for immediate
pragmatic enrichment. In: Cognition 116, 42–55.
Han, Donghong (2011): Utterance production and interpre-
tation: A discourse-pragmatic study on pragmatic mar-
kers in English public speeches. In: Journal of Pragmatics
43, 2776–2794.
Haspelmath, Martin (2009): Welche Fragen können wir mit
herkömmlichen Daten beantworten? In: Zeitschrift für
Sprachwissenschaft 28, 157–162.
Henne, Helmut/Rehbock, Helmut (42012): Einführung in
die Gesprächsanalyse. Berlin/New York.
Horn, Laurence (1984): Towards a new taxonomy for prag-
matic inference: Q-based and R-based implicature. In:
Debora Schiffrin (Hg.): Meaning, Form and Use in Con-
text. Washington, 11–42.
Horn, Laurence (1989): A Natural History of Negation. Chi-
cago.
Huang, Yi Ting/Snedeker, Jesse (2009): Online interpreta-
tion of scalar quantifiers: Insight into the semantics–
pragmatics interface. In: Cognitive Psychology 58, 376–
415.
Hunt III, Lamar/Politzer-Ahles, Stephen/Gibson, Linzi/
Minai, Utako/Fiorentino, Robert (2013): Pragmatic infe-
rences modulate N400 during sentence comprehension:
Evidence from picture-sentence verification. In: Neurosci-
ence Letters 534, 246–251.
Jucker, Andreas H. (2007): Speech act research between
armchair, field and laboratory. The case of compliments.
In: Journal of Pragmatics 41, 1611–1635.
Jucker, Andreas H. (2015): Pragmatics of fiction: literary
uses of uh and um. In: Journal of Pragmatics 86, 63–76.
Kaiser, Eli (2013): Experimental paradigms in psycholin-
guistics. In: Robert J. Podesva/Devyani Sharma (Hg.):
Research Methods in Linguistics. Cambridge, 135–168.
Katsos, Napoleon (2012): Experimental investigations and
pragmatic theorising. In: Keith Allan/Kasia M. Jaszczolt
(Hg.): The Cambridge Handbook of Pragmatics. Cam-
bridge.
Kreuz, Roger J./Roberts, Richard M. (1995): Two cues for
verbal irony: Hyperbole and the ironic tone of voice. In:
Metaphor and Symbolic Activity 10/1, 21–31.
Labov, William (1971): Das Studium der Sprache im sozia-
len Kontext. In: Wolfgang Klein/Dieter Wunderlich/Nor-
bert Dietmar (Hg.): Aspekte der Soziolinguistik. 111–194.
Lemnitzer, Lothar/Zinsmeister, Heike (2006): Korpuslin-
guistik. Eine Einführung. Tübingen.
Levin, Magnus (2014): The Bathroom Formula: A corpus-
based study of a speech act in American and British Eng-
lish. In: Journal of Pragmatics 64, 1–16.
Levinson, Stephen (2000): Presumptive meanings. Cam-
bridge, Mass.
Linke, Angelika/Nussbaumer, Markus/Portmann Paul R.
(52004): Studienbuch Linguistik. Tübingen.
McAllister, Paula Garcia (2014): Speech acts: a synchronic
perspective. In: Karin Aijmer/Christopher Rühlemann
(Hg.): Corpus Pragmatics. A handbook. Cambridge,
29–51.
Meier, Simon (2018): Personalreferenz in Sportpressekon-
ferenzen und Politikinterviews in kognitiv-pragmatischer
Sicht. In: Konstanze Marx/Simon Meier (Hg.): Sprach-
liches Handeln und Kognition. Theoretische Grundlagen
und empirische Analysen. Berlin/Boston, 89–111.
Mroczynski, Robert (2014): Gesprächslinguistik. Eine Ein-
führung. Tübingen.
Nieuwland, Mante S./Ditman, Tali/Kuperberg, Gina R.
(2010): On the incrementality of pragmatic processing: An
ERP investigation of informativeness and pragmatic abili-
ties. In: Journal of Memory and Language 63, 324–346.
Norrick, Neil R. (2009): Interjections as pragmatic markers.
In: Journal of Pragmatics 41, 866–891.
Noveck, Ira/Posada, Andres (2003): Characterizing the time
course of an implicature: an evoked potentials study. In:
Brain and Language 85, 203–210.
Noveck, Ira/Sperber, Dan (2004): Experimental Pragmatics.
Basingstoke.
Noveck, Ira/Sperber, Dan (2007): The why and how of expe-
rimental pragmatics: the case of ›scalar inferences‹. In:
Noel Burton-Roberts (Hg.): Pragmatics. Basingstoke.
Onea, Edgar/Volodina, Anna (2011): Between Specification
and Explanation. About a German Discourse Particle. In:
International Review of Pragmatics 3/1, 3–32.
Pfeifer, Martin (2017): Über die Funktion von Reparatur-
marker im Deutschen. In: Hardarik Blühdorn/Arnulf
Deppermann/Henrike Helmer et al. (Hg.): Diskursmarker
im Deutschen. Reflexionen und Analysen. Göttingen,
259–283.
Politzer-Ahles, Stephen/Fiorentino, Robert/Xiaoming,
Jiang/Zhou, Xiaolin (2013): Distinct neural correlates for
pragmatic and semantic meaning processing: An event-
related potential investigation of scalar implicature pro-
cessing using picture-sentence verification. In: Brain
Research 1490, 134–152.
Romero-Trillo, Jesús (2008): Pragmatics and Corpus Lin-
guistics. A Mutualistic Entente. Berlin.
Rüegg, Larssyn (2014): Thanks responses in three socio-eco-
nomic settings: A variational pragmatics approach. In:
Journal of Pragmatics 71, 17–30.
Rühlemann, Christoph (2012): What can a corpus tell us
about pragmatics? In: Michael McCarthy/Ann O’Keeffe
(Hg.): The Routledge Handbook of Corpus Linguistics.
London, 288–301.
Rühlemann, Christoph/Clancy, Brian (2018): Corpus lin-
guistics and pragmatics. In: Neal Norrick/Cornelia Ilie
(Hg.): Pragmatics and its Interfaces. Amsterdam.
Rühlemann, Christoph/Aijmer, Karin (2014): Corpus prag-
matics: laying the foundation. In: Karin Aijmer/Christoph
Rühlemann (Hg.): Corpus Pragmatics. A Handbook.
Cambridge, 1–26.
Sager, Sven F. (2001): Formen und Probleme der tech-
nischen Dokumentation von Gesprächen. In: Klaus Brin-
ker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann et al. (Hg.): Text-
und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch
zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband. Berlin/New
York, 1022–1033.
Sampson, Geoffrey (2005): Quantifying the shift towards
empirical methods. In: International Journal of Corpus
Linguistics 10/1, 15–36.
Sauerland, Uli/Schumacher, Petra (2016): Pragmatics:
I Tradition
25
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Theory and experiment growing together. In: Linguisti-
sche Berichte 245, 3–24.
Schlesewsky, Matthias (2009): Linguistische Daten aus expe-
rimentellen Umgebungen: Eine multiexperimentelle und
multimodale Perspektive. In: Zeitschrift für Sprachwis-
senschaft 28, 169–178.
Schönefeld, Doris (2011): On evidence and the convergence
of evidence in linguistic research. In: Dies. (Hg.): Conver-
ging Evidence. Methodological and Theoretical Issues for
Linguistic Research. Amsterdam/Philadelphia, 1–31.
Schu, Josef (2001): Formen der Elizitation und das Problem
der Natürlichkeit von Gesprächen. In: Klaus Brinker/Gerd
Antos/Wolfgang Heinemann et al. (Hg.): Text- und
Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeit-
genössischer Forschung. 2. Halbband. Berlin/New York,
1013–1021.
Schwarz-Friesel, Monika (32008): Einführung in die kogni-
tive Linguistik. Tübingen.
Schwitalla, Johannes (2001): Gesprochene Sprache-For-
schung und ihre Entwicklung zu einer Gesprächsanalyse.
In: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang Heinemann et al.
(Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales
Handbuch zeitgenössischer Forschung. 2. Halbband. Ber-
lin/New York, 896–903.
Selting, Margret/Auer, Peter/Barth-Weingarten, Dagmar/
Bergamann, Jörg/Bergmann, Pia/Birkner, Karin/Couper-
Kuhlen, Elizabeth/Deppermann, Arnulf/Gilles, Peter/
Günthner, Susanne (2009): Gesprächsanalytisches Tran-
skriptionssystem 2 (Gat 2). In: Gesprächsforschung –
Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353–402.
Sorlin, Sandrine (2017): The pragmatics of manipulation:
Exploiting im/politeness theories. In: Journal of Pragma-
tics 121, 132–146.
Sperber, Dan/Wilson, Deidre (1981): On Grice’s theory of
conversation. In: Paul Werth (Hg.): Conversation and Dis-
course. Kent, 155–178.Sperber, Dan/Wilson, Deidre (21995): Relevance. Commu-
nication and Cognition. Oxford.
Spychalska, Maria/Kontinen, Jarmo/Werning, Marcus
(2014): Electrophysiology of pragmatic processing: explo-
ring the processing cost of the scalar implicature in the
truth-value judgment task. In: Paul Bello/Marcello Gua-
rini/Marjorie McShane/Brian Scassellati (Hg.): Procee-
dings of the 36th Annual Conference of the Cognitive Sci-
ence Society. Austin (TX), 1497–1502.
Stukenbrock, Anja (2013): Sprachliche Interaktion. In: Peter
Auer (Hg.): Sprachwissenschaft. Grammatik – Interaktion
– Kognition. Stuttgart, 217–259.
Stukenbrock, Anja (2014): Pointing to an empty space: Dei-
xis am Phantasma in face-to-face interaction. In: Journal
of Pragmatics 74, 70–93.
Su, Hang (2017): Local grammars of speech acts: An explo-
ratory study. In: Journal of Pragmatics 111, 72–83.
Wichmann, Anne (2004): The intonation of please-requests:
a corpus-based study. In: Journal of Pragmatics 36, 1521–
1549.
Astrid Tuchen
2 Methodologie der Pragmatik
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
II Hauptströmungen
der Pragmatik
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
A Forschungsparadigmen
3 Sprechakttheorie
3.1 Allgemeines
Aus der Perspektive der Sprechakttheorie wird Sprache
als Teil der menschlichen Handlungsfähigkeit auf-
gefasst. Sprachliche Ausdrücke werden unter dem Ge-
sichtspunkt identifiziert und klassifiziert, welchen Bei-
trag sie zur Verwirklichung spezifischer Ziele der
Sprachverwendung leisten. Folglich werden alle und
nur diejenigen Aspekte der Sprachmittel untersucht,
die in einen systematischen Zusammenhang mit den
verfolgten Zielen zu bringen sind. Dabei richtet sich die
Unterteilung eines Sprechakts in seine Teilakte sowie
die Klassifikation verschiedener Typen von Sprech-
akten nach diesem handlungstheoretischen Prinzip.
Unterschiede im sprachlichen Ausdruck, die keine Fol-
gen für den auszuführenden Sprechakt haben, können
in dieser Perspektive vernachlässigt werden.
Begründet wurde die Sprechakttheorie von dem
Oxforder Sprachphilosophen John L. Austin (1911–
1960). Als Vorläufer der zentralen Annahmen der
Sprechakttheorie angelsächsischer Prägung lassen
sich Autoren wie Gottlob Frege, Anton Marty und
Adolf Reinach nennen. Austins Vorlesungen wurden
1955 als William-James-Lectures an der Harvard Uni-
versität gehalten – und in den Jahren zuvor (1952–
1954) auch in Oxford. Sie wurden postum unter dem
Titel How to do things with Words im Jahr 1962 von
J. O. Urmson herausgegeben (Austin 1972).
Eine systematisierte Version der Sprechakttheorie
wurde 1969 von John R. Searle in dem Buch Speech
Acts vorgelegt (Searle, 1971), Weiterentwicklungen
finden sich unter anderem in den Monographien von
Kent Bach und Robert Harnish Linguistic Communi-
cation and Speech Acts (1979), Meaning and Force von
François Récanati (1987) und mit dem 2013 erschie-
nenen From Utterances to Speech Acts von Michail Kis-
sine. Bestimmte Aspekte in Robert B. Brandoms Buch
Making it Explicit (1998) greifen ebenfalls in die Theo-
riebildung der Sprechakttheorie ein. Im Bereich der
deutschsprachigen Linguistik wurde die Rezeption
durch Dieter Wunderlichs Studien zur Sprechakttheo-
rie (1976) und den Sammelband Sprechakttheorie und
Semantik von Günther Grewendorf (1979) voran-
getrieben.
3.2 Die sprechakttheoretischen Grund-
annahmen John L. Austins
Ein Grundanliegen seiner Vorlesungen sieht Austin
im Nachweis dessen, dass es Äußerungen gibt, die
nichts beschreiben und somit weder wahr noch
falsch sein können, weil sie den Vollzug einer Hand-
lung darstellen (vgl. Austin 1972: 26). Sie haben einen
Sinn, der in einer mit der Äußerung hergestellten
Tatsache liegt. Das Heiraten, das Wetten oder das
Vermachen einer Uhr besteht darin, dass Worte in ei-
ner bestimmten Form in einer bestimmten Situation
geäußert werden; der Sinn solcher Äußerungen be-
steht im Herstellen der beschriebenen Tatsache. Äu-
ßerungen dieses Typs wurden von Austin performa-
tive Äußerungen genannt und den konstativen ge-
genübergestellt, deren Sinn nach wie vor im Feststel-
len von Tatsachen liegt. Die klassische Form einer
performativen Äußerung besteht aus einem verbum
dicendi in der 1. Person Indikativ Aktiv (Ich nehme
die hier anwesende XY zur Frau). Dies ist ein Aussage-
satz, der allerdings nicht dazu verwendet wird, eine
Feststellung zu treffen, sondern den Akt des Hei-
ratens zu vollziehen.
In einer späteren Version seiner Theorie, die sich
etwa ab der 7. Vorlesung niederschlägt und von ihm
die ›generelle Theorie‹ benannt wird (vgl. Austin 1972:
100 ff.), wird ein Modell entworfen, das an ein und
derselben Äußerung verschiedene Dimensionen un-
terscheidet – einerseits die Entsprechung zu den Tat-
sachen, andererseits das Gelingen der sprachlichen
Handlung. Die Differenzierung dieser Dimensionen,
die als Teilakte des gesamten Sprechakts eingeführt
werden, sowie die Klassifikation verschiedener Typen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_3
30
von Sprechakten, können als Kernbestand des Para-
digmas der Sprechakttheorie gelten.
Terminologisch wird dies durch die Unterscheidung
in einen lokutionären und einen illokutionären Akt be-
rücksichtigt, dem als dritter Teilakt der perlokutionäre
Akt hinzugefügt wird. Der lokutionäre Akt besteht da-
rin, etwas zu sagen, das heißt Geräusche zu produzieren
(phonetischer Akt), Vokabeln im Zusammenhang ei-
ner grammatischen Konstruktion zu äußern (phati-
scher Akt) und beides auf eine Weise zu tun, die Sinn
und Referenz der Äußerung und ihrer Bestandteile fest-
legt (rhetischer Akt) (vgl. Austin 1972: 108 f.). Der pha-
tische Akt wird dabei der Ebene der langue zugewiesen,
der rhetische derjenigen der parole (vgl. Austin 1972:
113). Was Sprecherinnen und Sprecher tun, indem sie
etwas in der beschriebenen Weise sagen, wird als illoku-
tionärer Akt eingeführt – sie stellen eine Frage, infor-
mieren, verkünden eine Entscheidung, appellieren etc.
(vgl. Austin 1972: 114). Gegenüber dem perlokutionä-
ren Akt, der die weiteren Folgen des Sprechakts betrifft,
geht es beim illokutionären Akt um ein konventionales
Benutzen in dem Sinne, dass es mittels einer explizit
performativen Formel vor sich gehen kann (Ich stelle
hiermit die Frage, ob ..., aber nicht: Ich bringe dich hier-
mit dazu, zu antworten). Die perlokutionären Folgen
sind nicht konventionsbasiert, sie bestehen darin, dass
jemand erstaunt, überzeugt, erleichtert usw. ist. Sie tre-
ten dadurch ein, dass etwas gesagt wurde.
In der zwölften Vorlesung unterscheidet Austin
fünf verschiedene Typen illokutionärer Akte: Neben
Verdiktiva, mit denen Sprecher ein Urteil fällen, wird
die Klasse der Exerzitiva angenommen (Anweisun-
gen, Befehle), daneben Kommissiva (Verspre-
chen), Konduktiva (Entschuldigungen) und Ex-
positiva (Erläuterung eigener Argumente) (vgl.
Austin 1972: 163 ff.) Die Klassifikation beruht auf aus-
führlichen Listen von Verben, deren Bedeutung je-
weils die spezifischen Sprechakte beinhaltet.
3.3 Kritik an Austins Konzeption und ihre
Weiterentwicklung
Nach Erscheinen von How to do Things with Words im
Jahre 1962 wurden eine Reihe kritischer Argumente
vorgebracht, die sich zum Teil auf die Grundlagen der
Theorie bezogen, teilweise auf einzelne ihrer Aspekte
(vgl. bspw. Cohen 1964; Hare 1971a, b; Strawson 1973).
Eine folgenreiche Kritik wurde von John R. Searle vor-
gebracht, die sich auf zwei Ebenen bezog. Zunächst
thematisiert Searle – wie auch L. Jonathan Cohen und
Richard M. Hare – die mangelnde Abgrenzung des lo-
kutionären vom illokutionären Akt (vgl. Searle 1968:
147); überdies kritisiert er die vorgenommene Klassifi-
zierung illokutionärer Akte mit zwei zentralen Argu-
menten: Die Klassifizierung ist nicht trennscharf, sie
hat zu viele Überlappungen;außerdem werden nicht
Sprechakte klassifiziert, sondern sprechaktbezeich-
nende Verben (vgl. Searle 1982a).
Alternativ zum Austinschen Begriff des lokutionä-
ren Aktes führt Searle den Begriff des propositionalen
Aktes ein. Dieser wird durch einen dass-Satz ange-
zeigt. Anders als bei Austin, dem es um verschiedene
Dimensionen der Äußerung eines Satzes ging, ver-
ändert sich bei Searle die Form des Ausdrucks, je
nachdem, ob man sich auf der Ebene des propositio-
nalen (ausgedrückt durch einen dass-Satz) oder des il-
lokutionären Aktes (ausgedrückt durch einen voll-
ständigen Satz) befindet. Der wichtigste theoretische
Unterschied gegenüber Austins Ansatz ist, dass Searle
in seinem Hauptwerk Sprechakte (1971) zunächst Be-
dingungen für den erfolgreichen Vollzug von Sprech-
akten benennt, aus denen in einem zweiten Schritt Re-
geln für die Anzeige des illokutionären Aktes gewon-
nen werden. Diese machen den eigentlichen Gegen-
stand der Searleschen Sprechakttheorie aus.
Der propositionale Akt als Teilakt des illokutionä-
ren Aktes lässt sich zerlegen in den Äußerungsakt, der
in der Äußerung von Wörtern (Morphemen) besteht,
außerdem den Referenzakt, mittels dessen man sich
auf Dinge oder Personen bezieht, und den Prädikati-
onsakt, in dem diesen Dingen oder Personen Eigen-
schaften zugeschrieben werden (vgl. Searle 1971:
40 ff.). Die allgemeine Form des Sprechakts ist:
F (p),
wobei für F Mittel einzusetzen sind, die als Indikato-
ren des illokutionären Zwecks dienen (zum Beispiel
sprechaktbezeichnende Verben in explizit performati-
ver Form) und für p Ausdrücke für den propositiona-
len Gehalt in Form eines dass-Satzes (vgl. Searle 1971:
51). Ein Sprechakt wie
(1) Ich verspreche dir, dass ich morgen da bin.
ist aufzuteilen in einen illokutionären Indikator F (Ich
verspreche dir ...) und einen Indikator des propositio-
nalen Gehalts p (... dass ich morgen da bin).
Perlokutionäre Akte werden von Searle ebenfalls an-
genommen und im Wesentlichen so definiert wie von
Austin – sie betreffen Konsequenzen oder Wirkungen
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
31
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
von Sprechakten auf die Zuhörer (überzeugen, erschre-
cken, dazu bringen, etwas zu tun ...) (vgl. Searle 1971:
42). Sie fallen aber als nicht-konventionelle Aspekte ei-
nes Sprechakts insofern aus der Betrachtung heraus, als
sie nicht über spezifische Ausdrücke verfügen, mit de-
nen sie im Vollzug angezeigt werden können.
3.4 Regeln und Sprechaktklassen
Die Regeln für die Anzeige des illokutionären Zwecks
oder, wie Searle es ausdrückt, den Gebrauch des Indi-
kators der illokutionären Rolle, lassen sich vier Regel-
typen zuordnen, nämlich den Regeln des propositio-
nalen Gehalts, den Einleitungsregeln, den Regeln der
Aufrichtigkeit und den wesentlichen Regeln (vgl.
Searle 1971: 100 ff.). Anhand der unterschiedlichen
Füllung der Regeln lassen sich die verschiedenen
Klassen illokutionärer Akte unterscheiden.
Die wichtigste von ihnen, die wesentliche Regel,
kann am Beispiel des Versprechens so formuliert wer-
den: Die Äußerung eines Indikators für ein Verspre-
chen gilt als Übernahme der Verpflichtung, die prä-
dizierte Handlung A auszuführen (vgl. Searle 1971:
97). Diese Regel hat die kanonische Form einer kon-
stitutiven Regel, also einer solchen, die neues Verhal-
ten konstituiert, das ohne die Existenz der Regel so
nicht beschrieben werden könnte. Dieser steht der
Typ der regulativen Regel gegenüber, die lediglich
schon praktiziertes Verhalten steuert, ohne dass da-
mit ein neuer Handlungstyp entstünde. Bei Sprech-
akten führt die konstitutive Regel vom Gesagten zum
illokutionären Akt (zum Regelbegriff vgl. Searle 1971,
Kap. 2.5: »Regeln«: 54 ff.).
Neben der Differenzierung verschiedener Regel-
typen ist vor allem Searles Sprechaktklassifikation ein-
flussreich geworden. Im Anschluss an die Kritik der
Austinschen Klassifikation bemüht sich Searle vor al-
lem um explizite Klassifikationskriterien, die es erlau-
ben, zu abgrenzbaren Kategorien illokutionärer Akte
zu kommen. Die wichtigsten Kriterien sind schon im
Kern in den Regeln für die erfolgreiche Anzeige der
illokutionären Kraft enthalten. Zu diesem Zweck wer-
den die genannten Regeln ausdifferenziert und durch
weitere Kriterien ergänzt. Die wesentliche Regel findet
sich in der neuen Klassifikation als illokutionärer
Zweck wieder (illocutionary point or purpose), der bei-
spielsweise bei Versprechen darin besteht, dass der
Sprecher eine Verpflichtung übernimmt, etwas zu tun
(vgl. Searle 1982a: 19).
Das zweite grundlegende Klassifikationskriterium
ist die jeweilige Ausrichtung, das heißt die Art und
Weise, wie Wörter und Welt aufeinander bezogen sind.
Dieses Kriterium wird neu eingeführt und dient dazu,
Sprechakte wie Aufforderungen oder Verspre-
chen, die durch nachfolgendes Verhalten erfüllt wer-
den können, von solchen wie Behauptungen zu un-
terscheiden. Letztere werden durch Sachverhalte veri-
fiziert, die unabhängig von ihrer Äußerung (z. B. vor
der Äußerung) bestehen. Aufforderungen und Ver-
sprechen haben die Welt-auf-Wort-Ausrichtung, weil
sie gleichsam als Maßstab fungieren, wie der Lauf der
Welt danach auszusehen hat – und die deswegen er-
füllbar sind. Behauptungen haben eine Wort-auf-
Welt-Ausrichtung, weil der jeweilige Weltzustand als
Maßstab fungiert, dem sich die Worte anpassen müs-
sen – und die deswegen wahr oder falsch sein können
(vgl. Searle 1982a: 19 f.).
Das dritte Klassifikationskriterium bezieht sich auf
den psychischen Zustand des Sprechers/der Sprecherin,
der mit dem Sprechakt ausgedrückt wurde. So drückt
jemand mit einer Behauptung den Glauben aus, dass
der im propositionalen Gehalt genannte Sachverhalt
besteht; wenn jemand verspricht, eine Handlung aus-
zuführen, drückt er/sie die Absicht aus, diese Hand-
lung auszuführen. Fordert man seine Zuhörerschaft
auf, eine Handlung auszuführen, so drückt man damit
den Wunsch aus, dass dies getan werde (vgl. Searle
1982a: 21 f.).
Die drei genannten Kriterien werden noch von ei-
nigen anderen ergänzt. Sie betreffen beispielsweise
Unterschiede in der Stärke oder Intensität, mit denen
der Sprechakt vorgebracht wird, oder Unterschiede in
der Stellung von Sprecher und Hörer zueinander, Un-
terschiede im jeweiligen Interesse an der Erfüllung des
propositionalen Gehalts, oder auch Unterschiede im
Bezug zum restlichen Diskurs (vgl. ebd.). Unabhängig
von der Funktion der weiteren Kriterien für besonde-
re klassifikatorische Ziele sind die drei erstgenannten
Kriterien insofern die wichtigsten, als Searle seinen
Klassifikationsvorschlag ausschließlich auf diesen
aufbaut. Er kommt dabei zu folgenden Sprechaktklas-
sen (vgl. Searle 1982a: 31 ff.):
Assertiva (feststellen, behaupten, eine Hypothe-
se aufstellen, ableiten): Der illokutionäre Zweck
besteht darin, den Sprecher / die Sprecherin darauf
festzulegen, dass die zum Ausdruck gebrachte Pro-
position wahr ist. Die Ausrichtung ist Wort-auf-Welt,
das heißt die geäußerten Worte werden am Welt-
zustand gemessen. Der zum Ausdruck gebrachte psy-
chische Zustand ist Glauben.
3 Sprechakttheorie
32
Direktiva (bitten, befehlen, auffordern, empfeh-
len): Der illokutionäre Zweck besteht in dem Ver-
such, den Adressaten/die Adressatin dazu zu bringen,
etwas zu tun. Die Ausrichtung ist Welt-auf-Wort, der
Weltzustand wird an den geäußerten Worten gemes-
sen, und der ausgedrückte psychische Zustand ist
Wunsch/Wollen.
Kommissiva (versprechen, zusagen, drohen): Mit
ihnen legt sich der Sprecher/die Sprecherin darauf
fest, eine bestimmte Handlung auszuführen, und dies
ist ihr illokutionärer Zweck. Die Ausrichtung ist also
ebenfalls Welt-auf-Wort. Der mit Kommissiven aus-
gedrückte psychische Zustand ist Absicht.
Expressiva (danken, gratulieren, um Entschuldi-
gung bitten, kondolieren): Der illokutionäre
Zweck der Sprechakte, die dieser Klasse angehören, be-
steht im Ausdruck eines nicht spezifiziertenpsy-
chischen Zustands. Er richtet sich auf die Sachlage, die
im propositionalen Gehalt aufgeführt ist. Das Bestehen
dieser Sachlage wird vorausgesetzt, so dass Expressiva
keine Ausrichtung haben. Einschränkend gilt, dass die-
se Sachlage sich in irgendeiner Weise auf Sprecher/in
oder Adressat/in beziehen muss (vgl. Searle 1982a: 35).
Deklarationen (ernennen, vererben, Krieg erklä-
ren, definieren): Der erfolgreiche Vollzug von
Sprechakten dieser Klasse besteht darin, dass der pro-
positionale Gehalt und der resultierende Weltzustand
übereinstimmen – dies ist ihr illokutionärer Zweck.
Sie leiten sich her von Austins performativen Äuße-
rungen, die ebenfalls in der Realisierung einer außer-
sprachlichen Sachlage bestehen. Die Ausrichtung die-
ser Klasse ist demgemäß sowohl Wort-auf-Welt als
auch Welt-auf-Wort. Als Unterklasse werden ihnen
assertive Deklarationen zur Seite gestellt (Schiedsrich-
terentscheidungen oder Richtersprüche), die zusätz-
lich die für Assertive geltende Wort-auf-Welt-Aus-
richtung haben (vgl. Searle 1982a: 39).
3.5 Kritik und Weiterentwicklung der
Searleschen Sprechakttheorie
Die Searlesche Klassifikation war innerhalb der
Sprechakttheorie besonders einflussreich, und sie wird
in der Regel den sprechakttheoretischen Analysen zu-
grunde gelegt. Erweiterungsbedürftig ist sie vor allem
in Bezug auf ihr Verhältnis zu den linguistischen Ka-
tegorien wie Satztyp und Satzmodus. Wie schon W. P.
Alston (1987) und J. M. Sadock (1994) betonten, findet
der Unterschied zwischen Frage- und Aufforderungs-
sätzen keine Entsprechung in der Klassifikation – bei-
de werden dem Typ der Direktiva zugeordnet.
Diese unbefriedigende Situation führte zu alternati-
ven Klassifikationen, etwa durch D. Wunderlich, der
den erotetischen illokutiven Typ für Fragen annahm
(vgl. Wunderlich 1976: 77 ff.). In ihrem einflussreichen
Ansatz, der Elemente der Austinschen Sprechakttheo-
rie mit der intentionalistischen Analyse von H. P. Grice
verbindet, legen K. Bach und R. M. Harnish eine Klas-
sifikation in vier Typen vor (vgl. Bach/Harnish 1979).
Sie umfasst Konstativa (behaupten, ankündigen,
klassifizieren, ...), Direktiva (raten, ermahnen,
bitten, ...), Kommissiva (zustimmen, garantieren,
versprechen, ...) und die Kategorie der Anerkennun-
gen (acknowledgements) (sich entschuldigen, gra-
tulieren, kondolieren, ...) – ein Hybrid aus Austins
Konduktiva und Searles Expressiva.
Ein weiterer klassifikatorischer Vorschlag findet
sich bei Frank Liedtke (1998), in dem für Fragen und
Aufforderungen die übergeordnete Kategorie der Pe-
titiva eingeführt wird. Sie besteht aus Sprechakttypen,
mit denen auf unterschiedliche Weise Personen zu ei-
ner Handlung veranlasst werden. Die Petitiva beste-
hen aus zwei Unterkategorien, den klassischen Direk-
tiva, wie sie bei Searle definiert sind, und den Quaesi-
tiva, die die Fragehandlungen umfassen (vgl. hierzu
Liedtke 1998: 166 f.).
Neben der Vielzahl der alternativen Klassifikations-
ansätze sei noch derjenige von J. Habermas erwähnt,
den er im Rahmen seiner Universalpragmatik ent-
wickelt und der gewisse Parallelen zum Bühlerschen
Organon-Modell mit den Zeichenfunktionen der Dar-
stellung, des Ausdrucks und des Appells aufweist (vgl.
Bühler 1999). Habermas unterscheidet in Analogie zu
den drei Geltungsansprüchen einer Äußerung, der
Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und der Richtigkeit, die
drei Klassen der Konstativa mit primärem Weltbezug,
der Repräsentativa mit primärem Adressatenbezug
und der Regulativa mit primärem Sprecherbezug (vgl.
Habermas 1981: 413 ff., vgl. hierzu Harras 1983: 213 ff.)
Unabhängig von der Klassifikationsfrage wurden –
wie schon erwähnt – von J. M. Sadock, K. Bach/R. M.
Harnish sowie von William P. Alston ausführliche
sprechakttheoretische Konzeptionen vorgelegt. In sei-
nem Buch Toward a linguistic theory of speech acts
(1974) legt Sadock eine Version der Sprechakttheorie
vor, die stark von der generativen Semantik geprägt
ist. Bach/Harnish (1979) verfolgen in ihrem schon er-
wähnten Ansatz die von H. P. Grice vorgebrachte Idee,
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
33
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
dass die illokutionäre Kraft einer Äußerung im We-
sentlichen auf der Erkenntnis der Sprecher-Intention
beruht. Die Annahme von Searle, dass die konventio-
nelle Beziehung zwischen illokutionären Indikatoren
im geäußerten Satz und der illokutionären Kraft sei-
ner Äußerung verantwortlich für die Bedeutungs-
zuweisung ist, lehnen sie ab mit dem Verweis darauf,
dass diese Indikatoren nicht notwendigerweise in je-
dem geäußerten Satz vorkommen müssen.
Die weitere Entwicklung der Sprechakttheorie
zeichnete sich vor allem durch die Analyse von Einzel-
problemen aus. Neben der Frage der Taxonomie stan-
den die Frage nach dem Status der illokutionären In-
dikatoren, der Performativität von Sprechhandlungen,
ihrer Direktheit oder Indirektheit (vgl. Searle 1982b,
Sökeland 1980) und schließlich die Logik fiktionalen
Diskurses in der Diskussion (vgl. Searle 1982c). Die
Analyse illokutionärer Akte mithilfe formaler Metho-
den wurde mit der Begründung einer illokutionären
Logik vorgenommen (vgl. Searle/Vanderveken 1985).
Eine Erweiterung der Sprechakttheorie durch
Searle selbst mündete einerseits in eine Theorie des
Geistes vor allem in seiner Monographie Intentionality
(vgl. Searle 1987) und andererseits in eine Theorie der
Institutionen (vgl. Searle 2001). Obwohl in diesem Zu-
sammenhang die Struktur des Sprechakts weiterhin als
abstraktes Muster für die Theoriebildung mentaler Zu-
stände sowie sozialer Institutionen diente, machte die
ursprüngliche Konzeption des illokutionären und pro-
positionalen Aktes einer Idee des Repräsentations-
gehalts mentaler Zustände oder einer allgemeinen
Theorie der institutionellen Tatsachen Platz. In neue-
rer Zeit sind einige Sammelbände erschienen, die den
Stand der Sprechakttheorie aus unterschiedlichen Per-
spektiven darstellen, so der Sammelband von Tzohat-
zidis (1994), weiterhin Grewendorf (2002), Vanderve-
ken/Kubo (2002) und Gass/Neu (2006).
Eine Neuausrichtung der Sprechakttheorie wurde
von M. Kissine (2009; 2013) vorgenommen. Er unter-
scheidet einen lokutionären und einen illokutionären
Akt, wobei Ersterer in einer kontextuell determinier-
ten Interpretation des phatischen Aktes besteht. Das
Resultat dieser Interpretation ist ein propositionaler
Gehalt des Sprechakts mit einer spezifischen Ausrich-
tung. Der illokutionäre Akt mit seinem propositiona-
len Gehalt hat die übliche Form F(p), und er entspricht
auf der mentalen Seite einem intentionalen Akt mit
seinem repräsentationalen Gehalt Ψ(p) (vgl. Kissine
2013: 128). Assertive Sprechakte werden in Kissines
Ansatz expliziert in Bezug auf einen gemeinsamen
Hintergrund, der Sprecher/in (S) und Adressat/in (A)
bekannt ist. Der gemeinsame Hintergrund ist diejeni-
ge Menge von möglichen Welten, die alle Propositio-
nen enthalten, deren Wahrheit von S und A wechsel-
seitig anerkannt wird. Der illokutionäre Zweck von
Assertiva wird dann in Bezug auf den Begriff des ge-
meinsamen Hintergrunds definiert. Der erfolgreiche
Vollzug eines assertiven Sprechakts mit dem proposi-
tionalen Gehalt p stellt für A einen Grund dar, zu glau-
ben, dass p. Eine Äußerung wird als assertiver Sprech-
akt mit dem Gehalt p dann und nur dann interpretiert,
wenn der gemeinsame Hintergrund mindestens eine
mögliche Welt w (eine Menge von Propositionen) ent-
hält, so dass die betreffende Äußerung eine notwendi-
ge und hinreichende Bedingung dafür ist, dass ihr
propositionaler Gehalt p innerhalb von w erschlossen
werden kann (vgl. Kissine 2009: 130).
Mit dieser Definition gelingt es Kissine, Probleme
der traditionellen Definition von Behauptungsspre-
chakten zu vermeiden, die darauf beruhen, dass A der
Intention von S zufolge tatsächlich zu dem Glauben
gebracht werden soll, dass p. Seiner Auffassung gemäß
stellt ein assertiver Sprechakt lediglichein Angebot an
A dar, aus dem gemeinsamen Hintergrund und der
Behauptung auf die Wahrheit von p zu schließen. Di-
rektive und kommissive Sprechakte werden nach ei-
nem ähnlichen Schema analysiert. Der direktive illo-
kutionäre Zweck besteht darin, dass der im proposi-
tionalen Gehalt durch p bezeichnete Sachverhalt von
A realisiert werden soll, der kommissive darin, dass
der Sachverhalt durch S zu realisieren ist (vgl. Kissine
2013: 131 f.).
3.6 Illokutionäre Indikatoren
Die Beziehung zwischen illokutionären Indikatoren
im geäußerten Satz und dem illokutionären Zweck des
Sprechakts wurde von J. R. Searle als sehr eng angese-
hen. Im Zuge seiner schon erwähnten Kritik an Aus-
tins Sprechaktklassifikation formuliert er diese Bezie-
hung wie folgt: »The meaning of the sentence deter-
mines an illocutionary force of its utterances in such a
way that serious utterances of it with that literal mea-
ning will have that particular force« (Searle 1968: 143).
Aus dieser Festlegung folgt, dass die deterministische
Beziehung zwischen Satz und Sprechakt unter den Vo-
raussetzungen der Wörtlichkeit der verwendeten Aus-
drücke sowie der Ernsthaftigkeit der Äußerung gilt.
Bei metaphorischer Verwendung eines oder mehrerer
Wörter oder bei ironischem Gebrauch wird die deter-
ministische Beziehung durchbrochen. Oben wurde
3 Sprechakttheorie
34
festgehalten, dass die Regeln für die Anzeige der Illo-
kution den eigentlichen Gegenstand der Sprechakt-
theorie ausmachen. Aus diesem Grund ist es relevant,
sich über die verschiedenen Arten illokutionärer In-
dikatoren und über die Beziehung des Indikators zu
dem, was er anzeigt, nämlich zum illokutionären
Zweck des Sprechakts, Klarheit zu verschaffen.
Den prominentesten Typ von Indikator bilden per-
formative Formeln, die aufgrund des Verbs und seiner
Bedeutung explizit machen, welcher Sprechakt voll-
zogen wurde. Das schon genannte Beispiel (1) ist so zu
analysieren, dass das Verb in der 1. Person Singular
›Ich verspreche ...‹ den vollzogenen Sprechakt anzeigt
und gleichzeitig zu seinem Vollzug beiträgt. Einen
weiteren wichtigen Indikatortyp stellt der jeweilige
Satztyp dar, wobei Aussagesätze des Typs:
(2) Der Mensch lebt nicht von Brot allein.
eher unmarkiert sind und nicht eindeutig einen asser-
tiven Sprechakt anzeigen. Fragesätze mit ansteigender
Intonation dagegen sind schon deutlicher mit einem
Fragesprechakt korreliert:
(3) Komme ich auf dieser Piste in die Wüste?
Auch für Imperativsätze besteht eine starke Korrelati-
on zu direktiven Sprechakten:
(4) Sehen Sie sich diesen Wasserfall an!
Für Wunschsätze oder Exklamativsätze wie
(5) Wäre ich doch in Syrakus geblieben! bzw.
(6) Welch’ ein Sonnenuntergang das heute ist!
besteht ein enger Bezug zu Expressiva.
Wie sich an den Beispielen deutlich zeigt, kann von
einer deterministischen Beziehung des jeweiligen
Satztyps zum illokutionären Zweck des Sprechakts
nicht die Rede sein. So kann (2) mit einem Assertiv,
aber auch mit einer Wunschäußerung (nach etwas an-
derem als Brot) und damit einem Direktiv korreliert
sein, und die Äußerung von (4) kann ebenso gut als
expressiver Sprechakt intendiert sein. Anders gesagt
ist die Beziehung zwischen Satztyp und Illokutionstyp
zu sehr kontextabhängig, als dass man die Indikator-
beziehung einseitig vom Formtyp her denken könnte.
So schlägt R. Harnish beispielsweise den Begriff der
Kompatibilität vor, um diese Beziehung zu kennzeich-
nen: »[...] the utterance is literal if there is a certain
kind of compatibility between the form and meaning
of the expression and the force and content of the
communicative intent one has in uttering it literally
and directly« (Harnish 1994: 432).
Etwas genauere Mittel der Illokutionsanzeige sind
modale Satzadverbien, deren Gebrauch in Deklarativ-
sätzen präferiert ist und der Signalisierung der Stärke
der assertiven Illokution dient:
(7) Monika geht vielleicht/wahrscheinlich/zweifellos
ins Kino.
Allerdings können auch direktive Sprechakte in Impe-
rativsätzen mit modalen Satzadverbien auftreten,
dann als Korrelat von Direktiva:
(8) Räum gefälligst den Keller auf!
Temporale Adverbien können Deklarativsätze mit di-
rektiven Sprechakten korrelieren:
(9) Du gehst augenblicklich die Post holen!
Sätze, die Modalverben enthalten, sind mit unter-
schiedlichen Typen von Direktiva korreliert. Je nach
Modalverb liegt eine Aufforderung, eine Anord-
nung oder eine Erlaubnis vor:
(10) Du musst/sollst/darfst die Tür öffnen.
Grundsätzlich ist es wichtig, die Beziehung des Illoku-
tionsindikators zur indizierten Illokution zu unter-
scheiden von der Beziehung eines Ausdrucks zu sei-
ner semantischen Bedeutung. Während die Bedeu-
tungsbeziehung eine zweistellige ist zwischen einem
Formtyp i und seinem Denotat d und die Form
B(i,d)
annimmt, so ist die Korrelation eines Illokutionsindi-
kators mit der indizierten Illokution eine dreistellige
insofern, als der Sprecher/die Sprecherin als Instanz,
die intentional das Mittel des Indikators in einem be-
stimmten Kontext einsetzt, um eine spezifische Illo-
kution anzuzeigen, hinzukommt: Die resultierende
Form ist
I(s,k,i),
wobei s für Sprecher/in, k für das Korrelat und i für
den verwendeten Formtyp steht (vgl. Liedtke 1998:
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
35
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
106). Nur so lässt sich der Tatsache Rechnung tragen,
dass bestimmte, kontextbedingte Entscheidungen
der Sprecher/innen Einfluss nehmen auf die Bezie-
hung zwischen einem Formtyp und einem Illokuti-
onstyp.
3.7 Performativität
Die Analyse performativer Äußerungen, wie sie an-
fänglich von J. L. Austin vorgenommen wurde, stand
immer wieder im Fokus sprechakttheoretischer
Überlegungen. Die Frage, die sich seit den Anfängen
im Zusammenhang mit performativen Äußerungen
stellte, war Folgende: Wie ist der Gebrauch von per-
formativen Verben theoretisch einigermaßen zufrie-
denstellend zu beschreiben? Neben den Publikatio-
nen, die unmittelbar an Austins Entwurf anschlossen
(z. B. E. J. Lemmon 1962; I. Hedenius 1963; J. Hart-
nack 1963), gibt es bis in die neuere Zeit hinein eine
Debatte darüber, wie man Performativa zu beschrei-
ben habe.
Es lassen sich dabei grob gesagt zwei Schulen aus-
machen, die konkurrierende Beschreibungsmodelle
für performative Äußerungen entwickelt haben. Die
Anhänger der einen Schule gehen davon aus, dass mit
einer performativen Äußerung ein klassischer Dekla-
rativsatz vollzogen wird. Sie schließen daraus, dass der
direkt vollzogene Sprechakt eine Behauptung ist; der
aktuell vollzogene Sprechakt ist dann ein indirekter,
denn er stimmt ja nicht mit dem Satztyp des Deklara-
tivsatzes überein. Das gegebene Beispiel
(11) Wir fordern die Verantwortlichen auf, die notwen-
digen Maßnahmen zu ergreifen.
ist ein solcher Satz, der durch die Zugehörigkeit zum
Deklarativ-Typ zunächst den Sprechakt der Behaup-
tung anzeigt. Da aber aktuell mit ihm aufgefordert
wird, handelt es sich um einen indirekten Sprechakt.
Die Vertreter der zweiten, konkurrierenden Auffas-
sung bestreiten, dass es sich bei performativen Äuße-
rungen um indirekte Sprechakte handelt. Der für (11)
einschlägige Satztyp ist zwar ein Deklarativsatz, aber
im Fall der performativen Äußerung greift dieser In-
dikator nicht. Er ordnet sich der Formel wir fordern
auf ... unter, die in direkter Weise den Sprechakt expli-
zit macht, der vollzogen wird.
Vertreten wird die Indirektheits-Auffassung von
Kent Bach und Robert Harnish (1979; 1992), aber
auch François Récanati (1987) lässt sich dieser Rich-
tung zuordnen. Die zweite Auffassung, die eine di-
rekte Lesart für Performativa annimmt, wird von
Bruce Fraser (1975), Günther Grewendorf (1979),
John Searle (1989) und Savas Tzohatsidis (1989) ver-
treten. J. Searle (1989) führt in der Auseinanderset-
zung mit Bach und Harnish ein entscheidendes Ar-
gument an, das sich gegen die Indirektheits-Interpre-
tation wendet. Wenn explizitperformative Äußerun-
gen aufgrund ihrer Satzart als Behauptungen
aufgefasst werden, dann würde der Sprecher mit
(12) Ich verspreche, morgen da zu sein.
behaupten, dass er verspricht, morgen da zu sein.
Man nennt solche Behauptungen selbst-referentiell,
weil man mit ihnen auf den vollzogenen Sprechakt
selbst wieder Bezug nimmt. Allerdings tritt ein Pro-
blem auf, das den Übergang von der Behauptung
zum (indirekten) Versprechen sehr erschwert: Es
ist nicht sicher, ob die Behauptung zutrifft. Denn nur
wenn die angenommene Behauptung wahr ist, folgt
aus ihr auch die Tatsache, dass etwas versprochen
wurde; ist die Behauptung falsch, gibt es kein Ver-
sprechen – und somit auch keinen explizit performa-
tiv vollzogenen Sprechakt. Da es aber keine Wahr-
heitsgarantie für Behauptungen gibt, ist der Weg von
dieser zum vollzogenen Sprechakt ein sehr unsiche-
rer – und es stellt sich die Frage, warum man einen
solch unsicheren Weg der Kommunikation wählen
sollte. Als Alternative wählt Searle den Weg, explizite
Performativa als eine eigene Klasse von Sprechakten
einzuführen, nämlich als Deklarationen (Searle
1982a; Searle/Vanderveken 1985). Wie gezeigt brin-
gen Deklarationen durch ihren Vollzug eine Über-
einstimmung zwischen dem propositionalen Gehalt
einerseits und dem Realitätsausschnitt, auf den sie
sich beziehen, zustande.
Die Debatte über den theoretischen Status von per-
formativen Äußerungen ist nicht abgeschlossen. Das
Verhältnis von Performativa und Behauptungen wird
in Grewendorf (2002) noch einmal thematisiert; er
spricht sich in seinem Beitrag dagegen aus, Performa-
tiva der Klasse der Deklarationen zuzuordnen mit
dem Argument, dass es sich nicht um eine eigene
Sprechaktklasse handelt, sondern um eine Art und
Weise, einen beliebigen Sprechakt auszuführen. Dies
können Deklarationen sein:
(13) Ich eröffne hiermit den Bazar.
aber es können genauso gut Behauptungen sein:
3 Sprechakttheorie
36
(14) Ich stelle fest, dass der Bazar eröffnet ist.
oder Aufforderungen:
(15) Ich fordere Sie auf, den Bazar zu eröffnen.
Einen Überblick über die weitere Performativitätsdis-
kussion bietet Friedrich C. Doerge (2013).
3.8 Indirekte Sprechakte
Indirekte Sprechakte zeichnen sich dadurch aus, dass
die angezeigte Illokution (etwa über performative
Verben oder über den Satztyp) nicht mit der von den
Sprecher/innen intendierten Illokution überein-
stimmt. So kann eine Bitte, das Fenster zu schließen,
in Form eines Behauptungssatzes oder eines Fragesat-
zes realisiert werden:
(16) Hier ist es ziemlich kalt.
(17) Kommst du an das Fenster ’ran?
Der Grund für die Indirektheit des Sprechaktvollzugs
ist in der Regel die Höflichkeit des Sprechers/der Spre-
cherin, denn durch eine direkte Aufforderung würde
das negative Face der Adressat/innen verletzt (vgl.
Brown/Levinson 2004). J. R. Searle geht in seiner Ana-
lyse davon aus, dass jemand mit der Äußerung von
(16) oder (17) zwei Sprechakte ausführt, nämlich ein-
mal den angezeigten Sprechakt – eine Feststellung
oder eine Frage – und zum anderen eine Bitte. Termi-
nologisch wird der indirekt vollzogene Sprechakt als
primärer Sprechakt, der wörtlich vollzogene, aber
nicht intendierte Sprechakt als sekundärer Sprechakt
eingeführt (vgl. Searle 1982b).
Der Übergang vom angezeigten, sekundären zum
intendierten, primären Sprechakt wird durch einen
Schlussprozess ermöglicht, in den adressatenseitig
unterschiedliche Kenntnisse eingehen: die Bedingun-
gen für den Vollzug von Sprechakten, Prinzipien der
Konversation und außersprachliche Hintergrund-
informationen. Mit (16) und (17) werden jeweils un-
terschiedliche Einleitungsbedingungen für den Voll-
zug direktiver Sprechakte thematisiert, so im Falle von
(16), dass der gewünschte Zustand (dass es wärmer
wird) nicht ohnehin eintritt bzw. für (17), dass der Ad-
ressat/die Adressatin in der Lage ist, die Handlung
auszuführen. Die einschlägige Konversationsmaxime
ist diejenige der Relevanz, die sicherstellt, dass die be-
schriebene Situation bzw. die erfragte Handlungs-
voraussetzung etwas mit der geäußerten Bitte zu tun
hat. Allgemeine Hintergrundinformationen beziehen
sich auf physikalische Kenntnisse, beispielsweise dass
es wärmer wird, wenn das Fenster geschlossen ist. Zu-
sammen mit dem Verfügen über eine allgemeine Fol-
gerungsstrategie sorgen diese Kenntnisse und hinrei-
chende Kontextinformationen dafür, dass der Schluss-
prozess vom sekundären zum primären Sprechakt ge-
lingt (vgl. Searle 1982b: 55).
Auch wenn es sich bei indirekten Sprechakten nicht
um Idiome handelt, denn sie sind durchweg seman-
tisch transparent, so sind doch einige von ihnen kon-
ventionalisiert. Neben der Thematisierung der Fähig-
keit, die Handlung auszuführen (wie in (17)), kann
auch der Wunsch des Sprechers/der Sprecherin ge-
nannt werden:
(18) Ich würde es begrüßen, wenn du das für mich tust.
oder aber der Wunsch bzw. die Bereitschaft des Adres-
saten/der Adressatin, die erbetene Handlung aus-
zuführen:
(19) Würde es dir etwas ausmachen, nicht so viel Krach
zu machen? (vgl. Searle 1982b: 58).
Dass diese Formen konventionalisierte Bitten darstel-
len, ist auch daran ersichtlich, dass man die Partikel
bitte einfügen kann, die ihrerseits einen Indikator für
einen direktiven Sprechakt darstellt. Sie erscheint in-
nerhalb eines Fragesatzes, der mit der sekundären,
wörtlichen Frage-Illokution korreliert ist. Im Vollzug
eines primären indirekten Sprechakts wird grundsätz-
lich der sekundäre direkte Sprechakt mit vollzogen.
Dies zeigt sich an Reaktionen auf indirekte Sprech-
akte, die sich zumindest auch auf den sekundären
Sprechakt, beispielsweise eine Frage, beziehen. Eine
angemessene Reaktion auf (17) besteht in einer Ant-
wort (Ja) sowie der Handlung des Fenster-Schließens.
Die Searlesche Annahme, dass indirekte Sprechakte
im Vollzug von zwei Sprechakten, dem sekundären
und dem primären bestehen, leitet sich aus der starken
Bindung der illokutionären Kraft eines Sprechakts an
die wörtliche Bedeutung des geäußerten Satzes ab.
Hier besteht ein festes Determinationsverhältnis, das
auch im Falle indirekter Sprechakte nicht aufgehoben
wird. Diese Determinierung des sekundären Sprech-
akts durch die wörtliche Satzbedeutung führt aber in
einigen Fällen zu problematischen Annahmen, näm-
lich immer dann, wenn der sekundäre und der primäre
illokutionäre Akt im Widerspruch zueinander stehen.
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
37
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Werner Sökeland hat in seiner Arbeit zur Indirekt-
heit von Sprechhandlungen (1980) darauf hingewiesen,
dass es in diesen Fällen nicht plausibel ist anzuneh-
men, beide Sprechakte würden in einem Zuge aus-
geführt. So bestehen rhetorische Fragen aus einer se-
kundären Fragehandlung und einer primären Be-
hauptung. Beide Sprechakte haben aber einander aus-
schließende Einleitungsbedingungen, denn bei einer
Frage signalisiert man, dass man nicht weiß, ob der
propositionale Gehalt wahr ist; bei Behauptungen
sollte man aber sicher sein, dass der propositionale
Gehalt zutrifft (vgl. Sökeland 1980: 42). Auch ist eine
Reaktion mit Nein auf den sekundären Fragesprechakt
wie in (17) manchmal angemessen: Die Bitte kann
nicht erfüllt werden. In anderen Fällen wie beispiels-
weise in (19) wäre die Antwort Ja unangemessen und
würde vermutlich einen Konflikt auslösen. Es ist also
situationsabhängig, ob man auf den sekundären
Sprechakt reagieren kann, ohne auf den primären
Sprechakt zu reagieren (vgl. hierzu auch Harras 1983:
188 ff.; Meibauer 1986).
3.9 Fiktionaler Diskurs
Im Zusammenhang mit literaturwissenschaftlichen
Fragestellungen ist die Eigenschaft der Fiktionalität
von Äußerungen und Texten relevant geworden. In
sprechakttheoretischer Perspektive geht es um die
Frage, wie Berichte, Feststellungen und Behauptungen
in fiktionalen Texten zu behandeln sind, bei denen
sich die Frage der Erfüllung grundlegender Gelin-
gensbedingungennicht stellt. Für den fiktionalen Dis-
kurs erweisen sich weder der oben genannte illokutio-
näre Zweck von Assertiva, den Sprecher / die Spreche-
rin darauf festzulegen, dass die zum Ausdruck ge-
brachte Proposition wahr ist, noch die Ausrichtung im
Sinne von Wort-auf-Welt noch schließlich der zum
Ausdruck gebrachte psychische Zustand, nämlich
›Glauben‹, überhaupt als relevant. Trotzdem erhalten
Schilderungen von Situationen, Ereignissen oder
Handlungen eine assertive illokutionäre Kraft, die
mit Sprechakten in nicht-fiktionalen Verwendungen
durchaus vergleichbar ist. Es ist dann zu erklären, wie
die Nicht-Erfüllung der Gelingensbedingungen zu
vereinbaren ist mit dem offenkundigen Status fiktio-
naler Behauptungen als assertiver Sprechakte.
J. R. Searle schlägt in seinem Aufsatz »Der logische
Status fiktionalen Diskurses« (1982c) vor, dass Autor/
innen fiktionaler Werke nicht assertive Sprechakte
ausführen, sondern vorgeben, diese auszuführen.
Hierbei ist ein spezifischer Sinn von ›vorgeben‹ rele-
vant, der nicht im Sinne von ›täuschen‹ zu verstehen
ist, sondern im Sinne von ›so-tun-als-ob‹. Wenn also
ein Autor wie Conan Doyle bestimmte Handlungen
seiner Helden Sherlock Holmes und Dr. Watson be-
schreibt, dann handelt es sich in der Tat um assertive
Sprechakte, allerdings nicht um solche, die vollzogen,
sondern solche, die lediglich vorgegeben sind. Fiktio-
naler Diskurs ist also durch vorgegebene oder präten-
dierte Sprechakte gekennzeichnet, nicht aber durch
Eigenschaften der vollzogenen Äußerungen selbst,
weder auf syntaktischer noch auf semantischer Ebene
(vgl. Searle 1982c: 87).
Auch wenn die Ausrichtung eines Sprechakts, sei es
Wort-auf-Welt, sei es Welt-auf-Wort, für fiktionalen
Diskurs nicht relevant ist, so spielt die Beziehung zur
Welt für diesen doch eine gewisse – negative – Rolle.
Searle fasst die Regeln, die eine Äußerung in eine wie
auch immer geartete Beziehung zur Welt setzen, als
vertikale Regeln auf. Fiktionale Äußerungen werden
dagegen durch außersprachliche, nicht-semantische
Konventionen ermöglicht, die diese Verbindung von
Sprache zur Welt durchbrechen. Sie werden als hori-
zontale Konventionen eingeführt, die die für Sprech-
akte geltenden vertikalen Bedingungen aufheben. Ei-
ne Behauptung, dass Sherlock Holmes eine bestimmte
Handlung vollzieht, verliert aufgrund der im fiktiona-
len Diskurs geltenden horizontalen Konventionen ih-
ren vertikalen Bezug zur Welt, und daraus folgt die
Suspendierung der Einleitungs- und der anderen Re-
geln für den Sprechaktvollzug. Zusammenfassend
kann man also sagen: Der vorgegebene Vollzug eines
illokutionären Aktes wie beispielsweise eines Asser-
tivs besteht darin, dass lediglich ein Äußerungsakt
vollzogen wird in der Absicht, die horizontalen Kon-
ventionen in Kraft zu setzen, die die illokutionären
Festlegungen der Äußerung durchbrechen.
Diese Eigenschaft fiktionalen Diskurses gilt für
Prosatexte. Im Falle von Dramentexten verändert sich
der logische Status der enthaltenden Sprechakte inso-
fern, als es sich nicht einfach um vorgegebene Be-
hauptungen handelt. Die vorkommenden Sprechakte
sind vielmehr Anweisungen für die Ausführenden, al-
so etwa die Schauspieler, wie etwas vorzugeben ist
(vgl. Searle 1982c: 91). Während eine fiktionale Ge-
schichte eine vorgebliche Darstellung einer Sachlage
ist, handelt es sich bei einem Theaterstück um die
Sachlage selbst und nicht um ihre Darstellung. So ge-
ben etwa die Schauspieler vor, die handelnde Person
selbst zu sein. Die Struktur von theatralen Sprech-
akten ist also komplexer als diejenige von Prosatexten.
3 Sprechakttheorie
38
Searles Konzeption der Fiktionalität, die sich auf
den Begriff des prätendierten illokutionären Aktes
stützt, ist intensiv kritisch diskutiert worden. Hier-
durch ist ein literaturwissenschaftliches Teilparadigma
entstanden, das die sprechakttheoretische Begrifflich-
keit zur Erklärung von Fiktionalität zugrunde legt (ei-
ne Zusammenfassung der Debatte bietet Zipfel 2001:
187 ff.). Kritisch sind vor allem drei Aspekte der Searle-
schen Konzeption aufgenommen worden. Einerseits
wurde bestritten, dass fiktionale und nicht-fiktionale
Äußerungen innerhalb eines Textes an der Oberfläche
nicht voneinander unterschieden werden können – al-
so buchstäblich denselben Äußerungsakt aufweisen.
Dorrit Cohn (1990) macht darauf aufmerksam,
dass eines von Searles eigenen Beispielen, eine Ro-
manpassage von Iris Murdoch, gute Gegenevidenz ge-
gen seine Auffassung bietet, da es Aussagen über die
Gedanken des Protagonisten beinhaltet. Diese seien
bei faktualem Berichten weder üblich noch ohne Wei-
teres möglich. Neben dem Argument des ›inneren
Monologs‹ gibt es ein weiteres epistemisches Gegen-
argument, das sich auf Schilderungen von Szenen in
Science-Fiction-Romanen bezieht. Hier wird man
kaum sagen können, dass der Autor vorgibt, etwas zu
berichten, von dem er Kenntnis besitzt, denn die ge-
schilderten Sachverhalte sind keine geeigneten Ge-
genstände des Autorwissens (vgl. Crittenden 1991).
Schließlich wurde kritisiert, dass der Bezug auf die
Autorintention, der für eine sprechakttheoretische
Perspektive tragend ist, auf literarische Produktion
nicht ohne Weiteres anwendbar sei, da so die Unter-
scheidung zwischen Autor und Erzähler ignoriert
würde. Eine Trennung zwischen autororientierter ex-
terner und erzählerorientierter interner Sprachhand-
lungssituation sei jedoch unerlässlich für eine an-
gemessene Sicht auf literarische Texte (vgl. Hempfer
1990; Zipfel 2001: 189).
Ob diese Kritikpositionen letztlich zur Inadäquat-
heit der Konzeption führen, wie Zipfel betont (vgl.
Zipfel 2001: 188), ist diskutierenswert. So sind gegen
die drei angeführten Kritikpositionen durchaus ver-
teidigende Gegenargumente denkbar: Aussagen über
Gedanken anderer Personen sind auch im faktualen
Erzählen nicht ausgeschlossen (bei intimer Kenntnis
der berichtenden über die berichtete Person, bei-
spielsweise im familiären Kontext); den Fall der Sci-
ence-Fiction nimmt Searle selbst in seine Konzeption
auf, als Beispiel dafür, wie wenig der Autor bisweilen
auf die Darstellung von Wirklichem festgelegt ist (vgl.
Searle 1982c: 95); die Trennung von Autor und Erzäh-
ler wird ebenfalls für Erzähltexte in der ersten Person
thematisiert (vgl. Searle 1982c: 91). Jedoch sind diese
Bemerkungen nicht sehr ausführlich und lassen
durchaus einige Fragen nach Konkretisierung offen.
Ein Weiterdenken der Searleschen Konzeption fin-
det bei Gérard Genette statt, der über die Analyse prä-
tendierter Assertiva hinausgeht, indem er den kon-
struktiven, kreativen Aspekt literarischer Produktion
betont. Neben dem assertiven Sprechakt seien es vor
allem direktive und deklarative Sprechakte, die in ih-
rer wirklichkeitsschaffenden Funktion kennzeich-
nend für fiktionale Texte sind (vgl. Genette 1991).
Gregory Currie (1990) führt Fiktionalität auf eine
spezifische Sprachhandlung zurück, einen act of fic-
tion-making, der ein Resultat einer entsprechenden
Autorintention ist. Diese fictive intention richtet sich
darauf, einen Akt des make believe zu vollziehen, der
sich auf das lesende Publikum richtet. Eine Kritik die-
ser Konzeption findet sich bei Zipfel (2001: 215 f.). Als
innovativ am Searleschen Ansatz stellt Edgar Onea
(2014) heraus, dass Sprechakte als simulierte Hand-
lungen eingeführt werden, was letztlich dem Ziel
dient, Fiktionalität im Rahmen der Sprechakttheorie
zu behandeln. Dies sei weitgehend gelungen.
3.10 Schlussbemerkungen
Die Kategorien der Sprechakttheorie sind in den festen
Bestand pragmatischer Beschreibung von Sprachver-
halten eingegangen. Gleichwohl ist an verschiedenen
Festlegungen Kritik geübt worden, die sich vor allem
auf zwei Grundannahmen richtet: Der erste Vorwurf
lässt sich mit dem Schlagwort der Sprecherorientie-
rung kennzeichnen; es werde die Tatsache ausgeblen-
det, dass sprachlicher Austausch eine Interaktion zwi-
schen Sprecher/in S und Adressat/in A ist, innerhalb
derer Bedeutungenund damit auch illokutionäre Kräf-
te nicht vorgängig und souverän von S festgelegt wer-
den, sondern Teil eines Aushandlungsprozesses zwi-
schen S und A sein können. Dem lässt sich entgegnen,
dass auch bei Vorliegen eines solchen Aushandlungs-
prozesses S gestattet werden sollte – und dies in der Re-
gel auch wird – die letztliche Entscheidung darüber zu
treffen, was er/sie intendiert und damit gemeint hat.
Gegen die eigene Überzeugung, was gemeint war, wird
man S nicht auf eine Lesart festlegen, die er/sie nicht
ratifizieren kann und will.
Die zweite grundsätzliche Kritik richtet sich gegen
den universalistischen Charakter der angenommenen
Sprechaktkategorien, der letztlich dazu führe, dass kul-
turspezifische Ausprägungen von Sprechaktrealisie-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
39
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
rungen ignoriert werden (vgl. hierzu Gass/Neu 2006).
Natürlich unterliegt gerade den Gründungstexten der
Sprechakttheorie ein kulturspezifischer Bias, der sich
aus der angelsächsischen Provenienz der sprachana-
lytischen Arbeiten erklärt. Bei der Diskussion im
Spannungsfeld zwischen Universalismus und Kultur-
spezifik ist es allerdings wichtig, die argumentativen
Ebenen zu beachten, auf denen sich die Diskussion ab-
spielt. So spricht die Tatsache, dass es kulturspezifische
Realisierungen von Sprechakttypen gibt, nicht gegen
den universellen Charakter der Typen selbst – sondern
setzt diesen mit der Redeweise von ›Ausprägungen‹
geradezu voraus. Eine radikal kulturrelativistische
Sicht würde dann die Universalität der Kategorien
selbst bestreiten müssen, etwa derart, dass sich in einer
spezifischen Kultur keine Sprechakte des einen oder
anderen Typs nachweisen lassen, oder eben in dieser
Kultur Sprechakte vorkommen, die es in keiner ande-
ren gibt. Ob dies sich allerdings auf der allgemeinen
Ebene der Sprechakttaxonomie mit (mehr oder weni-
ger) fünf Sprechaktklassen zeigen lässt, erscheint zwei-
felhaft. Kulturspezifische Vorkommnisse (oder Abwe-
senheiten) von Sprechakttypen lassen sich in der Regel
auf einer feinkörnigeren Ebene aufzeigen, unterhalb
der Taxonomie, wie sie beispielsweise von J. R. Searle
vertreten wurde.
Literatur
Alston, William P. (1964): Philosophy of Language. Engle-
wood Cliffs.
Alston, William P. (1987): Matching illocutionary act types.
In: Judith Jarvis Thompson (Hg.): On Being and Saying.
Essays for Richard Cartwright. Cambridge, Mass., 151–
163.
Austin, John L. (1975): Performative Äußerungen. In: John
L. Austin: Wort und Bedeutung. München, 245–268. [Per-
formative Utterances. In: John L. Austin: Philosophical
Papers, ed. by J. O. Urmson/G. J. Warnock. Oxford, 1961].
Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte, übers.
von E. v. Savigny. Stuttgart. [How to do things with Words.
The William James Lectures delivered at Harvard Univer-
sity 1955, ed. by J. O. Urmson. Oxford, 1962].
Bach, Kent/Harnish, Robert M. (1979): Linguistic Commu-
nication and Speech Acts. Cambridge, Mass.
Bach, Kent/Harnish, Robert M. (1992): How performatives
really work. A reply to Searle. In: Linguistics and Philoso-
phy 15, 93–110.
Brandom, Robert B. (2000): Expressive Vernunft. Begrün-
dung, Repräsentation und diskursive Festlegung. Frank-
furt a. M. [Making it Explicit. Reasoning, Representing,
and Discursive Commitment. Harvard, 1994].
Brown, Penelope/Levinson, Stephen (2004): Politeness.
Some Universals in Language Usage. Cambridge.
Bühler, Karl (1999): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunk-
tion der Sprache. Stuttgart.
Cohen, L. Jonathan. (1964): Do illocutionary forces exist?
In: Philosophical Quarterly 14, 118–137.
Cohn, Dorrit (1990): Signposts of fictionality. A narratologi-
cal perspective. In: Poetics Today 11, 775–804.
Crittenden, Charles (1991): Unreality. The Metaphysics of
Fictional Objects. Ithaca/London.
Currie, Gregory (1990): The Nature of Fiction. Cambridge
u. a.
Doerge, Friedrich Christoph (2013): Performative utteran-
ces. In: Marina Sbisà/Ken Turner (Hg.): Pragmatics of
Speech Actions. Berlin/Boston (Handbooks of Pragmatics
2), 203–256.
Fraser, Bruce (1975): Hedged performatives. In: Peter Cole/
Jerry L. Morgan (Hg.): Speech Acts (Syntax and Semantics
3). New York, 187–210.
Gass, Susan M./Neu, Joyce (2006): Speech Acts across Cultu-
res. Berlin/New York.
Genette, Gérard (1991): Fiction et Diction. Paris.
Grewendorf, Günther (1979): Haben explizit performative
Äußerungen einen Wahrheitswert? In: Günther Grewen-
dorf (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt
a. M., 175–196.
Grewendorf, Günther (Hg.) (2002): Speech Acts, Mind and
Social Reality. Dordrecht.
Habermas, Jürgen (1981): Theorie kommunikativen Han-
delns. Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche
Rationalisierung. Frankfurt a. M.
Hare, Richard M. (1971a): Meaning and speech acts. In:
Richard M. Hare: Practical Inferences. London, 74–93.
Hare, Richard M. (1971b): Austin’s distinction between
locutionary and illocutionary acts. In: Richard M. Hare:
Practical Inferences. London, 100–116.
Harnish, Richard M. (1994): Mood, meaning, and speech
acts. In: Savas L. Tzohadzidis (Hg.): Foundations of
Speech Act Theory. Philosophical and Linguistic Perspec-
tives. London, 407–459.
Harras, Gisela (1983): Handlungssprache und Sprechhand-
lung. Berlin.
Hartnack, Justus (1963): The performatory use of sentences.
In: Theoria 29, 137–146.
Hedenius, Ingemar (1963): Performatives. In: Theoria 29,
115–136.
Hempfer, Klaus W. (1990): Zu einigen Problemen einer Fik-
tionstheorie. In: Zeitschrift für französische Sprache und
Literatur 100, 109–137.
Kissine, Michail (2009): Illocutionary forces and what is
said. In: Mind and Language 24.1, 122–138.
Kissine, Michail (2013): From Utterances to Speech Acts.
Cambridge.
Lemmon, Edward J. (1962): On sentences verifiable by their
use. In: Analysis 22, 86–89.
Liedtke, Frank (1998): Grammatik der Illokution. Tübingen.
Lötscher, Andreas (1988): »Indirektheit« und Ellipse in
Sprechaktsequenzen / »Indirectness« and ellipsis in
speech act sequences. In: Zeitschrift für Germanistische
Linguistik. Berlin, Bd. 16, 46–61.
Meibauer, Jörg (1986): Rhetorische Fragen. Tübingen.
Onea, Edgar (2014): Fiktionalität und Sprechakte. In: Tobias
Klauk/Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdis-
ziplinäres Handbuch. Berlin, 68–96.
3 Sprechakttheorie
40
Récanati, François (1987): Meaning and Force. The Pragma-
tics of Performative Utterances. Cambridge.
Sadock, Jerry M. (1974): Toward a Linguistic Theory of
Speech Acts. New York.
Sadock, Jerry M. (1994): Toward a grammatically realistic
typology of speech acts. In: Savas L. Tzohadzidis (Hg.):
Foundations of Speech Act Theory. Philosophical and Lin-
guistic Perspectives. London, 393–406.
Searle, John R. (1968): Austin on locutionary and illocutio-
nary acts. In: Philosophical Review 77, 405–424.
Searle, John R. (1971): Sprechakte. Ein sprachphilosophi-
scher Essay. Frankfurt a. M. [Speech Acts. An Essay in the
Philosophy of Language. Cambridge, 1969].
Searle, John R. (1982a): Eine Taxonomie illokutionärer Akte.
In: John R. Searle: Ausdruck und Bedeutung. Unter-
suchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt a. M., 17–50.
Searle, John R. (1982b): Indirekte Sprechakte. In: John R.
Searle: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur
Sprechakttheorie. Frankfurt a. M., 51–79.
Searle, John R. (1982c): Der logische Status fiktionalen Dis-
kurses. In: John R. Searle: Ausdruck und Bedeutung.
Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt a. M.,
80–97.
Searle, John R. (1987): Intentionalität. Eine Abhandlung zur
Philosophie des Geistes, übers. von H. P. Gavagai. Frank-
furt a. M. [Intentionality. An Essay in the Philosophy of
Mind, Cambridge, 1983].
Searle, John R. (1989): How performatives work. In: Linguis-
tics and Philosophy 12, 535–558.
Searle, John R. (2001): Geist, Sprache und Gesellschaft. Phi-
losophie in der wirklichen Welt, übers. von H. P. Gavagai.Frankfurt a. M. [Mind, Language and Society. Philosophy
in the real World. New York, 1998].
Searle, John R./Vanderveken, Daniel (1985): Foundations of
Illocutionary Logic. Cambridge.
Sökeland, Werner (1980): Indirektheit von Sprechhandlun-
gen. Eine linguistische Untersuchung. Tübingen.
Strawson, Peter F. (1973): Austin and ›locutionary meaning‹.
In: Isaiah Berlin/Lynd W. Forguson/David F. Pears et al.:
Essays on J. L. Austin. Oxford, 46–68.
Tsohatzidis, Savas L. (1989): Explicit performatives not deri-
vable from Bach-derivations for explicit performatives. In:
Linguistische Berichte 120, 154–162.
Tsohatzidis, Savas L. (Hg.) (1994): Foundations of Speech
Act Theory. Philosophical and Linguistic Perspectives.
London.
Vanderveken, Daniel/Kubo, Susumo (Hg.) (2002): Essays in
Speech Act Theory. Amsterdam.
Wunderlich, Dieter (1976): Studien zur Sprechakttheorie.
Frankfurt a. M.
Zipfel, Frank (2001): Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Ana-
lysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff
in der Literaturwissenschaft. Berlin.
Frank Liedtke
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
41
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
4 Gesprächsforschung und Inter-
aktionale Linguistik
4.1 Einleitung
Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, aus einer wissen-
schaftsgeschichtlichen Perspektive herauszuarbeiten,
wie gesprochene Sprache und mündliche Kommuni-
kation im 19. und 20. Jahrhundert als linguistischer
Untersuchungsgegenstand erschlossen wurden und
welche Schwerpunkte die gesprächslinguistische For-
schung gegenwärtig prägen. Die Darstellung beginnt
im zweiten Abschnitt mit der frühen Beschäftigung
mit gesprochener Sprache gegen Anfang des 20. Jahr-
hunderts sowie der Entstehung der Gesprochene-
Sprache-Forschung als struktural geprägtem Zugang
zu ›mündlichen Texten‹ Mitte des 20. Jahrhunderts. Im
dritten Abschnitt wird der Beginn der modernen Ge-
sprächslinguistik in der zweiten Hälfte der 1970er Jah-
re und zu Beginn der 1980er Jahre erläutert, im Rah-
men derer gesprochene Sprache nicht mehr länger
produktorientiert als mündlicher Text, sondern pro-
zessorientiert als Gespräch untersucht wurde. Im vier-
ten Abschnitt wendet sich die Überblicksdarstellung
der Interaktionalen Linguistik zu, die zu Beginn der
2000er Jahre begründet wurde und die Ausgangs- so-
wie Bezugspunkt vieler Diskussionen in der gegenwär-
tigen Gesprächsforschung im deutschsprachigen
Raum ist. Der fünfte Abschnitt schließlich beendet
diesen Beitrag mit einer Zusammenfassung der zen-
tralen Ergebnisse zu den besprochenen Entwicklun-
gen und Positionen.
4.2 Von der Beschäftigung mit
gesprochener Sprache zur Gesprochene-
Sprache-Forschung
Zu den entscheidenden Schritten auf dem Weg zu ei-
ner sprachwissenschaftlichen Erschließung der ge-
sprochenen Sprache als eigenständigem linguisti-
schen Untersuchungsgegenstand ist fraglos Otto Be-
haghels Festvortrag 1899 vor dem Allgemeinen Deut-
schen Sprachverein zu zählen, in dem er auf eine Reihe
von Besonderheiten mündlichen Sprachgebrauchs ge-
genüber dem schriftlichen Sprachgebrauch eingeht
(vgl. Behaghel 1900). Behaghels Vortrag hebt sich von
dem Gros der zeitgenössischen Positionen weniger
durch die Kenntnisnahme und Würdigung der Münd-
lichkeit ab als vielmehr dadurch, dass er eine Reihe ge-
nuin mündlicher Forschungsfelder antizipiert, die
über die übliche linguistische Beschäftigung seiner
Zeit mit gesprochener Sprache hinausgehen (vgl. aber
auch Wunderlich 1894). So zählt Behaghel neben der
Prosodie und der zeitlichen Dimension gesprochener
Sprache auch die kommunikationsrelevante Körper-
lichkeit der Gesprächsbeteiligten (vor allem Gestik
und Mimik) zu den konstitutiven Merkmalen münd-
licher Kommunikation. Darüber hinaus bringt Be-
haghel die Charakteristika mündlicher Kommunika-
tion dezidiert mit »tiefgreifenden Unterschieden in
den inneren und äußeren Voraussetzungen« (Behag-
hel 1900: 221) gesprochener und geschriebener Spra-
che in Verbindung. Das schließt das Bewusstsein um
die Tatsache ein, dass gesprochene und geschriebene
Sprache »keine zwei getrennten Welten« (ebd.: 224)
darstellen, sondern vielmehr in einem komplexen
Verhältnis wechselseitiger Beeinflussung zu einander
stehen (vgl. dazu auch Abschnitt 3).
Behaghels Überlegungen blieben zunächst weit-
gehend folgenlos. Die Situation begann sich – begüns-
tigt durch technische Innovationen im Bereich der
Aufnahmetechnik und Archivierung, die die Erstel-
lung größerer Korpora mit mündlichen Daten er-
möglichten – erst in den 1950er und 1960er Jahren
zu ändern, als sich die frühe Gesprochene-Sprache-
Forschung mit ihren unterschiedlichen Strömungen
und Ausprägungen entwickelte. Als »Pionierarbeiten«
(Brinker/Sager 2001: 15) im deutschsprachigen Raum
gelten die Untersuchungen Rupps (1965) und Zim-
mermanns (1965) sowie Leskas (1965). Rupp (1965),
Zimmermann (1965) und Leska (1965) bzw. Höhne-
Leska (1975) setzten sich wie die frühe Umgangsspra-
chenforschung Wunderlichscher (1894) Prägung mit
frequenten mündlichen Phänomenen wie Ellipsen
und Partikeln sowie dem Verhältnis zwischen Parata-
xe und Hypotaxe auseinander, mit der Tendenz, die
beobachteten Phänomene nicht als kommunikativ-
funktionstragende Mittel der Mündlichkeit zu erklä-
ren, sondern sie stereotypisierend auf Ökonomie oder
Redundanz oder auf Spontaneität und Affekt zu redu-
zieren. Erst in späteren Untersuchungen wurde dezi-
diert die Position vertreten, dass vordergründig ›de-
fekte‹ Strukturen wie Ellipsen, Anakoluthe und Paren-
thesen Elemente einer »Interaktions-« (Betten 1976:
220 ff.) bzw. »Performanz-Grammatik« (Rath 1976:
300) sind und Interagierende von ihnen »virtuos und
flexibel« (Betten 1976: 226) Gebrauch machen.
Im Gefolge der genannten Pionierstudien Rupps,
Zimmermanns und Leskas bildeten sich im deutsch-
sprachigen Raum zwei Zentren der Gesprochene-
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_4
42
Sprache-Forschung heraus. Zum einen eröffneten die
Erhebungen und Auswertungen mündlicher Daten im
Umfeld des von Eberhard Zwirner gegründeten Deut-
schen Spracharchivs (DSAv) einen Weg von der häufig
eher zweckfunktionalen dialektologischen Beschäfti-
gung mit mündlichen Daten hin zu einer gezielten Er-
forschung gesprochener Sprache. Dabei ist insbeson-
dere die Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Südwest-
deutschland hervorzuheben, die das Korpus Deutsche
Mundarten bzw. Zwirner-Korpus weiter anreicherte
und ausbaute (vgl. dazu auch Ruoff 1973: 69 ff.).
Das zweite Zentrum der frühen Gesprochene-
Sprache-Forschung im deutschsprachigen Raum bil-
dete die 1966 eingerichtete und von Hugo Steger gelei-
tete Forschungsstelle für gesprochene Sprache des In-
stituts für Deutsche Sprache (IDS), in der im Kontext
des Projekts Grundstrukturen der deutschen Sprache
zu grammatischen und stilistischen Besonderheiten
mündlicher Kommunikation geforscht wurde. An-
ders als der Tübinger Arbeitsstelle Sprache in Süd-
westdeutschland ging es der IDS-Forschungsstelle für
gesprochene Sprache dezidiert um die Erforschung
überregionalen mündlichen Sprachgebrauchs. Steger
sprach sich dabei – und dies kann als durchaus cha-
rakteristisch für die frühe Gesprochene-Sprache-For-
schung im deutschsprachigen Raum angesehen wer-
den – explizit dagegen aus, »zum Gegenstand der
grammatischen und semantischen Erforschung ma-
chen zu wollen, was im einmaligen Sprechakt ver-
unglückt ist und vom Sprecher selbst (oder von den
Zuhörern) sofort als falsch innerhalb des von ihm ge-
genwärtig verwendeten Sprachtyps registriert und
korrigiert wird« (Steger 1967: 264).
Auf der Ebene der Theoriebildung kulminierten
die Ergebnisse des Freiburger Grundstrukturen-Pro-
jekts in der produktorientierten Unterscheidung ab-
strakter Redekonstellationstypen (vgl. Steger/Deu-trich/Schank/Schütz 1974 sowie auch Fiehler/Bar-
den/Elstermann/Kraft 2004: 75 ff.). Dieser Ansatz
entfaltete im deutschsprachigen Raum über die
»pragmatische Wende« (Helbig 1986) zu Beginn der
1970er Jahre hinaus eine nicht zu unterschätzende
forschungsgeschichtliche Wirkung. So wurde er in
der ›kommunikationsorientierten‹ Dialektologie für
die Erarbeitung ›objektiver‹ Situationsdefinitionen
herangezogen, über die Zusammenhänge zwischen
Dialektgebrauch und situativen Faktoren wie sozia-
lem Rang und Öffentlichkeitsgrad untersucht werden
sollten (vgl. Scheutz/Haudum 1982: 297). Darüber
hinaus war er Bezugspunkt der Unterscheidung von
›Gesprächstypen‹, wie sie in der erstmals 1979 ver-
öffentlichten Einführung in die Gesprächsanalyse
von Helmut Henne und Helmut Rehbock vorgeschla-
gen wurde (vgl. Henne/Rehbock 2001). Schließlich
stand er bei der Ausdifferenzierung der ›Kommuni-
kationsbedingungen‹ in Koch/Oesterreichers (1985)
›Nähe/Distanz‹-Modell Pate, das die Unterscheidung
von Medium und Konzeption in der Diskussion um
die Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schrift-
lichkeit maßgeblich popularisierte.
Das Grundstrukturen-Projekt lieferte zahlreiche
infrastrukturelle und inhaltliche Impulse für das 1974
beginnende Projekt Dialogstrukturen (vgl. Berens/
Jäger/Schank/Schwitalla 1976), in dem der Fokus von
der Untersuchung von Redekonstellationen und Re-
dekonstellationstypen gezielt und absichtsvoll hin
zur Rekonstruktion »inhaltlich-verhaltenshafter und
ausdrucksseitiger« (Steger 1976: 7) Ablaufmuster ver-
lagert wurde. Dieser veränderte Ansatz des Dialog-
strukturen-Projekts kann als wichtiger Teil des
Schritts von der frühen Gesprochene-Sprache-For-
schung in Richtung einer modernen linguistischen
Gesprächsanalyse angesehen werden, die gesprochene
Sprache nicht länger produktorientiert und system-
linguistisch als ›mündlichen Text‹, sondern prozess-
orientiert und kommunikationslinguistisch als ›Ge-
spräch‹ in den Blick nahm. Maßgeblich zu ihm bei-
getragen hat die Rezeption der US-amerikanischen
Ethnomethodologischen Konversationsanalyse im
deutschsprachigen Raum.
4.3 Von der Gesprochene-Sprache-
Forschung zur Gesprächsanalyse
Bei der Ethnomethodologischen Konversationsana-
lyse handelt es sich nicht um einen linguistischen An-
satz, sondern sie entstand in der Soziologie, genauer:
im wissenschaftlichen Kontext der Forschung Erving
Goffmans zur rituellen Ordnung sozialer Interaktion
(u. a. Goffman 1967) sowie der Ethnomethodologie
Harold Garfinkels (u. a. Garfinkel 1967). Mit Garfin-
kels Ethnomethodologie teilt die Konversationsana-
lyse die Annahme, dass gesellschaftliche Tatbestände
ihren Wirklichkeitscharakter ausschließlich über die
zwischen den Menschen ablaufenden Interaktionen
erhalten und das Ziel der Forschung darin besteht, die
Verfahren der Erzeugung sozialer Wirklichkeit im
Detail zu erfassen (vgl. Bergmann 1981: 12). Sie hebt
sich von der Ethnomethodologie jedoch dadurch ab,
dass sie diese Verfahren nicht experimentell oder über
Befragung untersucht, sondern unter der Annahme
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
43
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
einer interaktionalen »order at all points« (Sacks
1964–1972/2005, I: 484) strikt sequenzanalytisch und
strukturorientiert aus transkribierten mündlichen
(Alltags-)Gesprächen rekonstruiert. Das steht in ei-
nem offensichtlichen und direkten Gegensatz zu der
in der frühen Gesprochene-Sprache-Forschung noch
verbreiteten Annahme, ein »typischer Wesenszug der
spontanen Rede« sei ihr »sprunghafter, unsystemati-
scher Verlauf« (Zimmermann 1965: 36).
Die Konversationsanalyse wurde in der deutsch-
sprachigen Linguistik vor allem im Kontext des Frei-
burger Dialogstrukturen-Projekts als Teil einer »Lin-
guistik des Dialogs« (Steger 1976: 8) früh und nach-
haltig rezipiert. Zu ihrer breiteren linguistischen
Wahrnehmung trugen dann maßgeblich die Über-
blicksdarstellungen von Kallmeyer/Schütze (1976),
Henne/Rehbock (1979) und Bergmann (1981) bei.
Die frühe linguistische Rezeption der Konversations-
analyse überlappte sich allerdings nicht nur zeitlich
mit der intensiven Diskussion der sprechakttheoreti-
schen Positionen John Langshaw Austins und John
Searles, die mit der ›pragmatischen Wende‹ zu Beginn
der 1970er Jahre einsetzte, sondern sie vermischte sich
häufig auch mit ihr. Das Resultat waren ›hybride‹ An-
sätze, in denen konversationsanalytische Konzepte
spürbar sprechakttheoretisch gedacht wurden – ein
Umstand, den insbesondere Bergmann (vgl. 1981:
32 ff.) scharf kritisiert.
Einige der sprachwissenschaftlichen Ansätze, die in
den 1970er Jahren begannen, sich mit gesprochener
Sprache zu beschäftigen, verstanden sich dem Namen
nach als Konversationsanalyse (vgl. zum Beispiel Ditt-
mann 1979). Die sich darin abzeichnende Ausdeh-
nung des Begriffs ›Konversationsanalyse‹ auf vorwie-
gend linguistisch geprägte Zugänge zu mündlicher
Kommunikation wurde jedoch rasch als bestenfalls
unglücklich und schlimmstenfalls irreführend kriti-
siert (vgl. Bergmann 1981: 37 f.). In der Folge wurde
die Etikettierung als Konversationsanalyse wieder auf
Ansätze beschränkt, die in ihren Gegenständen, Me-
thoden und Zielen nicht der genuin linguistischen
Theoriebildung, sondern den Ansprüchen ihrer para-
digmenbildenden amerikanischen Vorgänger ver-
pflichtet sind (= Konversationsanalyse sensu stricto).
In Abgrenzung dazu wiesen sich dann insbesondere
die konversationsanalytisch beeinflussten linguisti-
schen Positionen meist als Gesprächsanalyse aus. Der
alternative Versuch, begriffssystematisch zwischen
›Conversation Analysis‹ (= Konversationsanalyse sen-
su stricto) und ›Konversationsanalyse‹ (= konversati-
onsanalytisch beeinflusste linguistische Gesprächsfor-
schung) zu unterscheiden (vgl. zum Beispiel Becker-
Mrotzek 1994: 88), hat sich in der Forschung nicht
durchsetzen können.
Zu einer weiteren spezifischen Begriffsbelegung
kam es bei der Bezeichnung ›Diskursanalyse‹, die im
gesprächslinguistischen Paradigma früh und promi-
nent von der Funktional-pragmatischen Diskursana-
lyse besetzt wurde. Die Funktional-pragmatische Dis-
kursanalyse wurde zu Beginn der 1970er Jahre von
Konrad Ehlich und Jochen Rehbein entwickelt (vgl.
einführend u. a. Ehlich 1991 und Brünner/Graefen
1994) und wandte sich erstmals im Rahmen des Pro-
jekts Kommunikation in der Schule (KidS) (1974–
1979) systematisch eigenen mündlichen Daten zu. Sie
nahm die Befunde der Konversationsanalyse zur Ge-
sprächsorganisation im Zuge dessen früh zur Kennt-
nis, ist im Gesamtbild aber vorrangig eine handlungs-
theoretische Weiterentwicklung der Sprechakttheorie
und der Sprachtheorie Karl Bühlers (vgl. Weber/Be-
cker-Mrotzek 2012: 2 f.). So werden die Form- und
Funktionsbestimmungen sprachlicher Ausdrucks-
mittel auch nicht im konversationsanalytischen Stil
möglichst unmittelbar aus sequentiellen Oberflächen-
merkmalen ihrer Gebrauchskontexte abgeleitet, son-
dern mit Bezug auf fünf funktional charakterisierte
›Felder‹ als Elementarbereiche sprachlichen Handelns
rekonstruiert, die in Orientierung an und Weiterent-
wicklung von Bühler (1999) unterschieden werden.
Dieses Feldermodell wurde in der Folgezeit u. a. von
Ehlich (1986), Redder (1990), Grießhaber (1999) und
Hoffmann (2003) zu einer elaborierten funktionallin-
guistischen Perspektive auf die Fundamente gramma-
tischer Formen und Bedeutungen im sprachlichen
Handeln weiterentwickelt.
Insgesamt wurden somit gegen Ende der 1970er
Jahre und zu Beginn der 1980er Jahre die Weichen ge-
stellt für den terminologischen ›Status quo‹, wie er ge-
genwärtig im deutschsprachigen Raum verbreitet ist:
›Konversationsanalyse‹ bzw. ›Conversation Analysis‹
bezieht sich primär auf Konversationsanalyse sensu
stricto, ›Diskursanalyse‹ im Gesprächsforschungskon-
text primär auf die Funktional-pragmatische Diskurs-
analyse, und die Bezeichnung ›Gesprächsanalyse‹
fungiert als Sammelbezeichnung für mehroder min-
der klar konversationsanalytisch beeinflusste ge-
sprächslinguistische Ansätze, die weder der Konver-
sationsanalyse im eigentlichen Sinne noch der Funk-
tional-pragmatischen Diskursanalyse zuzuordnen
sind. Bei allen Unterschieden teilen die auf diese Eti-
kettierungen jeweils entfallenden Zugänge zu gespro-
chener Sprache einen – und das ist ein wesentlicher
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
44
Verdienst der Rezeption der Konversationsanalyse –
klareren Fokus auf die kommunikative Dynamik der
unterschiedlichen Organisationsebenen von Ge-
sprächsverläufen, als die traditionelle Gesprochene-
Sprache-Forschung ihn hatte. Darüber hinaus basie-
ren sie weder auf einem traditionellen Sender-Emp-
fänger-Modell (zum Beispiel Höhne-Leska 1975: 14)
noch auf einem Sprachverhaltensmodell (zum Bei-
spiel das Freiburger Redekonstellationsmodell), son-
dern – und das verdankt sich nicht zuletzt der sprech-
akttheoretischen Rezeption – auf einem mehr oder
minder elaborierten Sprachhandlungsmodell.
Nach dem durch die Rezeption der Konversations-
analyse geprägten Übergang von der traditionellen Ge-
sprochene-Sprache-Forschung zur Gesprächsanalyse
in den 1970er Jahren kam es in den 1980er und 1990er
Jahren in der deutschsprachigen Gesprächsforschung
zunehmend zu einer intensiven und fruchtbaren Aus-
einandersetzung mit der Interaktionalen Soziolinguis-
tik John J. Gumperz’ (1982), die der Konversationsana-
lyse aufgeschlossen gegenüberstand. So wurden am In-
stitut für Deutsche Sprache die im Rahmen des 1981
beginnenden Projekts Kommunikation in der Stadt er-
hobenen Daten unter Einbezug von Gumperz’ For-
schung zum Code-Switching, zur Kontextualisierung
und zum konversationellen Schließen (conversational
inferencing) ausgewertet. Die Ergebnisse dieser For-
schung flossen später in das Konzept einer ›kommuni-
kativen Stilistik‹ ein, deren Ziel die gesprächslinguisti-
sche Erforschung der charakteristischen Stile ›sozialer
Welten‹ war (vgl. u. a. Kallmeyer 1995).
Auch im Umfeld der Forschung Aldo di Luzios zur
Sprache und Identität von Gastarbeiter/innen und ih-
ren Kindern an der Universität Konstanz sowie in
der Funktional-pragmatischen Diskursanalyse wurde
Gumperz’ Forschung früh rezipiert, wie Peter Auers
(1984, 1986) einflussreiche Untersuchungen zu Code-
Switching und Kontextualisierungsverfahren in
Mehrsprachigkeitskontexten sowie die in Rehbein
(1985) und Redder/Rehbein (1987) versammelten
funktional-pragmatischen Analysen mündlicher in-
terkultureller Kommunikation zeigen. An diese Ent-
wicklungen anschließende wichtige und ausführliche
Untersuchungen der späten 1980er und der frühen
1990er Jahre waren u. a. Hinnenkamp (1989), Kott-
hoff (1989) und Günthner (1993).
Es war nicht zuletzt der intensiven Auseinanderset-
zung mit Gumperz’ Kontextualisierungstheorie zu
verdanken, dass die prosodischen Eigenschaften all-
tagsmündlicher Kommunikation, die von der traditio-
nellen Gesprochene-Sprache-Forschung der 1960er
und 1970er Jahre noch weitgehend ignoriert worden
waren, systematisch und empirisch als ein eigenständi-
ges gesprächslinguistisches Untersuchungsfeld er-
schlossen wurden. Die dabei gewonnenen Erkenntnis-
se flossen u. a. auch in die Entwicklung des Gesprächs-
analytischen Transkriptionssystems (GAT) ein, dass
Ende der 1990er Jahre entwickelt und in den 2000er
Jahren in Form von GAT 2 noch einmal überarbeitet
wurde (vgl. Selting et al. 2009).
Eine zweite wichtige theoretische Innovation in der
Gesprächsforschung der 1980er Jahre hatte ihre Wur-
zeln in der Soziologie: Am Arbeitsbereich des Schütz-
Schülers Thomas Luckmann an der Universität Kon-
stanz wies die konversationsanalytische Forschung
Jörg Bergmanns zu Klatsch als »Sozialform der diskre-
ten Indiskretion« (Bergmann 1987: 205 ff.) den Weg
zu einer gesprächsanalytischen Perspektive auf Luck-
manns Ansatz der ›kommunikativen Gattungen‹ (vgl.
u. a. Luckmann 1986). Bei kommunikativen Gattun-
gen handelt es sich Bergmann und Luckmann zufolge
um sedimentierte Handlungstypen im ›kommunika-
tiven Haushalt‹ (Luckmann 1988) von Sprach- und
Sprechgemeinschaften, über deren Spuren im sprach-
lichen Handeln u. a. oberflächennahe und detaillierte
Interaktionsanalysen im Stile der Ethnomethodologi-
schen Konversationsanalyse Aufschluss zu geben ver-
mögen. Der Gattungsansatz – Arnulf Deppermann
(2010: 644) zufolge der vielleicht wichtigste genuin
deutsche Beitrag zur Konversationsanalyse – ist in der
Konversationsanalyse sensu stricto bis heute umstrit-
ten, da er, ähnlich wie auch Gumperz’ Interaktionale
Soziolinguistik, mit einer strengen methodologischen
Beschränkung auf die Rekonstruktion soziokulturel-
ler Makrokategorien aus lokalen Mikroprozessen
nicht vereinbar ist. In der Folge ist er eher in der kon-
versationsanalytisch geprägten linguistischen Ge-
sprächsanalyse und in der Interaktionalen Linguistik
als in der klassischen Konversationsanalyse zur An-
wendung gekommen (vgl. u. a. Kotthoff 1999; Günth-
ner 2000, Birkner 2002 und Wegner 2016). Ein we-
sentlicher Vorzug des Gattungsansatzes besteht darin,
dass er – ganz im Sinne des Goffmanschen (1979) Zu-
gangs zum ›Redestatus‹ (›footing‹) – eine analytisch
feine Dekomposition des traditionellen Rollenpaars
›Sprecher‹ und ›Hörer‹ erlaubt, über die zum Beispiel
die Komplexität und Präformiertheit von Rollen er-
schlossen werden kann, die Interaktionsbeteiligte in
institutionellen Kontexten übernehmen.
Das leitet über zu einer weiteren wichtigen Entwick-
lung in der deutschsprachigen Gesprächsforschung der
1980er Jahre: Während die frühe Gesprochene-Spra-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
45
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
che-Forschung – ebenso wie im Übrigen auch die klas-
sische Konversationsanalyse – den Einfluss institutio-
neller Rahmenbedingungen auf das Gesprächsverhal-
ten noch nicht eigens und systematisch berücksichtigt
hatte, wandte sich die deutschsprachige Gesprächsfor-
schung ab 1980 vor allem im Umfeld der Funktional-
pragmatischen Diskursanalyse sowie der Forschung
am Institut für Deutsche Sprache zu Beratungs- (1979–
1983) und Schlichtungsgesprächen (1983–1987) zu-
nehmend bewusst und gezielt mündlichen Daten aus
institutionellen und professionellen Kontexten zu (vgl.
Ehlich/Rehbein 1983; Hoffmann 1983; Redder 1983
und Nothdurft 1984 als Beispiele für frühe Unter-
suchungen). Die Analyse kommunikativer Probleme
und Störungen in institutionell geregelten Abläufen so-
wie Wünsche institutioneller Agenten und Klienten
nach Rückmeldungen zu den Untersuchungsergebnis-
sen schärften dabei den Blick für die Möglichkeit, kom-
munikative Praxis nicht nur zu beschreiben, sondern
auch Möglichkeiten ihrer Optimierung vorzuschlagen.
Das führte schließlich zur Herausbildung einer ei-
genständigen angewandten Gesprächs- bzw. Diskurs-
forschung (vgl. zum Beispiel Brünner/Fiehler/Kindt
1999), die u. a. in der Gründung des Arbeitskreises An-
gewandte Gesprächsforschung (AAG) Ende der 1980er
Jahre ihren Ausdruck fand.
Seit den 1990er Jahren haben sich in der konver-
sationsanalytisch beeinflussten linguistischen Ge-
sprächsanalyse drei grundlegende Forschungsschwer-
punkte herauskristallisiert, die ihre Wurzeln zum Teil
schon in der frühen Gesprochene-Sprache-Forschung
haben und die die gesprächslinguistischen Diskussio-
nen bis heute prägen. Als erstes ist hier die Frage nach
einer gesprächslinguistisch adäquaten Einheitenbil-
dung zu nennen, die mit Kindts (1994) und Seltings
(1995) Überlegungen zu einem grammatikunabhän-
gigen bzw. flexiblen Satzkonzept für die Mündlichkeit
erneut in den Mittelpunkt des gesprächslinguistischen
Interesses zu rücken begann (vgl. dazu auch Rupp
1965; Rath 1979; Hoffmann 1996; Stein 2003; Hennig
2006 und Deppermann 2012). Die daraus erwachsen-
de Diskussion nahm insbesondere mit Auer (2000) ei-
ne einschneidende Wende hin zu einer prinzipiell
satzunabhängigen »›on line‹ syntax« (Ono/Thompson1996: 90), die an frühe konversationsanalytische Un-
tersuchungen zur kontext- und interaktionsgebunde-
nen Produktion syntaktischer Einheiten wie Goodwin
(1979) anschließt. Eine ›on line‹-syntaktische Per-
spektive auf mündlichen Sprachgebrauch zeichnet
aus, dass sie nicht nur syntaktische Einheiten mündli-
cher Interaktion in ihren Beziehungen zu vorher-
gehendem und nachfolgendem sprachlichen Material
in den Blick nimmt, sondern auch die dynamischen
Verfahren der Etablierung möglicher Abschlusspunk-
te diskutiert, an denen sich zeitlinear entwickelnde
syntaktische Einheiten einen kontextbezogen hinrei-
chenden Grad an Vervollständigung erreicht haben.
Der syntaktische Einheitenstatus wurde vor diesem
Hintergrund in den letzten zehn Jahren häufig aus der
Perspektive der gebrauchsbasierten Konstruktions-
grammatik diskutiert, deren Annahme oberflächen-
naher Form- und Bedeutungspotentiale mit der situa-
tionsbezogenen Dynamik sprachlicher Ausdrucks-
mittel in der Mündlichkeit gut vereinbar ist (vgl. Auer
2006; Deppermann 2006; Günthner 2006 und Imo
2007 als Beispiele für frühe Untersuchungen im
deutschsprachigen Raum sowie in der jüngeren Zeit
u. a. die Beiträge in Günthner/Bücker 2009; Günth-
ner/Imo/Bücker 2014; Deppermann/Günthner 2015
und Bücker/Günthner/Imo 2015). Die Dynamik
möglicher Abschlusspunkte in der Äußerungspro-
duktion hingegen wurde aus ›on line‹-syntaktischer
Perspektive zunehmend unter dem Begriff der Zäsur
diskutiert, der methodologisch und theoretisch als
Abkehr von strukturalistisch geprägten Einheiten-
konzepten zu verstehen ist (vgl. u. a. Auer 2010 und
Barth-Weingarten 2016).
Einen zweiten grundlegenden Forschungsschwer-
punkt seit den 1990er Jahren bilden Diskussionen, die
mit einer epistemologischen, methodologischen und
gegenstandsbezogenen Revision der klassisch-konver-
sationsanalytischen Perspektive auf den Ablauf der
Produktion und Reproduktion sozialer Wirklichkeit
befasst sind. Im Zuge dessen wurde der klassischen
Konversationsanalyse ein ethnographisches, ein multi-
modales und ein semantisches Defizit bescheinigt. Im
Hinblick auf die Frage des Umgangs mit ethnographi-
schen Daten spricht sich Deppermann (2000, 2013) im
Anschluss an Schwitalla (1986) dezidiert für eine ›eth-
nographischen Gesprächsanalyse‹ aus, die – vergleich-
bar der Interaktionalen Soziolinguistik Gumperz’ – bei
der Analyse mündlicher Kommunikation auf Wissen
aus ethnographischen Interviews u. Ä. über soziokul-
turelle Hintergründe zurückgreifen darf, die im unter-
suchten Gesprächsverlauf nicht direkt sichtbar sind
und von der klassischen Konversationsanalyse folglich
aus der Analyse ausgeschlossen werden. Vor allem Ar-
beiten zum Forschungsfeld »Sprache und Zugehörig-
keit« (Hausendorf 2001: 974 f.) haben hier zeigen kön-
nen, dass methodologisch kontrolliert herangezogene
ethnographische Daten für die Analyse der Dynamik
soziokulturell komplexer Gesprächsverläufe nicht nur
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
46
nützlich, sondern in Teilen auch unverzichtbar sind
(vgl. zum Beispiel Branner 2003 und Spreckels 2006
zur Kommunikation in Mädchengruppen als spezifi-
schen soziokulturellen Milieus).
Nicht ethnographische, sondern visuelle Daten
standen bei der Weiterentwicklung der klassischen
Konversationsanalyse und ihrer Konzentration auf
Strukturen verbaler Kommunikation zu einer ›multi-
modalen Interaktionsanalyse‹ (u. a. Schmitt/Knöbl
2013) im Vordergrund. Die multimodale Interakti-
onsanalyse fordert in einem engen Verständnis, dass
als Daten ausschließlich Videoaufzeichnungen ge-
nutzt werden und das Forschungsinteresse ganz vor-
rangig dem Beitrag visueller Ausdrucksressourcen zur
Konstitution interaktiver Ordnung gilt (vgl. Schmitt/
Knöbl 2013: 244; ein Beispiel dafür ist Schmitts 2012
Untersuchung zu Gehen als situierter Praktik). In Ab-
grenzung dazu kann man in Orientierung an Hausen-
dorf/Mondada/Schmitts (2012: 8) Konzept einer
»modalitätsspezifisch erweiterten Konversationsana-
lyse« von einer modalitätsspezifisch erweiterten Ge-
sprächsanalyse sprechen, wenn die Untersuchung vi-
sueller Ausdrucksmöglichkeiten einem gesprächslin-
guistischen Interesse an Strukturen und Abläufen ver-
baler Kommunikation entspringt und auch reine
Audiotranskripte in der Analyse eine Rolle spielen
(vgl. als ein Beispiel Weidner 2017 zu ›Infotainment‹
in einer TV-Kochsendung). Auf der Ebene der Theo-
riebildung hat die verstärkte Zuwendung zu visuellen
Ausdrucksressourcen u. a. dazu beigetragen, dass
Goffmans (1963) Konzept der ›fokussierten Interakti-
on‹ in den letzten zehn Jahren wieder stärker in den
Mittelpunkt des gesprächslinguistischen Interesses
gerückt ist, da sich viele visuelle Ausdrucksmittel als
direkte Beiträge zur Herstellung oder Beendigung von
Situationen fokussierter Interaktion rekonstruieren
lassen (so etwa Ruoss 2014 zur Entstehung neuer oder
modifizierter fokussierter Interaktionssituationen in
bereits etablierten sozialen Situationen) oder fokus-
sierte Interaktion zumindest voraussetzen (vgl. zum
Beispiel Stukenbrock 2015 zur Deixis in der Face-to-
Face-Kommunikation).
Im Hinblick auf die Frage nach den Möglichkeiten
eines konversationsanalytischen Zugangs zur Seman-
tik schließlich wurde auf der einen Seite festgestellt,
dass mit sequenzanalytischen Mitteln adressatenori-
entierte konversationelle Dokumentationen des situa-
tionsbezogenen Verstehens sprachlicher Ausdrucks-
mittel (vgl. Deppermann/Schmitt 2008) sowie situati-
onsbezogene Klärungen oder Verschiebungen ihrer
intensionalen oder extensionalen Bedeutungsdimen-
sionen bis hin zu komplexen Bedeutungsaushandlun-
gen erschlossen werden können, die in der traditionel-
len linguistischen Semantik lange Zeit vernachlässigt
wurden. Auf der anderen Seite werden in alltäglichen
Gesprächssituationen aber in aller Regel nicht die
kompletten Bedeutungsspektren sprachlicher Aus-
drucksmittel situationsbezogen dokumentiert oder
ausgehandelt, sondern kontextuell wirksam sind auch
situationstranszendente Bedeutungsanteile, deren Re-
konstruktion sich einer strikt sequenzanalytischen
Perspektive entzieht.
Vor diesem Hintergrund begann sich die konver-
sationsanalytisch beeinflusste Perspektive auf Bedeu-
tungen in mündlichen Interaktionen für kognitiv-se-
mantische Theorien zu öffnen, die die Bedeutung
sprachlicher Ausdrucksmittel nicht strikt vom Ge-
brauch trennen (vgl. zum Beispiel Deppermann 2002
und Norén/Linell 2007). Hier bietet zum einen der Ein-
bezug von Ansätzen wie Rosch (1978), Lakoff (1987)
und Fauconnier/Turner (2002) die Möglichkeit, Ver-
stehensdokumentationen und Bedeutungsaushand-
lungen als konversationelle Ressourcen der Bewälti-
gung von Randbereichsunschärfen in den detailrei-
chen Bedeutungspotentialen sprachlicher Ausdrucks-
mittel zu rekonstruieren. Auch gesprächslinguistische
Perspektiven auf Vorkommen ›kontroverser Begriffe‹
(vgl. Stötzel/Wengeler 1995) in der Mündlichkeit las-
sen sich so eröffnen (vgl. Ziem im Druck). Zum ande-
ren können im Rahmen von ›common ground‹-Mo-
dellen wie Clark/Schaefer (1989) implizite Aspekte von
Äußerungsbedeutungen rekonstruiert werden, die In-
teragierende für intersubjektiv zugänglich halten und
auf denen sie ihre Verstehensdokumentationen und
Bedeutungsaushandlungen jeweils aufbauen.
Zu einem dritten grundlegenden Forschungs-
schwerpunkt seit den 1990er Jahren entwickelten
sich gesprächslinguistische Untersuchungen an der
Schnittstelle zwischen mündlicher und schriftlicher
Kommunikation, die in der traditionellen Gesproche-
ne-Sprache-Forschung noch weitgehend auf das Feld
stereotypisierender Gegenüberstellungen von Münd-
lichkeit und Schriftlichkeit reduziert worden war. Mit
der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Kom-
munikation in den Neuen Medien kristallisierte sich
hier zunehmend die Frage heraus, ob es sich bei den
Produkten informeller alltagsschriftlicher Medien-
kommunikation via E-Mail, Chat oder SMS eher um
›getippte Gespräche‹ oder eher um ›dialogischeTexte‹
handelt (vgl. dazu u. a. Storrer 2001; Dürscheid/Brom-
mer 2009). Da mehrheitlich als prägender Wesenszug
alltagsschriftlicher dialogischer Medienkommunika-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
47
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
tion ihre gesprächstypische intersubjektive Dynamik
angesehen wurde (so zum Beispiel Storrer 2001 zur
Chat- und Schmidt/Androutsopoulos 2004 zur SMS-
Kommunikation), führte diese Frage zur Erschlie-
ßung neuer gesprächslinguistischer Untersuchungs-
gegenstände. Um vor diesem Hintergrund die Gefah-
ren einer bloßen Kontrast- oder gar Defizitperspektive
zu vermeiden, die mit einer stets auf den direkten Ver-
gleich mit der mündlichen Face-to-Face-Interaktion
abzielenden Analyse verbunden sein können, wurden
die Formen alltagsschriftlicher Medienkommunikati-
on in einigen Untersuchungen mit Hoffmann (2004)
als Manifestationen ›paradiskursiver Interaktion‹ in
den Blick genommen. In dieser Form wurde begriff-
lich dem Umstand Rechnung getragen, dass Chat-
Kommunikation eine eigenständige Form der Inter-
aktion darstellt, die aus den spezifischen Bedingungen
»einer auf die Nachbildung von Diskursen gerichteten
Technologie« (Beißwenger 2005: 81) erwächst.
Empirisch wurden in der gesprächslinguistisch ori-
entierten Forschung zur Kommunikation in den Neu-
en Medien zunächst häufig soziolinguistische und in-
teraktional-stilistische Aspekte diskutiert (zum Bei-
spiel Androutsopoulos/Hinnenkamp 2001), bevor
dann zunehmend auch die sequentielle Umsetzung
basaler gesprächsbildender Organisationsformen wie
die der Turn-Abfolge unter den spezifischen Bedin-
gungen des jeweiligen Mediums und der jeweiligen
Kommunikationsform in den Mittelpunkt des Inte-
resses rückte (vgl. entsprechend Beißwenger 2007:
220 ff. zur Chat-Kommunikation und Günthner 2011:
15 ff. zur SMS-Kommunikation). Vor diesem Hinter-
grund kann mittlerweile von einer etablierten ge-
sprächslinguistischen Forschung zur alltagsschriftli-
chen dialogischen Medienkommunikation gespro-
chen werden (s. dazu auch Imo 2013: 269 ff. und Dür-
scheid 2016). Für den Gesprächsbegriff hat das indes
zur Folge, dass seine traditionelle begriffslogische
Kopplung an die Voraussetzung des ›phonischen Ko-
des‹ (vgl. Koch/Oesterreicher 1985) zumindest ins
Wanken geraten ist (im englischsprachigen Raum
stellt Herring 2010 Vergleichbares für den Begriff
›conversation‹ fest).
4.4 Von der Gesprächsanalyse zur Inter-
aktionalen Linguistik
Der zu Beginn der 2000er Jahre geprägte Begriff ›Inter-
aktionale Linguistik‹ (vgl. insbesondere Selting/Cou-
per-Kuhlen 2000–2001; Couper-Kuhlen/Selting 2018)
war Ausdruck weniger einer sich vollziehenden Wen-
de als vielmehr einer Konsolidierung derjenigen Strö-
mungen in der gesprächslinguistischen Forschung, die
sprachliche Ausdrucksmittel auf allen linguistischen
Komplexitätsebenen über sequenzorientierte oberflä-
chennahe und detaillierte Interaktionsanalysen im Sti-
le der Ethnomethodologischen Konversationsanalyse
als ›Ressourcen‹ für kommunikatives Handeln in so-
ziokulturellen Kontexten in den Blick nahmen (s. dazu
auch Barth-Weingarten 2008 und Imo 2013: 77 ff.). In
Übereinstimmung damit vertritt die Interaktionale
Linguistik eine nicht-experimentelle, funktionale und
korpusbasierte Herangehensweise, die die Annahme
oberflächenferner und autonomer grammatischer Or-
ganisationsformen ablehnt, für deren Untersuchung
die Formen und Funktionen situierten sprachlichen
Handelns irrelevant sind.
Stattdessen geht die Interaktionale Linguistik da-
von aus, dass sprachliche Ausdrucksmittel in ihren
Formen und Funktionen wesentlich durch die kom-
munikativen Praktiken in der alltäglichen mündli-
chen Interaktion geprägt werden, zu denen sie je-
weils beitragen. Damit steht die Interaktionale Lin-
guistik naturgemäß gebrauchsbasierten (›usage-
based‹) sprach- und kognitionswissenschaftlichen
Theorien nahe, die die Merkmale und Ausprägungen
sprachlicher Systeme nicht von den soziokulturellen
und kognitiven Bedingungen menschlicher Kom-
munikation entkoppeln, sondern als gebrauchsge-
prägte Resultate kommunikativen Sprachhandelns
begreifen. Ein Beispiel für eine solche Theorie ist die
Konstruktionsgrammatik, die vor allem in der inter-
aktional-linguistischen Diskussion um die Einheiten
alltagsmündlicher Kommunikation ihre Spuren hin-
terlassen hat (vgl. Abschnitt 3).
Vermittels der Zuschreibung ›interaktional‹ stellt
sich die Interaktionale Linguistik dezidiert in die Tra-
dition einer vor allem auf Harold Garfinkel, Erving
Goffman und John J. Gumperz zurückgehenden Per-
spektive auf soziale Interaktion als Ort eines kon-
struktiven Spannungsverhältnisses zwischen indivi-
duellen Interessen und verfestigten Handlungsrou-
tinen, in dessen sequentiell geordnet ablaufender
kommunikativer Bewältigung die soziokulturellen
Rahmenbedingungen interpersonaler Beziehungen
sowohl reproduziert als auch neu ausgehandelt wer-
den. So ist das Etikett ›interaktional‹ erstens Ausdruck
eines empirisch an der Binnenperspektive der Inter-
agierenden orientierten Forschungsinteresses an den
beobachtbaren alltäglichen ›Methoden‹ der Erzeu-
gung sozialer Ordnung, wie es in Garfinkels Ethno-
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
48
methodologie erkenntnisleitend angelegt und in der
aus ihr hervorgegangenen Konversationsanalyse me-
thodologisch entscheidend weiterentwickelt worden
ist (vgl. Abschnitt 3). Damit ist die methodologische
und theoretische Maßgabe verbunden, die ›Indexika-
lität‹ (Kontextbezogenheit) beobachteten sprach-
lichen Handelns weder durch vordergründig ›objekti-
vierende‹ Formalisierungen analytisch beseitigen zu
wollen (vgl. Garfinkel/Sacks 1970) noch sie als simple
Projektion von Wissensbeständen und Intentionen in
den Handlungsraum zu begreifen, die nur richtig oder
falsch dekodiert werden können.
Zweitens teilt die Interaktionale Linguistik mit Goff-
man die Kritik an der traditionellen Reduktion von In-
teraktion auf das rein verbale Handeln von Sprechern
und Hörern, die nicht nur die Gesprochene-Sprache-
Forschung, sondern auch die klassische Konversati-
onsanalyse und Teile der Gesprächsanalyse lange ge-
prägt hat. Im Gegensatz dazu versteht die Interaktiona-
le Linguistik Interaktion in einem umfassenderen Sin-
ne als soziale Situation, in der die Situationsbeteiligten
als körperlich Handelnde vor dem Hintergrund ihres
Wissens über (ggf. gattungsanalytisch rekonstruier-
bare) soziokulturell spezifisch geprägte ›Rahmen‹ in ei-
ne Vielzahl von Rollen schlüpfen können.
Drittens hat die Interaktionale Linguistik von
Gumperz die Kritik an der verbreiteten einfachen
Trennung zwischen einer gegebenen (sozialen) Situa-
tion einerseits und der in ihr stattfindenden kom-
munikativen Interaktion andererseits übernommen,
die nicht nur vielen traditionellen Positionen in der
Gesprächsforschung, sondern auch der Soziolinguis-
tik Labovscher (1966) Prägung zugrunde liegt. Dem-
gegenüber rekonstruiert die Interaktionale Linguistik
Kontext als ein dynamisches Produkt soziokulturell
spezifischer Aufzeigeleistungen, mittels derer Aus-
schnitte oder Teilaspekte einer gegebenen Situation
als interpretationsrelevanter Hintergrund für die je-
weils ablaufende Kommunikation zur Geltung ge-
bracht werden können. Die semiotische Basis dieser
Aufzeigeleistungen bilden die sogenannten Kon-
textualisierungshinweise (›contextualization cues‹) als
Formulierungsoptionen mit einer meist geringen si-
tuationstranszendenten Eigenbedeutung, die vor dem
Hintergrund der gegebenen Situation interpretations-
steuernde Schlüsse auf das jeweils Gemeinte auszulö-
sen vermögen (vgl. Gumperz 1982: 130 ff.).
Insgesamt schließt die Interaktionale Linguistik al-
so substantiell an die gesprächslinguistischen Traditi-
onslinien der ethnomethodologisch-konversations-
analytisch, interaktional-soziolinguistisch und gat-
tungstheoretisch geprägten Ansätze an, die in den
1980er Jahren u.a. im Umfeld des Instituts für Deut-
sche Sprache entstanden und seit den 1990er Jahren
zu einer ethnographisch und multimodal reflektierten
praktikenbasierten Perspektive auf das Formen- und
Funktionsspektrum alltagsmündlicher sowie später
auch alltagsschriftlicher Kommunikation ausgeweitet
wurden (vgl. Abschnitt 3). Nicht zu den direkten Tra-
ditionslinien der Interaktionalen Linguistik zählen
demgegenüber die Gesprochene-Sprache-Forschung,
die Funktional-pragmatische Diskursanalyse Ehlichs
und Rehbeins, die ›kommunikationspraktische‹ For-
schung Raths zu den Einheiten mündlicher Kom-
munikation, die sprechakttheoretisch beeinflusste Ge-
sprächsanalyse Henne/Rehbocks und die Gesprächse-
thologie Sagers (2004).
4.5 Zusammenfassung
Der Beitrag hat aus einer wissenschaftsgeschichtlich
orientierten Perspektive zu zeigen versucht, dass sich
grob drei Phasen der Erforschung gesprochener Spra-
che bzw. mündlicher Kommunikation in der deutsch-
sprachigen Linguistik unterscheiden lassen:
1. Im Hinblick auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhun-
derts und den Beginn des 20. Jahrhunderts kann
von einer ersten Phase der eingehenderen Beschäf-
tigung mit gesprochener Sprache gesprochen wer-
den, die durch Schriftfeindlichkeit einerseits sowie
eine methodologisch naive Perspektive auf Münd-
lichkeit andererseits geprägt ist. Das Resultat wa-
ren oberflächennahe und teils unsystematische
Sammlungen mutmaßlich ›umgangssprachentypi-
scher‹ Kategorien und Verbalisierungsverfahren
wie Wunderlich (1894) sowie erste Systematisie-
rungsversuche der mit ihnen assoziierten linguisti-
schen Problembereiche wie Behaghel (1900).
2. Gegen Mitte des 20. Jahrhunderts setzte vor dem
Hintergrund neuer Möglichkeiten der Aufnahme
und Archivierung von Audiodaten eine neue Pha-
se der Erforschung gesprochener Sprache ein. Das
Erkenntnisinteresse an gesprochener Sprache kon-
zentrierte sich dabei zunächst stark auf die Syntax
und wurde aus der Perspektive eines strukturalen
Zugangs zu ›mündlichen Texten‹ entwickelt, dem
ein echtes handlungstheoretisches Fundament in
aller Regel noch fehlte.
3. Die dritte Phase der Erforschung gesprochener
Sprache war geprägt durch die Rezeption der Eth-
nomethodologischen Konversationsanalyse gegen
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
49
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Mitte der 1970er Jahre und der Interaktionalen
Soziolinguistik zu Beginn der 1980er Jahre, in de-
ren Gefolge mündliche Kommunikation prozess-
orientiert als ›Gespräch‹ untersucht wurde. Eine
vergleichsweise junge Entwicklung innerhalb die-
ser Phase stellt die zu Beginn der 2000er Jahre be-
gründete Interaktionale Linguistik dar, die sich
eine konversationell-praktikenbasierte Untersu-
chung des Formen- und Funktionsspektrums all-
tagsmündlicher sowie ggf. auch alltagsschriftli-
cher Kommunikation zum Ziel gesetzt hat.
Literatur
Androutsopoulos, Jannis/Hinnenkamp, Volker (2001): Code-
Switching in der bilingualen Chat-Kommunikation: ein
explorativer Blick auf #hellas & #turks. In: Michael Beiß-
wenger (Hg.): Chat-Kommunikation. Stuttgart, 367–402.
Auer, Peter (1984): Bilingual Conversation. Amsterdam/
Philadelphia.
Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguis-
tik 19, 22–47.
Auer, Peter (2000): On Line-Syntax – oder: was es bedeuten
könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu
nehmen. In: Sprache und Literatur 31/1, 43–56.
Auer, Peter (2006): Construction Grammar meets conver-
sation: Einige Überlegungen am Beispiel von »so«-Kon-
struktionen. In: Susanne Günthner/Wolfgang Imo (Hg.):
Konstruktionen in der Interaktion. Berlin/New York,
291–315.
Auer, Peter (2010): Zum Segmentierungsproblem in der
Gesprochenen Sprache. In: InLiSt 49.
Barth-Weingarten, Dagmar (2008): Interactional linguistics.
In: Gerd Antos/Eija Ventola (Hg.): Handbook of Interper-
sonal Communication. Berlin/New York, 77–105.
Barth-Weingarten, Dagmar (2016): Intonation Units Revisi-
ted – Cesuras in Talk-in-Interaction. Amsterdam/Phi-
ladelphia.
Becker-Mrotzeck, Michael (1994): Diskursforschung in der
alten BRD. In: Konrad Ehlich (Hg.): Diskursanalyse in
Europa. Frankfurt a. M., 87–105.
Behaghel, Otto (1900): Geschriebenes Deutsch und gespro-
chenes Deutsch. Festvortrag, gehalten auf der Hauptver-
sammlung des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins zu
Zittau am 1. Oktober 1899. In: Wissenschaftliche Beihefte
zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins
17/18, 213–232.
Beißwenger, Michael (2005): Interaktionsmanagement in
Chat und Diskurs. Technologiebedingte Besonderheiten
bei der Aushandlung und Realisierung kommunikativer
Züge in Chat-Umgebungen. In: Michael Beißwenger/
Angelika Storrer (Hg.): Chat-Kommunikation in Beruf,
Bildung und Medien: Konzepte – Werkzeuge – Anwen-
dungsfelder. Stuttgart, 63–87.
Beißwenger, Michael (2007): Sprachhandlungskoordination
in der Chat-Kommunikation. Berlin/New York.
Berens, Franz-Josef/Jäger, Karl-Heinz/Schank, Gerd/Schwi-
talla, Johannes (Hg.) (1976): Projekt Dialogstrukturen.
Ein Arbeitsbericht. München.
Bergmann, Jörg R. (1981): Ethnomethodologische Konver-
sationsanalyse. In: Peter Schröder/Hugo Steger (Hg.): Dia-
logforschung. Düsseldorf, 9–51.
Bergmann, Jörg R. (1987): Klatsch. Zur Sozialform der dis-
kreten Indiskretion. Berlin/New York.
Betten, Anne (1976): Ellipsen, Anakoluthe und Parenthesen
– Fälle für Grammatik, Stilistik, Sprechakttheorie oder
Konversationsanalyse? In: Deutsche Sprache 4, 107–230.
Birkner, Karin (2002): Ost- und Westdeutsche im Bewer-
bungsgespräch: Ein Fall von interkultureller Kommunika-
tion? In: Helga Kotthoff (Hg.): Kultur(en) im Gespräch.
Tübingen, 301–331.
Branner, Rebecca (2003): Scherzkommunikation unter
Mädchen. Eine ethnographisch-gesprächsanalytische
Untersuchung. Frankfurt a. M.
Brinker, Klaus/Sager, Sven F. (32001): Linguistische
Gesprächsanalyse. Eine Einführung. Berlin.
Brünner, Gisela/Fiehler, Reinhard/Kindt, Walther (Hg.)
(1999): Angewandte Diskursforschung. 2 Bände. Opla-
den.
Brünner, Gisela/Graefen, Gabriele (1994): Zur Konzeption
der Funktionalen Pragmatik. In: Gisela Brünner/Gabriele
Graefen (Hg.): Texte und Diskurse. Methoden und For-
schungsergebnisse der Funktionalen Pragmatik. Opladen,
7–21.
Bücker, Jörg/Imo, Wolfgang/Günthner, Susanne (Hg.)
(2015): Konstruktionsgrammatik V – Konstruktionen im
Spannungsfeld von sequenziellen Mustern, kommunikati-
ven Gattungen und Textsorten. Tübingen.
Bühler, Karl (31999): Sprachtheorie. Die Darstellungsfunk-
tion der Sprache [1934]. Stuttgart.
Clark, Herbert H./Schaefer, Edward F. (1989): Contributing
to discourse. In: Cognitive Science 13/2, 259–294.
Couper-Kuhlen, Elizabeth/Selting, Margret (2018): Inter-
actional Linguistics. Studying Language in Social Inter-
action. Cambridge.
Deppermann, Arnulf (2000): Ethnographische Gesprächs-
analyse: Zu Nutzen und Notwendigkeit von Ethnographie
für die Konversationsanalyse. In: Gesprächsforschung
– Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 1, 96–124.
Deppermann, Arnulf (2002): Von der Kognition zur ver-
balen Interaktion: Bedeutungskonstitution im Kontext aus
Sicht der Kognitionswissenschaften und der Gesprächs-
forschung. In: Arnulf Deppermann/Thomas Spranz-
Fogasy (Hg.): Be-deuten. Wie Bedeutung im Gespräch
entsteht. Tübingen, 11–33.
Deppermann, Arnulf (2006): Construction Grammar – eine
Grammatik für die Interaktion? In: Arnulf Deppermann/
Reinhard Fiehler/Thomas Spranz-Fogasy (Hg.): Gramma-
tik und Interaktion. Radolfzell, 43–65.
Deppermann, Arnulf (2010): Konversationsanalyse und dis-
kursive Psychologie. In: Günter Mey/Katja Mruck (Hg.):
Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie.
Wiesbaden, 643–661.
Deppermann, Arnulf (2012): Über Sätze in Gesprächsbei-
trägen – wann sie beginnen und wann man sie braucht.
In: Colette Cortès (Hg.): Satzeröffnung. Formen, Funktio-
nen, Strategien. Tübingen, 1–14.
Deppermann, Arnulf (2013): Analytikerwissen, Teilneh-
merwissen und soziale Wirklichkeitin der ethnographi-
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
50
schen Gesprächsanalyse. In: Martin Hartung/Arnulf Dep-
permann (Hg.): Gesprochenes und Geschriebenes im
Wandel der Zeit. Festschrift für Johannes Schwitalla.
Radolfzell, 32–59.
Deppermann, Arnulf/Günthner, Susanne (Hg.) (2015):
Temporality in Interaction. Amsterdam/Philadelphia.
Deppermann, Arnulf/Schmitt, Reinhold (2008): Verstehens-
dokumentation: Zur Phänomenologie von Verstehen in
der Interaktion. In: Deutsche Sprache 3/08, 220–245.
Dittmann, Jürgen (1979): Was ist, zu welchen Zwecken und
wie treiben wir Konversationsanalyse? In: Jürgen Ditt-
mann (Hg.): Arbeiten zur Konversationsanalyse. Tübin-
gen, 1–43.
Dürscheid, Christa (2016): Neue Dialoge – alte Konzepte?
Die schriftliche Kommunikation via Smartphone. In:
Zeitschrift für germanistische Linguistik 44/3, 437–468.
Dürscheid, Christa/Brommer, Sarah (2009): Getippte Dia-
loge in neuen Medien. Sprachkritische Aspekte und lin-
guistische Analysen. In: Linguistik Online 37/1, 3–20.
Ehlich, Konrad (1991): Funktional-pragmatische Kom-
munikationsanalyse. Ziele und Verfahren. In: Dieter Fla-
der (Hg.): Verbale Interaktion. Studien zur Empirie und
Methodologie der Pragmatik. Stuttgart, 127–165.
Ehlich, Konrad (1986): Interjektionen. Tübingen.
Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen (Hg.) (1983): Kommunika-
tion in Schule und Hochschule. Linguistische und ethno-
methodologische Analysen. Tübingen.
Fauconnier, Gilles/Turner, Mark (2002): The Way We Think.
Conceptual Blending and The Mind’s Hidden Complexi-
ties. New York.
Fiehler, Reinhard/Barden, Birgit/Elstermann, Mechthild/
Kraft, Barbara (2004): Eigenschaften gesprochener Spra-
che. Tübingen.
Garfinkel, Harold (1967): Studies in Ethnomethodology.
Englewood Cliffs.
Garfinkel, Harold/Sacks, Harvey (1970): On formal struc-
tures of practical action. In: John C. McKinney/Edward A.
Tiryakian (Hg.): Theoretical Sociology. Perspectives and
Developments. New York, 338–366.
Goffman, Erving (1963): Behavior in Public Places. Notes on
The Social Organization of Gatherings. New York.
Goffman, Erving (1967): Interaction Ritual. Essays in Face-
to-Face Behavior. Chicago.
Goffman, Erving (1979): Footing. In: Semiotica 25, 1–29.
Goodwin, Charles (1979): The interactive construction of a
sentence in natural conversation. In: George Psathas
(Hg.): Everyday Language. Studies in Ethnomethodology.
New York, 97–121.
Grießhaber, Wilhelm (1999): Die relationierende Prozedur.
Zu Grammatik und Pragmatik lokaler Präpositionen und
ihrer Verwendung durch türkische Deutschlerner. Müns-
ter/New York.
Günthner, Susanne (1993): Diskursstrategien in der inter-
kulturellen Kommunikation. Analysen deutsch-chinesi-
scher Gespräche. Tübingen.
Günthner, Susanne (2000): Vorwurfsaktivitäten in der All-
tagsinteraktion. Grammatische, prosodische, rhetorisch-
stilistische und interaktive Verfahren bei der Konstitution
kommunikativer Muster und Gattungen. Tübingen.
Günthner, Susanne (2006): Von Konstruktionen zu kom-
munikativen Gattungen: Die Relevanz sedimentierter
Muster für die Ausführung kommunikativer Aufgaben.
In: Deutsche Sprache 34/1–2, 173–190.
Günthner, Susanne (2011): Zur Dialogizität von SMS-Nach-
richten – eine interaktionale Perspektive auf die SMS-
Kommunikation. In: Networx 60.
Günthner, Susanne/Bücker, Jörg (Hg.) (2009): Grammatik
im Gespräch: Konstruktionen der Selbst- und Fremdposi-
tionierung. Berlin/New York.
Günthner, Susanne/Imo, Wolfgang/Bücker, Jörg (Hg.)
(2014): Grammar and Dialogism. Sequential, Syntactic,
and Prosodic Patterns between Emergence and Sedimen-
tation. Berlin/New York.
Gumperz, John J. (1982): Discourse Strategies. Cambridge.
Hausendorf, Heiko (2001): Gesprächsanalyse im deutsch-
sprachigen Raum. In: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolf-
gang Heinemann et al. (Hg.): Text- und Gesprächslinguis-
tik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer For-
schung. 2. Halbband: Gesprächslinguistik. Berlin/New
York, 971–979.
Hausendorf, Heiko/Mondada, Lorenza/Schmitt, Reinhold
(2012): Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation.
In: Heiko Hausendorf/Lorenza Mondada/Reinhold
Schmitt (Hg.): Raum als interaktive Ressource. Tübingen,
7–36.
Helbig, Gerhard (1986): Entwicklung der Sprachwissen-
schaft seit 1970. Leipzig.
Henne, Helmut/Rehbock, Helmut (42001): Einführung in
die Gesprächsanalyse. Berlin/New York.
Hennig, Mathilde (2006): Grammatik der gesprochenen
Sprache in Theorie und Praxis. Kassel.
Herring, Susan C. (2010): Computer-Mediated Conver-
sation: Introduction and overview. In: Language@Internet
7, 1–12.
Hinnenkamp, Volker (1989): Interaktionale Soziolinguistik
und Interkulturelle Kommunikation. Gesprächsmanage-
ment zwischen Deutschen und Türken. Tübingen.
Höhne-Leska, Christel (1975): Statistische Untersuchungen
zur Syntax gesprochener und geschriebener deutscher
Gegenwartssprache. Berlin.
Hoffmann, Ludger (1983): Kommunikation vor Gericht.
Tübingen.
Hoffmann, Ludger (1996): Satz. In: Deutsche Sprache 3,
193–223.
Hoffmann, Ludger (2003): Funktionale Syntax. Prinzipien
und Prozeduren. In: Ludger Hoffmann (Hg.): Funktionale
Syntax. Berlin/New York, 18–121.
Hoffmann, Ludger (2004): Chat und Thema. In: Osnabrü-
cker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 68, 103–123.
Imo, Wolfgang (2007): Construction Grammar und Gespro-
chene-Sprache-Forschung. Tübingen.
Imo, Wolfgang (2013): Sprache in Interaktion. Analyse-
methoden und Untersuchungsfelder. Berlin/New York.
Kallmeyer, Werner (1995): Zur Darstellung von kommuni-
kativem sozialem Stil in soziolinguistischen Gruppenpor-
träts. In: Inken Keim (Hg.): Kommunikative Stilistik einer
sozialen Welt »kleiner Leute« in der Mannheimer Innen-
stadt. Berlin/New York, 1–25.
Kallmeyer, Werner/Schütze, Fritz (1976): Konversationsana-
lyse. In: Studium Linguistik 1, 1–28.
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
51
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Kindt, Walther (1994): Satzbegriff und gesprochene Sprache.
In: Lingua 94, 25–48.
Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1985): Sprache der Nähe
– Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit
im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprach-
gebrauch. In: Romanistisches Jahrbuch 36, 15–43.
Kotthoff, Helga (1989): Pro und Kontra in der Fremdspra-
che. Pragmatische Defizite in interkulturellen Argumenta-
tionen. Frankfurt a. M.
Kotthoff, Helga (1999): Die Kommunikation von Moral in
georgischen Lamentos. In: Jörg Bergmann/Thomas Luck-
mann (Hg.): Von der Moral zu den Moralen. Opladen,
50–80.
Labov, William (1966): The Social Stratification of English in
New York City. Washington.
Lakoff, George P. (1987): Women, Fire, and Dangerous
Things. Chicago.
Leska, Christel (1965): Vergleichende Untersuchungen zur
Syntax gesprochener und geschriebener deutscher Gegen-
wartssprache. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen
Sprache und Literatur (Halle), 427–464.
Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftli-
chen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattun-
gen. In: Friedhelm Neidhardt/M. Rainer Lepsius/Johan-
nes Weiß (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Sonderheft 27
der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
logie. Opladen, 191–211.
Luckmann, Thomas (1988): Kommunikative Gattungen im
kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft. In: Gisela
Smolka-Kordt/Peter M. Spangenberg/Dagmar Tilmann-
Bartylla (Hg.): Der Ursprung der Literatur. Medien, Rol-
len, Kommunikationssituationen zwischen 1450 und
1650. München, 279–288.
Norén, Kerstin/Linell, Per (2007): Meaning potentials and
the interaction between lexis and contexts. An empirical
substantiation. In: Pragmatics 17/3, 387–416.
Nothdurft, Werner (1984): »...äh folgendes problem äh...«
Die interaktive Ausarbeitung »des Problems« in Bera-
tungsgesprächen. Tübingen.
Ono, Tsuyoshi/Thompson, Sandra A. (1996): Interaction
and syntax in the structure of conversational discourse:
Collaboration, overlap, and syntactic dissociation. In:
Eduard H. Hovy/DoniaR. Scott (Hg.): Computational
and Conversational Discourse. Berlin/Heidelberg, 67–96.
Rath, Rainer (1976): Performanzerscheinungen im gespro-
chenen Deutsch. In: Gerhard Nickel (Hg.): Proceedings of
the Fourth International Congress of Applied Linguistics,
Volume 2. Stuttgart, 289–301.
Rath, Rainer (1979): Kommunikationspraxis. Analysen zur
Textbildung und Textgliederung im gesprochenen
Deutsch. Göttingen.
Redder, Angelika (Hg.) (1983): Kommunikation in Institu-
tionen (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie OBST
24). Osnabrück.
Redder, Angelika (1990): Grammatiktheorie und sprach-
liches Handeln: »denn« und »da«. Tübingen.
Redder, Angelika/Rehbein, Jochen (Hg.) (1987): Arbeiten
zur interkulturellen Kommunikation (Osnabrücker Bei-
träge zur Sprachtheorie OBST 38). Osnabrück.
Rehbein, Jochen (Hg.) (1985): Interkulturelle Kommunika-
tion. Tübingen.
Rosch, Eleanor (1978): Principles of categorization. In: Elea-
nor Rosch/Barbara B. Lloyd (Hg.): Cognition and Catego-
rization. Hillsdale, 27–48.
Ruoff, Arno (1973): Grundlagen und Methoden der Unter-
suchung gesprochener Sprache. Tübingen.
Ruoss, Emanuel (2014): Personelle Transitionen in Mehr-
personenkonstellationen: Zum Übergang von nicht-
fokussierter in fokussierte Interaktion. In: Gesprächsfor-
schung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 15,
161–195.
Rupp, Heinz (1965): Gesprochenes und geschriebenes
Deutsch. In: Wirkendes Wort 15, 19–29.
Sacks, Harvey (1964–1972/2005): Lectures on conversation.
Volumes I–II. Hg. von Gail Jefferson. Malden.
Sager, Sven F. (2004): Kommunikationsanalyse und Verhal-
tensforschung. Grundlagen einer Gesprächsethologie.
Tübingen.
Scheutz, Hannes/Haudum, Peter (1982): Theorieansätze
einer kommunikativen Dialektologie. In: Werner Besch/
Ulrich Knoop/Wolfgang Putschke et al. (Hg.): Dialektolo-
gie. Ein Handbuch zur deutschen und allgemeinen Dia-
lektforschung, 1. Halbband. Berlin/New York, 295–315.
Schmidt, Gurly/Androutsopoulos, Jannis (2004): »löbbe
döch«. Beziehungskommunikation mit SMS. In:
Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen
Interaktion 5, 50–71.
Schmitt, Reinhold (2012): Gehen als situierte Praktik:
»Gemeinsam gehen« und »hinter jemandem herlaufen«.
In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen
Interaktion 13, 1–44.
Schmitt, Reinhold/Knöbl, Ralf (2013): Recipient design aus
multimodaler Sicht. In: Deutsche Sprache 41/3, 242–276.
Schwitalla, Johannes (1986): Jugendliche hetzen über Pas-
santen. Drei Thesen zur ethnographischen Gesprächsana-
lyse. In: Linguistische Berichte 149, 248–261.
Selting, Margret (1995): Der »mögliche Satz« als interaktiv
relevante syntaktische Kategorie. In: Linguistische
Berichte 158, 298–325.
Selting, Margret/Couper-Kuhlen, Elizabeth (2000): Argu-
mente für die Entwicklung einer »interaktionalen Lin-
guistik«. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur
verbalen Interaktion 1, 76–95.
Selting, Margret/Couper-Kuhlen, Elizabeth (2001): For-
schungsprogramm »Interaktionale Linguistik«. In: Lin-
guistische Berichte 187, 257–287.
Selting, Margret/Auer, Peter/Barth-Weingarten, Dagmar/
Bergmann, Jörg/Bergmann, Pia/Birkner, Karin/Couper-
Kuhlen, Elizabeth/Deppermann, Arnulf/Gilles, Peter/
Günthner, Susanne (2009): Gesprächsanalytisches Tran-
skriptionssystem 2 (GAT 2). In: Gesprächsforschung –
Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 10, 353–402.
Spreckels, Janet (2006): »Britneys, Fritten, Gangschta und
wir«: Identitätskonstitution in einer Mädchengruppe.
Eine ethnographisch-gesprächsanalytische Untersuchung.
Frankfurt a. M.
Steger, Hugo (1967): Gesprochene Sprache. Zu ihrer Typik
und Terminologie. In: Hugo Moser/Hans Eggers/Johan-
nes Erben et al. (Hg.): Satz und Wort im heutigen
4 Gesprächsforschung und Interaktionale Linguistik
52
Deutsch. Probleme und Ergebnisse neuerer Forschung.
Düsseldorf, 259–291.
Steger, Hugo (1976): Einleitung. In: Franz-Josef Berens/
Karl-Heinz Jäger/Gerd Schank et al. (Hg.): Projekt Dialog-
strukturen. Ein Arbeitsbericht. München, 7–14.
Steger, Hugo/Deutrich, Helge/Schank, Gerd/Schütz, Eva
(1974): Redekonstellation, Redekonstellationstyp, Text-
exemplar, Textsorte im Rahmen eines Sprachverhaltens-
modells. Begründung einer Forschungshypothese. In:
Hugo Moser/Hans Eggers/Johannes Erben et al. (Hg.):
Gesprochene Sprache. Düsseldorf, 39–97.
Stein, Stephan (2003): Textgliederung. Einheitenbildung im
geschriebenen und gesprochenen Deutsch: Theorie und
Empirie. Berlin/New York.
Stötzel, Georg/Wengeler, Martin (Hg.) (1995): Kontroverse
Begriffe. Geschichte des öffentlichen Sprachgebrauchs in
der Bundesrepublik Deutschland. Berlin/New York.
Storrer, Angelika (2001): Getippte Gespräche oder dialogi-
sche Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einord-
nung der Chat-Kommunikation. In: Andrea Lehr/Mat-
thias Kammerer/Klaus-Peter Konerding et al. (Hg.): Spra-
che im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven in der Lin-
guistik. Herbert Ernst Wiegand zum 65. Geburtstag
gewidmet. Berlin/New York, 439–465.
Stukenbrock, Anja (2015): Deixis in der Face-to-Face-Inter-
aktion. Berlin/München/Boston.
Weber, Peter/Becker-Mrotzek, Michael (2012): Funktional-
pragmatische Diskursanalyse als Forschungs- und Inter-
pretationsmethode. In: http://www.fallarchiv.uni-kassel.
de/wp-content/uploads/2012/07/weber_mrotzek_
diskurs_ofas.pdf (28.8.2017).
Wegner, Lars (2016): Lehrkraft-Eltern-Interaktionen am
Elternsprechtag. Eine gesprächs- und gattungsanalytische
Untersuchung. Berlin/Boston.
Weidner, Beate (2017): Kommunikative Herstellung von
Infotainment. Gesprächslinguistische und multimodale
Analysen einer TV-Kochsendung. Berlin/Boston.
Wunderlich, Hermann (1894): Unsere Umgangssprache in
der Eigenart ihrer Satzfügung. Weimar/Berlin.
Ziem, Alexander (im Druck): Von der sprachlichen Inter-
aktion zur sozialen Kognition: kontroverse Begriffe im
mündlichen Sprachgebrauch. In: Gesprächsforschung
– Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion.
Zimmermann, Heinz (1965): Zu einer Typologie des spon-
tanen Gesprächs. Syntaktische Studien zur baseldeutschen
Umgangssprache. Bern.
Jörg Bücker
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
53
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
5 Textlinguistik
Die Darstellung beschränkt sich weitgehend auf den
deutschen Sprachraum. Denn hier bildet die (Identität
der) Textlinguistik einen besonderen Diskursgegen-
stand, während die Abgrenzung verschiedener Sub-
disziplinen anderswo weniger bedeutsam scheint.
5.1 Übersicht
Die deutsche Textlinguistik versteht sich selbst in der
Regel als einen Forschungszweig, der sich ab den
1960er Jahren entwickelt hat. Sie weist von Anfang an
zwei Ausrichtungen auf: Die eine ist eher an Sprach-
ebenen orientiert – Textlinguistik als über den Satz hi-
nausgehende, daher ›transphrastische‹ Subdisziplin.
Die andere versteht sich als Gegenkonzept zur Sys-
temlinguistik. Sie folgt dem Slogan: ›Sprache existiert
nur in Texten‹ und betrachtet die Untersuchung der
Sprachverwendung als ihre Aufgabe. Satzförmigkeit
und Länge gelten ihr nicht als Bedingungen für Text-
haftigkeit (vgl. Feuer, Betreten verboten).
Mit der sogenannten pragmatischen Wende wurde
die Textlinguistik im Sinne der zweiten Ausrichtung in
den 1970er Jahren gewissermaßen ein weiteres Mal aus
der Taufe gehoben. Dabei stand die Sprechakttheorie
Pate, die bis heute in diesem Zweig sehr einflussreich
ist und als Kernfrage die Klassifikation von Textsorten
unter kommunikativ-funktionalem Aspekt bestimmt.
Sie erklärte sich selbst zur zweiten, pragmatischen,
Phase der Textlinguistik, der dann noch ein kognitives,
kulturelles und (multi)mediales ›Paradigma‹ folgten.
Hinzu kommt eine sozialwissenschaftlich orientierte
Ausrichtung, die in vielen Arbeiten eine mehr oder
weniger große Rolle spielt (ausgeprägt etwa bei Heine-
mann/Heinemann 2002 und Habscheid 2009), aber
bislang m. W. noch nicht als Paradigma propagiert
oder rekonstruiert wurde.
Die in Deutschland einflussreichste undinzwischen
in 8. Auflage vorliegende Einführung in das Themen-
gebiet von Klaus Brinker (vgl. 1985; Brinker et al. 2014)
spricht sich für einen Ansatz aus, der (zumindest) die
transphrastische und die kommunikativ-funktionale
Betrachtung integriert und ferner (gegen Vertreter ei-
ner theorielastigen Textsortentypologie) für die Be-
rücksichtigung der Perspektive der Sprachteilhaber
und ihres umfangreichen Inventars von Ethno-Katego-
rien plädiert. In der DDR war einerseits die Tradition
der sowjetischen Tätigkeitstheorie, andererseits die der
Funktionalstilistik wichtiger. Die erste wurde durch die
Einführung von Wolfgang Heinemann und Dieter
Viehweger (1991) breiter bekannt, die dialogische
Kommunikation einbeziehen und sprechaktübergrei-
fende Zusammenhänge (globale Strategien) betonen.
Ulla Fix (vgl. u. a. Fix et al. 2001) greift die in Osteuropa
sehr einflussreiche Funktionalstilistik auf, vertritt aber
insgesamt einen vielseitig interdisziplinär geprägten
Ansatz, für den nicht zuletzt die Arbeit mit literari-
schen Texten eine Selbstverständlichkeit darstellt,
während die ›kommunikative Richtung‹ Gebrauchs-
texte ganz in den Vordergrund stellt.
Die Ergebnisse der Forschung im 20. Jahrhundert
bereitet Band 16 der Handbücher zur Sprach- und
Kommunikationswissenschaft (HSK) auf, an dem
Brinker und Heinemann als Mitherausgeber zusam-
mengearbeitet haben (vgl. Brinker et al. 2000/01). In
ihm spielen literarische Texte fast keine Rolle; diese
Traditionslinie ist dagegen in HSK 31 (vgl. Fix et al.
2008/09) zentral. HSK 16 zeichnet sich ferner dadurch
aus, dass es das Gesamtfeld in zwei Teilbereiche unter-
gliedert, denen jeweils ein Halbband gewidmet ist,
nämlich Text- und Gesprächslinguistik. Damit wird
die umstrittene Frage, ob Text ein Oberbegriff ist, der
Gespräche als dialogische Texte umfasst, oder aber
beide Bereiche als nebeneinanderstehend begriffen
werden, in dieser Publikation im Sinne Brinkers ent-
schieden. Heinemann/Viehweger (1991: 90) hatten
dagegen die Trennung für »gegenstandslos« erklärt,
und bei dieser Position bleiben auch Heinemann/Hei-
nemann (2002).
Um die Jahrhundertwende konnte diese integrative
Vorgehensweise als einigermaßen konsensuell gelten;
es breitete sich aber eine gewisse Skepsis aus, ob die
Textlinguistik auch zukunftsträchtig sei und sich ge-
genüber diversen neuen Trends behaupten könne
(vgl. vor allem die Einleitung von Antos/Tietz 1997).
Gut 20 Jahre nach dieser kritischen Selbstbefragung
lässt sich Folgendes feststellen: Das 21. Jahrhundert ist
tatsächlich gekennzeichnet durch eine Diversifizie-
rung von Forschungsansätzen, die man auch als Zer-
splitterung von Disziplinen begreifen kann.
Für die Textlinguistik gilt das in ganz besonderer
Weise: In der Variante als Linguistik des Sprach-
gebrauchs bestimmt sie ihren Gegenstandsbereich
denkbar weit. Mit der ›pragmatischen Wende‹ vereng-
te sich die Bedeutung von Pragmatik hier jedoch zu-
nehmend auf die Lesart ›im Sinne der Sprechakttheo-
rie‹. Dem entspricht eine Reduktion auf Funktionali-
tät entsprechend der Intention des Senders und auf
etablierte Konventionen. Der universalistische Ansatz
klammert den jeweiligen kulturell-historisch-sozialen
5 Textlinguistik
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_5
54
Kontext gerade aus und unterstellt die Übereinstim-
mung der Perspektiven von Sprecher und Hörer als
Normalfall, und zwar gegen alle Gewissheiten der le-
bensweltlichen Erfahrung: Für den Alltagsverstand
sind Grenzen des gegenseitigen Verstehens (auch
Grenzen des Interesses daran) ebenso selbstverständ-
lich wie möglicher Mangel an Kooperativität, anderer-
seits aber auch Funktionen sprachlicher Äußerungen,
die zweckrationales Handeln transzendieren. So gese-
hen kann die ›pragmatische Wende‹ als Danaer-
geschenk betrachtet werden. Hatten die Grenzen die-
ser Ausrichtung schon zu »substantiellen pragmati-
schen Neuorientierungen der 80er und frühen 90er
Jahre [... geführt], die mit der Überwindung einer un-
fruchtbaren Topik des Paradigmenwechsels aus den
70er Jahren zusammenfallen« (Feilke 2000: 76), so
verstärkte der Innovationsdruck im Zuge der Hoch-
schulreformen noch die Tendenz zur jeweils mög-
lichst deutlichen Abgrenzung von Forschungsansät-
zen gegeneinander.
Für die Textlinguistik haben diese Entwicklungen
zur Ausbildung von zwei Extrempositionen geführt:
Die eine fasst alle Untersuchungsfelder, die irgendwel-
che Texte betreffen, also auch Medien-, Fachspra-
chen-, Wirtschaftslinguistik usw., als textlinguisti-
sches (oder wenigstens die Textlinguistik angehendes)
Unternehmen auf, so dass diese »den Charakter eines
großen Dachs [gewinnt], unter dem sich eine Reihe
von Spezialgebieten versammeln lässt« (Adamzik
2016: 1 f.). Das entspricht der Auffassung, die Textlin-
guistik als Untersuchung des Sprachgebrauchs
schlechthin betrachtet. In diese Richtung geht Fix’
Vorstellung von der Textlinguistik als einer fun-
damental interdisziplinär orientierten »Querschnitts-
wissenschaft [...], die mehreren Disziplinen Grund-
lagenwissen liefert, [...] indem sie eine allgemeine Ter-
minologie und Methoden für die Auseinandersetzung
mit Texten liefert« (Fix 2009: 82).
Der Gegenpol zu dieser Auffassung (vgl. z. B. Wild-
gen 2010: 4) reduziert Textlinguistik auf das, was ihren
Gegenstand in der ersten Phase ausgemacht haben
soll: Sie fällt dann mit Textgrammatik zusammen, die
nach den Regeln sucht, entsprechend denen aufeinan-
derfolgende Sätze zu Texten verknüpft werden. In die-
sem Fall geht es fast ausschließlich um Kohäsionsmit-
tel (vgl. HSK 16: Kap. V), d. h. einerseits um Nominal-
gruppen, insofern sie geeignet sind, einen Redegegen-
stand einzuführen (Prototyp: mit unbestimmtem
Artikel) oder wiederaufzunehmen (Prototyp: Prono-
men), andererseits um Konnektoren (Prototyp: Kon-
junktion).
Diese Arbeiten haben zu der Einsicht geführt, dass
es keine sprachlichen Mittel gibt, die notwendigerwei-
se eingesetzt werden müssen, damit ein sprachliches
Gebilde als inhaltlich kohärentes Ganzes verstanden
werden kann, und dass ihr Einsatz auch nicht hin-
reicht, um Kohärenz zu gewährleisten – die Suche ist
also gescheitert. Das hat dazu geführt, dass die im ›ko-
gnitivistischen Paradigma‹ betonte konstruktive Leis-
tung der Rezipienten mittlerweile (wieder) als ebenso
selbstverständlich unterstellt wird wie die gleichwohl
große Bedeutung der Kohäsionsmittel. Auch der prag-
malinguistische Grundsatz, dass Gespräche und Texte
als Formen menschlichen Handelns zu begreifen sind,
und die Annahme, dass Interaktionen situativ ver-
ankert und in ihrem historisch-sozial-kulturellen
Kontext zu verorten sind, dürfen als konsensuell be-
trachtet werden. Schließlich besteht inzwischen Ei-
nigkeit darüber, dass Textsorten als prototypisch
strukturierte Kategorien zu betrachten sind. Damit
haben die heftigen Kontroversen aus der Frühzeit der
Textlinguistik, die sich daran entzündeten, wie man
zu einer linguistisch fundierten Definition von Text
und einer ebensolchen Typologie von Textsorten ge-
langen könnte, ihre Aktualität verloren (vgl. Adamzik
2016: Kap. 2.1.). Die Kehrseite der Überwindung frü-
herer Streitigkeiten besteht darin, dass die Textlin-
guistik kein klares Profil ausgebildet hat, sondern in
verschiedensten Ausprägungen auftritt.
So gegensätzlich nun die beiden hier als grund-
legend verstandenen Ausrichtungen der Textlinguistik
auch sind, sie haben doch etwas gemeinsam, genauer
gesagt: sie weisen denselben Mangel auf, sind nämlich
beide meist stark entfernt von der ›normalen‹ Linguis-
tik, den Kerngebieten dieser Disziplin. Für die Trans-
phrastik versteht sich das von selbst, insofern sie nur
einen extrem kleinen Ausschnitt der Sprachmittel be-
rücksichtigt. Aber auch weniger reduktionistische An-
sätze und gerade diejenigen, die echte Bindestrich-Dis-
ziplinen darstellen (Internet-,Rechtslinguistik, medi-
zinische, Firmenkommunikation usw.; s. Kap. IV), rü-
cken die Analyse der sprachlichen Form eher in den
Hintergrund und betreiben Textlinguistik als eine Art
»›Alternativ-Linguistik‹ (etwa gegenüber der Gram-
matik)« (Antos/Tietz 1997: VIII; vgl. auch Adamzik
2016: 352).
Diese Entwicklung hat Fix im Jahr 2009 dazu ge-
führt, die Berücksichtigung von Gestaltqualität/Text-
stil als wesentliches Textmerkmal einzufordern (vgl.
Fix 2009: 13). Tatsächlich haben die ursprünglich als
›textintern‹ bezeichneten Merkmale im Laufe der Zeit
an Aufmerksamkeit eingebüßt. Das ist insofern ver-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
55
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
ständlich, als die Untersuchung lediglich von korefe-
rentiellen Nominalgruppen und Konnektoren, also
den klassischen Kohäsionsmitteln, zwar die Texthaf-
tigkeit eines sprachlichen Gebildes aufweisen kann,
für eine genauere Charakterisierung jedoch unzuläng-
lich bleibt. Es kommt vielmehr darauf an, die Gesamt-
heit der Ausdrucksmittel zu berücksichtigen, da für
die Spezifik eines Textes alle relevant sein können.
»Denn was immer als geeignete Kategorie für die
Sprachbeschreibung entwickelt wurde, ist letzten En-
des aus Texten abstrahiert und kann auch nur in Tex-
ten zum Einsatz kommen« (Adamzik 2016: 248).
Das entspricht ganz der Auslegung ›Textlinguistik
als Linguistik des Sprachgebrauchs‹; diese setzt im
Prinzip die Kenntnis der Möglichkeiten des Systems
voraus und geht der Frage nach, wie diese Möglich-
keiten in bestimmten (Gruppen von) Texten genutzt
werden und mit welchen außersprachlichen Faktoren
sie korrelieren. Wegen der großen Menge möglicher
Fragestellungen ist für konkrete Untersuchungen im-
mer eine auf das jeweilige Material abgestimmte Aus-
wahl zu treffen. Praktisch empfiehlt sich der Ver-
gleich von thematisch relativ eng miteinander zu-
sammenhängenden Texten, da dort vorkommende
Varianten für ›dieselben Inhalte‹ relevante Faktoren
leichter erkennen lassen. Der besonders in Arbeiten
aus dem 20. Jahrhundert beliebte Vergleich von Text-
sorten mittels Auszählung von Eigenschaften, die
sich für Texte aller Art bestimmen lassen (Satzlänge,
Anteil von Wortarten, Passiv, Tempora usw.), an ei-
nem thematisch nicht kontrollierten Textkorpus,
führt dagegen nur selten zu aufschlussreichen Ergeb-
nissen, da charakteristische inhaltliche Differenzen
(insbesondere lexikalische und satzsemantische; zu
Letzteren vgl. v. Polenz 1988) so gar nicht aufgefun-
den werden können.
Ein Vorgehen, das die sprachlichen Merkmale fo-
kussiert, steht allerdings vor dem Problem, dass auch
in den ›kernlinguistischen‹ Disziplinen, speziell der
Grammatik, der Innovationsimperativ das Bemühen
um eine Konsolidierung der Terminologie und Me-
thodik dominiert, so dass man sich nicht selten einer
verwirrenden Vielfalt von Kategorienausprägungen
und -definitionen gegenübersieht. Dies geht teilweise
bis hin zu einer Erosion des gemeinsamen Wissens-
bestands. Bei der Frage, was Kohäsionsmittel sind,
reicht das Spektrum z. B. von ›grammatischen Zei-
chen‹ über ›grammatische Zeichen und bedeutungs-
verwandte Substantive‹ bis hin zu der Auffassung,
dass ›alle sprachlichen Mittel‹ zur Kohäsion beitragen
(vgl. Adamzik 2016: Kap. 7.1.).
»Das Ausmaß der Divergenzen kommt am deutlichs
ten zum Ausdruck darin, dass manche (die meisten)
die Pronomina er, sie, es für das Beispiel par excellence
der grammatischen Kohäsionsmittel halten, diese
sich mitunter aber auch dem lexikalischen Bereich
oder überhaupt der Kohärenz zugerechnet finden.«
(ebd.: 251)
Unter diesen Umständen ist es illusorisch, sich um ei-
ne vereinheitlichte Terminologie zu bemühen. Die
zweitbeste Möglichkeit besteht darin, sich eine Über-
sicht über die wesentlichen Kategorien zu verschaffen
und die entsprechenden Konkretisierungsvorschläge
miteinander zu vergleichen, so dass die verschiedenen
Ansätze wenigstens aufeinander abbildbar bleiben.
Diesem Prinzip folgt die Darstellung in Adamzik
(2016), die sich ferner darum bemüht, relevante Kon-
troversen auszumachen und zu diskutieren.
5.2 Von Textmerkmalen über Textualitäts-
kriterien zu Beschreibungsdimensionen
In der frühen Textlinguistik (vgl. Dressler 1972) stand
die Frage nach einer wissenschaftlichen Ansprüchen
genügenden Definition von Text ganz im Vorder-
grund (so z. B. bei Harweg 1968). Ferner sah man in
der Typologisierung von Texten eine Hauptaufgabe
(vgl. z. B. Gülich/Raible 1972; Isenberg 1978). Für bei-
de Zwecke müssen zunächst relevante Eigenschaften
der zu definierenden Größe bestimmt werden. Unter-
schieden wurden von Anfang an interne (sprachliche)
und externe (außersprachliche) Merkmale. Die erste
Kontroverse betraf die Frage, ob man Text nur über in-
terne und sogar grammatische Merkmale definieren
kann (z. B. als eine wohlgeformte Folge wohlgeform-
ter Sätze) oder auch andere Kriterien einbeziehen
muss. Dabei arbeitete man zunächst mit der Themen-
behandlung, vor allem narrativ vs. deskriptiv vs. argu-
mentativ (vgl. bes. Werlich 1975 und HSK 16: Art. 35–
39). Später rückte die Textfunktion ins Zentrum, und
zwar meist ausgehend von der Sprechaktklassifikation
Searles (vgl. bes. Rolf 1993 und HSK 16: Art. 40–41).
Da man zu dieser Zeit meist noch einem weiten Text-
begriff folgte, waren als zusätzliche Faktoren schon
früher (z. B. Sandig 1972; vgl. HSK 16: Art. 26) situati-
ve Merkmale hervorgehoben worden: Neben der zen-
tralen Unterscheidung ›gesprochen vs. geschrieben‹
ging es um örtliche und zeitliche Kopräsenz, die Be-
deutung nonverbaler Mittel, Anzahl und Bekanntheit
der Beteiligten, die Beziehung zwischen ihnen usw.
5 Textlinguistik
56
Insgesamt führt dies zu einer Grobeinteilung in vier
Merkmalgruppen (s. Abb. 5.1).
Diese Grobeinteilung ist relativ verbreitet, wenn-
gleich es natürlich auch (teilweise deutlich) umfang-
reichere Listen gibt. Besonders häufig genannt wird
der Katalog von Robert-Alain de Beaugrande und
Wolfgang Ulrich Dressler (1981). Sie formulieren sie-
ben ›Kriterien der Textualität‹ und haben dabei zu-
gleich die Rede von ›Nicht-Texten‹ in Umlauf ge-
bracht: »Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht
erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kom-
munikativ. Daher werden nicht-kommunikative Texte
als Nicht-Texte behandelt« (ebd.: 3). Die Vorstellung
von Textualitätskriterien, also Merkmalen, die ein Ge-
bilde notwendigerweise aufweisen muss, um als Text
gelten zu können, wurde sehr bald als unangemessen
zurückgewiesen und de Beaugrande selbst hat die ent-
sprechende Deutung später zu einem Missverständnis
erklärt (vgl. Adamzik 2016: 100 f.) Dennoch ist diese
eigentlich längst nicht mehr aktuelle Debatte auch in
gegenwärtigen Arbeiten noch sehr präsent.
Viel wichtiger als die Zahl der Merkmalgruppen ist
es, sie in einem zweiten Schritt weiter auszudifferenzie-
ren. Sie beruhen nämlich auf eher unsystematischen
Aufzählungen und ihr Zweck besteht darin, eine gewis-
se Ordnung in die tatsächliche Unmenge der Merkmale
zu bringen, die bei Text(-grupp)en eine Rolle spielen
(können); deswegen ist es sinnvoll, bei einer möglichst
überschaubaren Anzahl zu bleiben. Das zeigt sich be-
sonders gut im Vergleich zu dem frühen Versuch von
Barbara Sandig (1972), Textsorten über Merkmalbün-
del gegeneinander abzugrenzen. Sie arbeitet mit im-
merhin 20 (eher unbefriedigend angeordneten) Merk-
malen und liefert damit eine Liste, die vor allem eines
deutlich macht: dass man sie nämlich bis ins nahezu
Unendliche verlängern könnte. (Grob-)Gliederungen,
die anschließen an die Systematisierungsansätze aus
den verschiedenen linguistischen Teil- und relevanten
Nachbardisziplinen (Grammatik, Lexikologie usw.
bzw. Sozialwissenschaften, Handlungstheorie, Anthro-
pologie usw.), erleichtern demgegenüber nicht nur eine
gewisse Übersicht, sondern bewahren auch eher davor,
wesentliche Kategorien zu übersehen oder das Rad wie-
der neu zu erfinden. Wasdie sieben Kriterien von de
Beaugrande/Dressler angeht, so lassen sich sechs davon
sehr gut auf das Vierer-Schema abbilden (s. Tab. 5.1).
Lediglich Intertextualität, die Frage also, wie Texte
und Textsorten mit anderen zusammenhängen, kann
als Beschreibungsdimension identifiziert werden, die
im Vierer-Katalog keine Rolle spielt. Allerdings be-
schränken sich de Beaugrande/Dressler dabei weit-
gehend auf die Relation Text – Textsorte. Das Konzept
der Textsorte hat in allen Ansätzen schon immer eine
Rolle gespielt, wurde aber zunächst nicht unter das
Stichwort Intertextualität gefasst – ob dies überhaupt
sinnvoll ist, ist bis heute umstritten. Mittlerweile geht
es bei Intertextualität (zusätzlich) einerseits um die
traditionell in der Literaturwissenschaft untersuchten
Beziehungen, die erst relativ spät in der Textlinguistik
Berücksichtigung fanden (vgl. HSK 16: Art. 43), ande-
rerseits um Vernetzungen zwischen verschiedenen
Textsorten (dazu weiter in Abschnitt 4).
Zu den Anforderungen an eine Typologie, die wis-
senschaftlichen Standards genügt, wurde gezählt, dass
die Elemente nach einem einheitlichen Kriterium ei-
nem von einer überschaubaren Menge von Typen zu-
zuweisen sind. Damit stellte sich die Frage, welche
Abb. 5.1 Ein Raster für Dimensionen der Textbeschreibung
(Adamzik 2016: 112)
elementar Dressler 1972 Brinker 1985 Semiotik Heinemann
2000
de Beaugrande/
Dressler 1981
textintern Text grammatik
(inkl.)
Textstruktur
grammatisch
Syntax formal
grammatisch
Kohäsion
Tab. 5.1 Kataloge von Be
schreibungsdimensionen
semantik
thematisch Semantik inhaltlich
thematisch
Kohärenz
thematik Informativität
textextern Text pragmatik Textfunktion Pragmatik
funktional
Intentiona lität
Akzeptabilität
situativ
Situationalität
Intertextualität
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
57
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Merkmalgruppe dafür (auf der obersten Ebene) geeig-
net ist. Kontroversen zwischen Positionen, die sich für
die eine oder andere Lösung aussprachen, konnten
aber bald überwunden werden, da sich alle der Ein-
sicht öffneten, dass – wenn nicht für die Typologisie-
rung, so doch für die Text(-sorten)beschreibung –
Merkmale aller Dimensionen (potentiell) wichtig
sind. Diese lassen sich dann auch in eine Hierarchie
einbringen: Funktionstypen werden in Situations-,
diese dann in Thementypen subklassifiziert usw. –
oder auch in anderer Reihenfolge (vgl. so insbesonde-
re Heinemann/Heinemann 2002: 143); daher spricht
man hier (seit Heinemann/Viehweger 1991: 142 ff.)
von einer »Mehrebenen-Klassifikation«.
Da die Dimensionen selbst teilweise eine sehr große
Menge von Subkategorien umfassen und diese auch
miteinander korrelieren, ist es prinzipiell nicht mög-
lich, in einer empirischen Analyse alle Aspekte zu be-
rücksichtigen. Es fragt sich nun, ob die Kohäsionsmit-
tel, also diejenigen Merkmale, die man als für die Text-
linguistik spezifische Analysekategorien präsentiert,
besondere Aufmerksamkeit verdienen. Solche finden
sich zwar tatsächlich in allen ›gewöhnlichen Texten‹
(d. h. in Fließtexten, nicht aber z. B. in Kurztexten auf
Schildern oder in Listen) – genau deswegen ist aber ihr
Aufweis in einem gegebenen Fall auch wenig spekta-
kulär. Er ist auch nur in Ausnahmefällen nötig, um die
Kohärenz zu erschließen; diese wird vielmehr als
Default-Wert vorausgesetzt. Ähnlich wie die Konver-
sationsmaximen besonders dann Relevanz erlangen,
wenn ein Verstoß vorliegt oder vorzuliegen scheint, ist
die aufmerksame Rekonstruktion potentieller Bezüge
zwischen Referenten vor allem dann nützlich, wenn
die Kohärenzherstellung Schwierigkeiten bereitet. Ko-
härenz ist also wie Kooperativität als regulative Idee zu
verstehen, nicht als prototypisches oder gar notwendi-
ges Merkmal realer Interaktionen.
Nun gibt es Texte und Gruppen von Texten, für die
es charakteristisch ist, dass die Bezugsgrößen von Pro-
formen nur schwer rekonstruierbar sind. Dann gilt es
herauszufinden, woran das liegt oder liegen könnte,
d. h. das Ergebnis interpretierbar zu machen, indem
man es mit bestimmten außersprachlichen Faktoren
zu korrelieren sucht: Ist es einfach ein schlechter,
schwer verständlicher Text, sei es von einem Schreib-
anfänger, sei es von einem Experten, der (zu) viel Vor-
wissen voraussetzt? Oder ist es eine absichtlich ein-
gesetzte Strategie, um verschiedene Lesarten offen zu
halten oder z. B. eine Pointe vorzubereiten?
Auch andere Kohäsionsmittel, genauer gesagt: spe-
zifische Auswahlen oder Realisierungsarten, eignen
sich zur Charakterisierung von einzelnen (Teil-)Tex-
ten oder auch Textsorten. So korrelieren semantische
Untergruppen von Konjunktion mit Typen der The-
menbehandlung (z. B. temporale mit Narration, kau-
sale mit Argumentation). Die semantischen Relatio-
nen zwischen Propositionen kann man aber auch mit
Inhaltswörtern (z. B. verursachen, bedingen) oder
nonverbalen (z. B. ikonischen oder logischen) Zei-
chen zum Ausdruck bringen; dies käme gar nicht in
den Blick, wenn man sich von Vornherein auf die Un-
tersuchung grammatischer Zeichen beschränkte (vgl.
Adamzik 2016: 261 f.).
Ferner ist zu berücksichtigen, dass die detaillierte
Untersuchung von Sprachmitteln in aufeinander fol-
genden Sätzen aus rein praktischen Gründen nur bei
relativ kurzen Texten oder Textausschnitten über-
haupt möglich ist, bei monographischen Sachtexten,
Romanen oder auch nur Novellen aber nicht infrage
kommt. Hier muss man die Perspektive umkehren,
d. h. nicht danach fragen, wie elementare Bestandteile
miteinander verkettet sind, sondern aus welchen (in
sich komplexen) Bestandteilen sich die Ganzheiten
zusammensetzen.
Es hängt also vom gewählten Material und/oder
der jeweiligen Fragestellung ab, welche Kategorien
aus welchen Dimensionen besonders aufschlussrei-
che Befunde erbringen. Die gleichfalls große Vielfalt
an außersprachlichen Aspekten sei an der Dimension
des situativen Kontextes konkretisiert. Sie umfasst
u. a. Kommunikationsbereiche (Alltag, Wissenschaft,
Presse usw.), Produzenten- und Rezipienten(-grup-
pen) mit ihren verschiedenen Eigenschaften und Rol-
len, Ort (inkl. der Typen von Zeichenträgern und der
kommunikativen Reichweite eines Textprodukts),
Zeit (inkl. der Dauerhaftigkeit bzw. Geltungsdauer
des Produkts), ferner die verwendeten Medien.
5.3 Medialität
Medium ist eine besonders problematische Kategorie,
nicht zuletzt, weil der Ausdruck in einer Vielzahl von
Lesarten gebraucht wird (vgl. Habscheid 2009: 96;
Adamzik 2016: Kap. 2.5.). Aber selbst wenn es um die-
selbe geht, findet man durchgehend kontroverse Posi-
tionen: Anfangs wurde mit einer gewissen Emphase
und in gewollter Abgrenzung zum alltagssprachlichen
Gebrauch ein Verständnis von Text als spezifisch lin-
guistisch propagiert, für das es keine Rolle spielt, auf
welchem ›Kanal‹ eine Botschaft übermittelt wird bzw.
wie sie wahrgenommen werden kann (auditiv oder vi-
5 Textlinguistik
58
suell). Gesprochenes wurde also unter den Textbegriff
subsumiert und auch die grammatische Ausgestaltung
und Länge (›eine Folge von Sätzen‹) sollte keine Rolle
spielen. Derzeit ist man von dieser weiten Auslegung,
nach der jedwede sprachliche Äußerung als Text be-
zeichnet wird, wieder relativ weit entfernt und es stehen
sehr unterschiedliche Auffassungen nebeneinander.
Es ist nicht zuletzt auf den breiten Ausbau der Ge-
sprächsanalyse zurückzuführen, dass sich das Kriteri-
um der Medialität von ›Kanal, Wahrnehmungsorgan‹
auf die Lesart ›Kommunikationsform‹ verschob. Da-
für ist charakteristisch die grundlegende Unterschei-
dung zwischen ›mündlich konstituierten‹ Gesprächen
und ›schriftkonstituierten‹ Texten. Für Letztere gilt:
»Produktion und Rezeption sind nicht interaktiv-
gleichzeitig, sondern zeitlich und räumlich versetzt«
(Brinker et al. 2000: XVII).
Bei fehlender zeitlich-räumlicher Kopräsenz bedarf
es eines Hilfsmittels zur Fixierung und zum ›Trans-
port‹ von sprachlichenBotschaften. Wenn dies nicht
ein Bote ist, der die Mitteilung in seinem Kopf spei-
chert, müssen technische Hilfsmittel, zuallererst die
Schrift, herangezogen werden. Dafür steht eine weitere
Lesart von Medium, die den Begriff auf ›technische
Hilfsmittel‹ eingrenzt. Sie ist zwar nicht identisch mit
der geläufigsten gemeinsprachlichen Lesart von Medi-
en (Zeitungsverlage, Sender usw.), die auch in Medien-
gesellschaft gemeint ist, passt aber doch besonders gut
dazu und wird von vielen auch angesichts der Diver-
sifizierungen im digitalen Bereich bevorzugt.
Damit ist die Annahme verbunden, die Face-to-
Face-Interaktion sei nicht auf Medien angewiesen.
Verbreiteter ist es allerdings derzeit, den technischen
›natürliche‹ Medien an die Seite zu stellen (Schall als
Übertragungsmedium und den menschlichen Körper
mit seinen Sprechwerkzeugen und Wahrnehmungs-
organen als Produktions- und Rezeptions-›Apparat‹).
Bei Face-to-Face-Interaktion kommen allerdings
nicht nur die Sprechwerkzeuge und das Gehör zum
Einsatz, vielmehr ist diese Kommunikationsform
grundlegend multimedial: Es werden alle Wahrneh-
mungsorgane angesprochen, und es ist nicht nur Spra-
che im Spiel.
Das führt auf eine weitere Lesart von Medium,
nämlich ›Kode/Zeichensystem‹. Damit sind die weit-
reichendsten Kontroversen verbunden, betrifft dieses
Kriterium doch auch die Frage, welche Bedeutung
›Sprachlichkeit‹ für den Textbegriff hat. Bei einem
weiten Textbegriff spielt dieses Kriterium keine Rolle.
Dabei lassen sich zwei Ausprägungen unterscheiden:
Entweder wird Text im Sinne von ›semiotisches Ob-
jekt‹ bzw. ›(komplexes) Zeichen‹ gebraucht oder von
›kommunikative Interaktion‹; für das dabei entste-
hende Produkt bietet sich der Ausdruck Kommunikat
an. Einem engen Verständnis von Text entspricht da-
gegen die Lesart ›sprachliche Äußerung‹. Damit wird
nicht unterstellt, dass nonverbale Elemente in linguis-
tischen Untersuchungen keine Rolle spielen (sollten),
wohl aber, dass Zeichen(-komplexe) ohne jeden
sprachlichen Anteil für sprachwissenschaftliche Fra-
gestellungen ein Randphänomen darstellen. Hier kön-
nen nämlich Linguisten ihre spezifische Expertise gar
nicht einbringen.
Diese Begriffsdifferenzierung ist nicht als Rückkehr
zu der alten Streitfrage zu verstehen, welche Textdefi-
nition wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, oder
auch nur, welche vorzuziehen ist. Es geht lediglich um
unterschiedliche Möglichkeiten, einen Oberbegriff zu
bestimmen, die nicht mit normativem Anspruch for-
muliert werden (sollten), sondern in metakommuni-
kativen Zusammenhängen als Elemente von Festset-
zungsdefinitionen.
Gleichwohl knüpfen sich an diese Lesarten aktuell
weitreichende sprachtheoretische Kontroversen. Sie
betreffen vor allem die Frage, ob Sprache selbst über-
haupt als Medium betrachtet werden soll, ob sie einen
›Kode‹ unter anderen darstellt (also neben Verkehrs-
schildern, Gesten, Smileys usw. steht) oder aber, mit
Ludwig Jäger (2000: 10) gesprochen, »gleichsam als
letztes meta-mediales Bezugssystem symbolischer
und nichtsprachlicher Medien« zu gelten hat. Je nach
der gewählten Perspektive ergibt sich eine unter-
schiedliche Gewichtung von Sprachlichkeit:
Wie schon in Abschnitt 1 erwähnt, lässt sich ein
Rückgang des Interesses an den sprachlichen Merk-
malen konstatieren, mit dem eine stark gewachsene
Aufmerksamkeit für nonverbale Elemente korres-
pondiert; dabei spricht man oft von einem ›semio-
tisch erweiterten Textbegriff‹. Den gab es zwar auch
schon in der Frühzeit der Textlinguistik, die digitalen
Medien haben die Forderung danach aber wieder neu
aufleben und unvergleichlich nachdrücklicher wer-
den lassen. Für viele sollte dabei visuell Wahrnehm-
bares ganz im Vordergrund stehen (vgl. Holly 2013);
insofern Schriftzeichen betroffen sind, wird ihrer Ma-
terialität besondere Bedeutung beigemessen (Stich-
worte: Textdesign, Texte als Sehflächen, Bildlinguis-
tik). Diese Fokussierung der Visualität ist nicht nur
vor dem Hintergrund von Multimedialität erstaun-
lich, sondern auch insofern, als die wesentliche Neue-
rung des 20. Jahrhunderts in den audiovisuellen Me-
dien besteht, während die Kombination von Text und
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
59
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Bild und auch die aufwendige Gestaltung von Schrift-
zeichen den Beginn der (deutschen) Schrifttexttradi-
tion kennzeichnet. Was das rein Sprachliche angeht,
so sind schon im ›alten‹ Medium Fernsehen nicht sel-
ten Gesprochenes, Geschriebenes und Gebärdetes
gleichzeitig wahrnehmbar. Die Bedeutung dieser
Kombination ist im 21. Jahrhundert keineswegs zu-
rückgegangen: Die digitalen Medien integrieren die
beiden Grundformen und bieten zusätzliche Mög-
lichkeiten.
Die technischen Entwicklungen im Medienbereich
haben aber auch eine Vielzahl von Änderungen in der
Textwelt mit sich gebracht, die andere Aspekte der Di-
mension ›situativer Kontext‹ betreffen als die Media-
lität (vgl. Schmitz 2015; Dürscheid/Frick 2016). Dazu
gehört, dass der Zugang zum öffentlichen Raum, der
früher weitgehend professionellen Akteuren vorbehal-
ten war, sich ›demokratisiert‹ und dabei auch die
Grenze zwischen privater und öffentlicher Sphäre zu-
nehmend verwischt. Die Menge der Schrifttexte, die
Menschen rezipieren und produzieren, ist enorm an-
gewachsen. Allgemein zugänglich sind damit jetzt
auch mehr denn je schriftliche Äußerungen, die nur
für den Augenblick gedacht sind und/oder den für
Schriftsprache und öffentliche Kommunikation gel-
tenden Normen nicht entsprechen (wollen). Viel un-
tersucht ist die quasi-synchrone Interaktivität im
schriftlichen Medium, die eine besondere Nähe zu Ge-
sprächen aufweist. Kein eigentliches Vorbild in der
vordigitalen Welt hat die Vielzahl von (spontanen oder
erbetenen) öffentlich zugänglichen Evaluationen aller
möglichen Waren und Dienstleistungen. Teilweise
sind sie standardisiert wie andere Prozipiententexte,
d. h. solche, in denen der Rezipient auch die Produkti-
onsrolle einnimmt (Fragebögen, Formulare usw.).
Im Bereich institutioneller Kommunikation steht
der eben erwähnten normfernen Schriftlichkeit zu-
nächst die Tendenz zu sehr komplexen Formulierun-
gen gegenüber (Verwaltungssprache), inzwischen
aber das Bemühen um adressatengerechte(re) An-
gebote bis hin zu Texten in sogenannter Leichter
Sprache (einen guten Überblick über das Gesamtfeld
gewähren Bock et al. 2017). Das Ziel der barrierefrei-
en Kommunikation hat zu Verfahren der (automati-
sierten) Umsetzung von Gesprochenem in Schriftli-
ches (oder andersherum), Gebärdetes sowie der
leichten Manipulierbarkeit der materiellen Gestalt
geführt. Insgesamt muss die Technik inzwischen als
zusätzliche Instanz bei der Produktion, Rezeption
und Distribution von Texten behandelt werden (vgl.
Adamzik 2016: 4.3.4.).
5.4 Vernetztheit
Hatte schon die theoretische Diskussion als Desiderat
ausgemacht, Texte/Textsorten nicht nur zu klassifizie-
ren, sondern in ihrem Zusammenspiel zu untersuchen,
so ›materialisiert sich‹ die Vernetztheit in der digitalen
Welt durch die Omnipräsenz von Links. Mit den Hy-
pertexten sind auch die alten Vorstellungen von Texten
als begrenzten Folgen von Sprachzeichen (Abgeschlos-
senheit und Linearität) erschüttert worden.
Das ändert freilich nichts daran, dass Produktion
und Rezeption (vgl. HSK 16: Kap. VII) immer noch
fundamental in der Zeit ablaufende Vorgänge sind. Die
technischen Neuerungen machen es möglich, diese
ungleich präziser zu erfassen, als es früher möglich
war. So hat sich als Spezialdisziplin die Schreibfor-
schung mit einer Fachgesellschaft und Fachzeitschrif-
ten institutionalisiert (vgl. http://www.schreibdidaktik.
de), was nicht zuletzt auf die Bedeutung dieser Berei-
che für die (Hochschul-)Didaktik zurückzuführen ist.
Noch stärker ausgebaut ist der didaktische Zweig der
Leseforschung (http://www.euread.com). Für die For-
schung spielt die digitale Technik eine besondere Rol-
le, weilman jetzt auf Instrumente zur Aufzeichnung
von Aktivitäten bei der Benutzung von Computerpro-
grammen und von Blickbewegungen zurückgreifen
kann (vgl. Rautenberg/Schneider 2015). Das führt
auch dazu, dass an die Seite der Sprecherperspektive,
die besonders sprechakttheoretische Ansätze prägt, die
Rezipientenperspektive bzw. die Perspektive verschie-
dener Beteiligter rückt.
Während technisch aufgezeichnete Prozesse der
Produktion, Rezeption sowie der Interaktion von
Kleingruppen (Videoaufnahmen) nur einen eng be-
schränkten Umfang haben können, muss man Per-
spektiven und Methoden ändern, wenn es um überge-
ordnete gesellschaftliche Kommunikationsprozesse
geht (vgl. dazu vor allem Wichter 2011). Dazu bietet es
sich an, auf Arbeiten von Josef Klein zurückzugreifen,
der in den frühen 1990er Jahren wohl zum ersten Mal
die Berücksichtigung von Textsortenvernetzungen
nachdrücklich angemahnt hat. Er behandelt politi-
sche Texte, speziell Gesetze, denen er (vgl. z. B. 2000)
später noch solche aus anderen Kommunikations-
bereichen an die Seite gestellt hat.
Gesetze kommen wie viele andere institutionelle
Textsorten in einem extrem langen Prozess zustande,
da sehr viele Instanzen (in jeweils speziellen Rollen
mit immer nur eingeschränkten Handlungsmöglich-
keiten) an ihrer Herstellung beteiligt sind. Wir haben
es also nicht nur mit zeitlich und räumlich versetzter
5 Textlinguistik
60
Produktion und Rezeption zu tun, sondern schon mit
einem zerdehnten Produktionsprozess.
Das Verfahren, nach dem Gesetze erstellt werden,
ist streng reglementiert und in Metatexten festgelegt.
Es umfasst eine Vielzahl von schriftlichen und münd-
lichen Komponenten (u. a. Gesetzesentwurf und Ver-
öffentlichung im Bundesgesetzblatt bzw. Diskussio-
nen in Ausschüssen und Lesungen im Parlament).
Das Ganze bildet ein festes Muster, eine ›Textsorten-
kette‹. Abgesehen davon, dass sich die einzelnen Tex-
te und Gespräche alle auf denselben im Entstehen be-
findlichen Text beziehen, diesen eben erst hervor-
bringen, ist er (später) auch noch mit vielen anderen
vernetzt: mit anderen Gesetzen, Ausführungsbestim-
mungen, Bescheiden, die sich auf einzelne Bestim-
mungen aus dem Gesetz beziehen, Gesetzeskommen-
taren usw.
Die Kommunikationsbereiche Politik und Recht
sind aber auch mit anderen verbunden. Besonders
wichtig sind die Massenmedien, da diese dafür sor-
gen, dass der ganze Prozess zu einem öffentlichen
wird. Die Berichterstattung zu einzelnen Phasen eines
Gesetzgebungsverfahrens kombiniert wiederum ver-
schiedene Textsorten und Kommunikationsformen,
etwa mündliche und schriftliche Stellungnahmen, Er-
klärgrafiken, Interviews, Kommentare, Karikaturen
usw. Ebenso wichtig ist aber der Kommunikations-
bereich des Alltags, denn Öffentlichkeit besteht darin,
dass die Rezipienten der Medienkommunikate diese
nicht als Individuen einfach zur Kenntnis nehmen,
sondern über diese (und auch den Gesetzestext) selbst
kommunizieren, in der Familie, am Arbeitsplatz, am
Stammtisch, auf Informationsveranstaltungen oder
auch Demonstrationen für oder gegen umstrittene
Vorhaben usw. Die sogenannten sozialen Medien
haben diese Beteiligung der ›kleinen Leute‹ potenziert
(vgl. Schmidt 2018).
Die hier grob skizzierten thematisch zusammen-
hängenden Kommunikate werden gewöhnlich als Ge-
genstand der Diskurslinguistik behandelt. Diese Sub-
disziplin tritt wiederum in unterschiedlichen Aus-
richtungen auf, u. a. einer, die sich als (gesellschafts)
kritisch versteht, und einer, die die Beschreibung in
den Vordergrund stellt und selbst nicht in den politi-
schen Prozess eingreifen möchte (vgl. Spitzmüller/
Warnke 2011: Kap. 2.2; Niehr 2014: Kap. 3.5). Damit
ist zugleich gesagt, dass es der Diskurslinguistik vor-
rangig um brisante, gesellschaftlich kontrovers behan-
delte Themen geht. Das ist eine Spezialität gegenüber
der Textlinguistik, aber selbstverständlich gibt es zwi-
schen beiden auch einen großen Überschneidungs-
bereich, denn das Material von Diskursanalysen be-
steht aus Texten bzw. Kommunikaten.
Das Prinzip der Vernetztheit gilt aber auch für alle
anderen Texte, sie sind grundsätzlich in umfassendere
gesellschaftliche Prozesse eingebunden, kein Text
steht für sich allein. Diesem Tatbestand hat man tradi-
tionell durch die Vorstellung gerecht zu werden ver-
sucht, dass jeder Text eine bestimmte Textsorte reprä-
sentiere (vgl. Brinker et al. 2014: 133). Diese Annahme
erweist sich allerdings als problematisch: Der Aus-
druck Textsorte ist extrem polysem und wird häufig in
einer völlig unspezifischen Lesart verwendet, nämlich
für Gruppen von Texten, die irgendein gemeinsames
Merkmal aufweisen. In diesem Fall ist die Annahme
trivial und ohne jedes Interesse. Sie besagt dann näm-
lich nur, dass man jedes Kommunikat unter verschie-
denen Gesichtspunkten kategorisieren kann: schrift-
lich, Brief, Privatkommunikation, Unikat, normori-
entiert usw.
Es gibt aber auch diverse spezifische Lesarten, die
allerdings nur in Expertengruppen eine gewisse Ver-
bindlichkeit genießen. Die am weitesten verbreitete
von ihnen spricht von Textsorten nur, wenn Texte
Übereinstimmungen in mehreren Dimensionen zu-
gleich aufweisen, nämlich »kontextuellen (situati-
ven), kommunikativ-funktionalen und strukturellen
(grammatischen und thematischen) Merkmalen«
(Brinker et al. 2014: 139; s. auch Abb. 5.1). In diesem
Fall ist die Annahme offenkundig falsch, wenn sie
sich auf Texte schlechthin bezieht: Erfasst werden da-
mit nur stark standardisierte. Geeigneter ist es daher,
den Standardisierungsgrad (im Sinne einer skalaren
Größe) als spezielle Beschreibungskategorie zu ver-
wenden, um den Umstand zu erfassen, dass Textsor-
ten einen unterschiedlichen Variationsspielraum of-
fenlassen (z. B. Bankauszüge oder Kaufverträge ge-
genüber wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern
oder Leitartikeln).
Die Diskursanalyse behandelt bestimmte Mengen
von Texten, die thematisch verbunden sind. Das sind
aber z. B. auch solche, die die Biographie einer Person
betreffen (u. a. Lebenslauf, Laudatio, Nachruf, Lexi-
konartikel). Auf besonderes Interesse gestoßen sind
immer Texte mit der gleichen Funktion. Ein beliebtes
Beispiel auf niedrigem Abstraktionsniveau stellen Ge-
brauchsanweisungen dar. Solche ähneln einander aber
allenfalls sehr stark, insofern es sich eben um Ge-
brauchsanweisungen handelt, sie unterscheiden sich
aber auch massiv voneinander, wenn es um ganz ver-
schiedene Gegenstände geht (z. B. ein Haarpflegemit-
tel gegenüber einem Smartphone). Man sollte also die
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
61
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
aus der Funktion sich ergebenden sprachlichen Mittel
von den thematisch bedingten unterscheiden.
Auch Kommunikationsbereiche und Eigenschaften
von Sender und Empfänger konstituieren relevante
Netze: So umfassen Zeitungen z. B. viele verschiedene
Bestandteile und lassen sich als ›Textsammlungen‹,
genauer als ›serielle Textkonglomerate‹ charakterisie-
ren. Der redaktionelle Teil (journalistische Texte) bil-
det – gegenüber Inseraten, Werbung und Leserbriefen
– eine eigenständige Größe. Er kann neben den übli-
chen Rubriken auch spezielle Seiten für Kinder um-
fassen, die dann wieder (z. T. explizit) mit sonstigen
Texten für Kinder vernetzt sind. Die spezifische Kom-
bination und der jeweilige Umfang der von den ver-
schiedenen Produzentengruppen erstellten Teile kon-
stituieren Untertypen von Zeitungen. Ferner gewinnt
ein einzelnes Presseorgan durch die jeweilige Aus-
wahl, den Umfang sowie die Platzierung und Gestal-
tung der Komponenten ein eigenes Gesicht. Ein Un-
terschied zwischen Print- und Online-Ausgaben der-
selben Zeitung besteht darin, dass die Redaktion im
ersten Fall aus den Leserbriefen auswählt und diese
auch kürzt und bearbeitet, während im zweiten Fall
viel weniger gefiltert wird, so dass die Leserkommen-
tare den Umfang des Bezugsartikels um ein Vielfaches
überschreiten können. Sievariieren auch sprachlich
viel stärker, obwohl es sich um dieselbe Textsorte und
dasselbe Thema handelt.
Zu den besonders einschneidenden Änderungen
des digital bestimmten Alltags gegenüber der Offline-
Welt gehört die Möglichkeit, Alltagsgeschäfte im In-
ternet zu erledigen. Auch hier erweist es sich als in-
adäquat, dies strikt gegen (fern)mündliche und
schriftliche Interaktionen abzugrenzen, weil alle
Kommunikationsformen heutzutage regelmäßig im
Sinne von Alternativen für die Kontaktaufnahme bei
einem Problem angeboten werden; sie stehen also in
paradigmatischer Relation zueinander: Für häufig
auftretende Probleme konsultieren Sie bitte: Link auf
FAQ; Sie können uns aber auch eine E-Mail schreiben
(Link zum Formular); Telefonisch erreichen Sie uns un-
ter der Nr. ... von ... bis ...; Unsere Geschäftsstelle ist zu
folgenden Zeiten geöffnet: ...
Den stärksten Gegensatz wird man wohl intuitiv
zwischen Alltagsgesprächen und solchen Texten se-
hen, die zum Kulturerbe zählen, die also einen sehr
hohen Überlieferungswert haben. Die ersten kann
man analog zu Textsorten in Gesprächssorten eintei-
len, einen speziellen Ausdruck dafür stellt der Begriff
›kommunikative Gattungen‹ dar. Er ist in der Ge-
sprächsanalyse gängig, die sich oft recht entschieden
gegen die Textlinguistik abgrenzt. In beiden Fällen ist
die Grundvorstellung jedoch, dass es um überlieferte
Muster geht, die der Lösung wiederkehrender kom-
munikativer Aufgaben oder Probleme dienen.
Damit können wir wieder anschließen an ältere
Debatten um den Textbegriff: Gegen die Beschrän-
kung auf Schriftlichkeit wurde nämlich schon früh
eingewandt, dass diese auf orale Kulturen nicht passt
und ersetzt werden sollte durch ein anderes Kriteri-
um, um gleichwohl eine gewisse Eingrenzung vorzu-
nehmen. Dieses Kriterium besagt, dass Texte zur
Überlieferung gedacht sind, bewahrt werden sollen,
dass ihre Bedeutung also die Flüchtigkeit des Augen-
blicks überdauert (vgl. Adamzik 2016: 81 f.). Als be-
sonders gute Beispiele dafür gelten einerseits Formen
der oral poetry, also Märchen, Fabeln, Sprichwörter
usw., andererseits rituelle Texte (Gebete, Beschwö-
rungsformeln usw.).
5.5 Virtuelle Elemente auf der Textebene
Wenn Texte zur Überlieferung gedacht sind, bezieht
sich das offenbar auf die Intention des Produzenten
oder von Akteuren, die in seinem Sinne handeln oder
zu handeln meinen. Eine andere Frage ist, ob die Rezi-
pienten, das Publikum, diese Intention auch akzeptie-
ren und den Text tatsächlich tradieren. Insofern be-
ruht Überlieferung auf den ›Intentionen‹ eines Kol-
lektivs, genauer gesagt auf einer Unzahl relativ un-
scheinbarer Einzelentscheidungen, die nach einer
gewissen Zeit als ›Handlungen‹ eines Kollektivs bzw.
als Wirken einer unsichtbaren Hand wahrgenommen
werden. Dabei erscheint das Produkt oft selbst als
›handelndes Subjekt‹: Der Text übte großen Einfluss
aus, wurde ein Bestseller, entwickelte sich zu einem
Klassiker usw. Ganz so wie kein Individuum allein ei-
ne Sprache um neue Wörter bereichern kann, auch
wenn es noch so viele davon erfindet, sondern dazu
eine Gemeinschaft sie aufnehmen, reproduzieren,
zum Bestandteil eines kollektiv verbindlichen Wort-
schatzes machen muss (den man als System, Langue,
rekonstruiert), geht auch nur ein Teil komplexerer
sprachlicher Äußerungen ins kollektive Gedächtnis
ein. Sie gewinnen auf diese Weise den Status von vir-
tuellen Elementen und werden immer wieder neu ma-
terialisiert (Parole).
Entsprechend der Frage, in welcher konkreten Ge-
stalt die Reaktualisierungen auftreten, lassen sich ver-
schiedene Arten von Texten unterscheiden: Für die
Reproduktion eines fixierten Wortlauts bieten sich ri-
5 Textlinguistik
62
tuelle Texte als Beispiel an. Denken wir an solche, die
für die entsprechende Gemeinschaft einen hohen
Identifikationswert haben und auch kollektiv münd-
lich reproduziert werden (z. B. Gebete oder Gruppen-
lieder). Diese kollektive Performanz macht die Be-
ständigkeit des Wortlauts zu einer notwendigen Ei-
genschaft.
Im Wortlaut fixierte und mnemotechnisch auf-
bereitete (gereimte) Sprüche kommen auch bei einem
anderen kollektiven Problem, nämlich der Wissens-
vermittlung, zum Einsatz: Es gibt Merkverse, um sich
z. B. historische Daten oder die Rektion von Präposi-
tionen einzuprägen. Aus der Bearbeitung dieser ge-
sellschaftlichen Aufgabe sind aber Schrifttexte nicht
wegzudenken, als Prototyp mag man an Lehrbücher
denken. Da das Vertrauen in den Nutzen, Texte wort-
wörtlich wiederholen zu können, (bei uns) massiv zu-
rückgegangen ist, sollen diese nicht auswendig gelernt
werden, vielmehr soll man die Inhalte in eigenen Wor-
ten wiedergeben können, und zwar nicht zuletzt im
Unterrichts- oder Prüfungsgespräch. Um die Aneig-
nung der Inhalte zu erleichtern, werden sie heute oft
graphisch aufbereitet, die wichtigsten Elemente farb-
lich hervorgehoben, in einer Randleiste wiederholt,
umgesetzt in Schemata, bildgestützten Kapitelzusam-
menfassungen, Zeitleisten mit ikonischen Elementen
usw. Die verschiedenen Kommunikationsformen
werden kombiniert, weil sie einem gemeinsamen
Zweck dienen: der Lösung einer ziemlich anspruchs-
vollen Aufgabe.
Dennoch geht es in Textfächern nach wie vor da-
rum, Texte zu tradieren, wenigstens das Wichtigste
davon, den Inhalt, aber auch Kernstellen oder zentrale
Formulierungen, die dann als Zitate erscheinen. Lehr-
bücher zu Sachfächern dagegen tradieren eigentlich
gar keine Texte, sondern Informationen zu Tatbestän-
den, Sachverhalten, Geschehnissen, Theorien usw.,
abstrakt gesprochen: Propositionen und Propositi-
onskomplexe. Irgendwie müssen diese aber doch
(auch) sprachlich gefasst werden, und zwar in jedem
Lehrbuch wieder neu, sofern nicht eine bestimmte
textuelle Version (auch) selbst tradiert wird.
Nimmt man nun diese Beispiele alle zusammen, so
lässt sich ein breiter Fächer von Überlieferungsarten
rekonstruieren. Dabei ist es unumgänglich, der Be-
trachtungsweise, die sich auf die Form konzentriert,
eine am Inhalt orientierte an die Seite zu stellen:
(Fließ-)Texte sind formal Folgen von Sätzen, inhalt-
lich dagegen Komplexe von Propositionen. Ansätze,
die dies in den Vordergrund stellen, ›entsprachlichen‹
zunächst den Text und setzen ihn in prädikatenlogi-
sche Formeln, Strukturbäume oder Netzwerke um (so
z. B. van Dijk 1980: 43 und de Beaugrande/Dressler
1981: 105 ff.; vgl. dazu Adamzik 2016: 6.5.). Solche
Formalisierungen sind im vorliegenden Zusammen-
hang deswegen interessant, weil sie Propositionskom-
plexe so weit als möglich von ihrer Einzelsprachlich-
keit ›befreien‹ und damit Größen rekonstruieren, die
eine besonders abstrakte virtuelle Schicht betreffen
und im größten Gegensatz zu den wortwörtlich tra-
dierten Texten stehen. Konkret sind allerdings nur
sehr wenige (immer sehr kurze) Texte auf diese Art
bearbeitet worden, und zwar aus gutem Grund: Ent-
sprechende Vorschläge können nur der Demonstrati-
on/Illustration einer theoretischen Möglichkeit die-
nen; für praktische Zwecke stellen sie keine ernsthafte
Alternative zu Top-down-Analysen (Zusammenfas-
sungen, Strukturschemata usw.) dar. Diese als über-
einzelsprachlich gedachten reinen Inhaltskomplexe
existieren materiell nur in Form wissenschaftlicher
Rekonstruktionsversuche. Als virtuelle Einheiten (ei-
ner sehr viel abstrakteren Stufe als der des Wortlauts)
sind sie allerdings Bestandteile eines nicht an Einzel-
sprachen gebundenen kollektiven Gedächtnisses.
Realisierte verschiedensprachige Versionen entspre-
chen sich auch inhaltlich nie exakt – das ist das Kardi-
nalproblem von Übersetzern. Sie sind einander aber
hinreichend ähnlich, um als Versionen desselben Tex-
tes zu gelten.
Die Bedeutung der kommunikativen Praktik des
Übersetzens für die Überlieferung virtueller Texte
über Sprachgrenzen hinweg geht keineswegs zurück.
Dies verdeutlicht, dass unter Tradierungsaspekten die
exakte Übereinstimmung verschiedener Versionen ei-
nes Textes gar nicht das Entscheidende ist. Es ist viel-mehr die hinreichende Übereinstimmung, die zählt;
sie gewährleistet, dass eine Parole-Einheit als Reprä-
sentant derselben virtuellen Einheit (wieder-)erkenn-
bar ist. Ins kollektive Gedächtnis gehen Texte durch
Reaktualisierungen ein. Das gilt auch für den Prototyp
von Schrifttexten, die man als ganz individuelle Krea-
tionen etwa von Künstlern betrachtet. Auch Produkte
der Hochkultur werden aber erst von Kollektiven zu
solchen gemacht. Und zwar indem man sie immer
wieder liest, druckt, neu auflegt, (behutsam) moder-
nisiert und (stillschweigend) der Sprachentwicklung
anpasst, übersetzt, zitiert, parodiert, in Anthologien
(auszugsweise) aufnimmt, vertont oder musikalisch
unterlegt, illustriert, verfilmt, interpretiert, kommen-
tiert, in Werk- und Motivlexika erwähnt usw. – kurz:
indem man sie durch die verschiedensten Arten der
Reaktualisierung oder der Erinnerung an sie im kol-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
63
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
lektiven Gedächtnis bzw. dem Gedächtnis irgendwel-
cher Kollektive bewahrt.
Es gibt natürlich auch Texte – dies dürfte sogar die
große Mehrheit sein –, die diese Hürde nicht nehmen,
unzählige (vielleicht tatsächlich) verkannte Genies,
Unmengen von wissenschaftlichen Beiträgen, die (au-
ßer den Gutachtern) nie jemand liest, geschweige
denn zitiert.
Daneben steht zudem die Masse der (Gebrauchs-)
Texte, die gar keinen Überlieferungswert beanspru-
chen, sondern deren Bedeutung sich darin erschöpft,
einen Dienst bei der Lösung eines praktischen All-
tagsproblems zu leisten. Handelt es sich um ein wie-
derkehrendes Problem, bilden sich Muster der Be-
arbeitung, Routinen, aus. Die Digitalisierung hat hier
insofern eine einschneidende Veränderung bewirkt,
als die Muster nicht nur als abstrakte Größen existie-
ren, sondern in Form von elektronischen Vorlagen
oder Masken, in die man die (neuen) Daten nur noch
eintragen muss.
Literatur
Adamzik, Kirsten (2016): Textlinguistik. Grundlagen, Kon-
troversen, Perspektiven. Berlin/Boston.
Antos, Gerd/Tietz, Heike (Hg.) (1997): Die Zukunft der
Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends.
Tübingen.
Beaugrande, Robert-Alain de/Dressler, Wolfgang Ulrich
(1981): Einführung in die Textlinguistik. Tübingen.
Bock, Bettina M./Fix, Ulla/Lange, Daisy (Hg.) (2017):
»Leichte Sprache« im Spiegel theoretischer und ange-
wandter Forschung. Berlin.
Brinker, Klaus (11985, 72010): Linguistische Textanalyse.
Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin.
Brinker, Klaus/Antos, Gerd/Heinemann, Wolfgang/Sager,
Sven F. (Hg.) (2000/01): Text- und Gesprächslinguistik.
Ein internationales Handbuch zeitgenössischer For-
schung. 2 Bde. Berlin/New York.
Brinker, Klaus/Cölfen, Hermann/Pappert, Steffen (2014):
Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grund-
begriffe und Methoden. Berlin.
Dijk, Teun A. van (1980): Textwissenschaft. Eine interdis-
ziplinäre Einführung. München.
Dürscheid, Christa/Frick, Karina (2016): Schreiben digital.
Wie das Internet unsere Alltagskommunikation ver-
ändert. Stuttgart.
Dressler, Wolfgang (1972): Einführung in die Textlinguistik.
Tübingen.
Feilke, Helmuth (2000): Die pragmatische Wende in der
Textlinguistik. In: Klaus Brinker/Gerd Antos/Wolfgang
Heinemann et al. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik.
Ein internationales Handbuch zeitgenössischer For-
schung. 2. Halbband. Berlin/New York, 64–82.
Fix, Ulla (2009): Stand und Entwicklungstendenzen der
Textlinguistik (I/II). In: Deutsch als Fremdsprache 46,
11–20; 74–85.
Fix, Ulla/Gardt, Andreas/Knape, Joachim (Hg.) (2008/09):
Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch his-
torischer und systematischer Forschung. 2 Bde. Berlin/
New York.
Fix, Ulla/Poethe, Hannelore/Yos, Gabriele (32001): Textlin-
guistik und Stilistik für Einsteiger. Ein Lehr- und Arbeits-
buch. Frankfurt a. M. u. a.
Gülich, Elisabeth/Raible, Wolfgang (Hg.) (1972): Textsorten.
Differenzierungskriterien aus linguistischer Sicht. Frank-
furt a. M.
Habscheid, Stephan (2009): Text und Diskurs. Paderborn.
Harweg, Roland (1968, 21979): Pronomina und Textkonsti-
tution. München.
Heinemann, Margot/Heinemann, Wolfgang (2002): Grund-
lagen der Textlinguistik. Interaktion – Text – Diskurs.
Tübingen.
Heinemann, Wolfgang (2000): Textsorten. Zur Diskussion
um Basisklassen des Kommunizierens. In: Kirsten Adam-
zik (Hg.): Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübin-
gen, 9–29.
Heinemann, Wolfgang/Viehweger, Dieter (1991): Textlin-
guistik. Eine Einführung. Tübingen.
Holly, Werner (Hg.) (2013): Textualität – Visualität. The-
menheft der Zeitschrift für germanistische Linguistik 41,
1.
Isenberg, Horst (1978): Probleme der Texttypologie. Varia-
tion und Determination von Texttypen. In: Wissenschaft-
liche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig.
Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 27, 565–
579.
Jäger, Ludwig (2000): Die Sprachvergessenheit der Medien-
theorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache. In: Werner
Kallmeyer (Hg.): Sprache und neue Medien. Berlin/New
York, 9–30.
Klein, Josef (2000): Intertextualität, Geltungsmodus,
Texthandlungsmuster. Drei vernachlässigte Kategorien
der Textsortenforschung – exemplifiziert an politischen
und medialen Textsorten. In: Kirsten Adamzik (Hg.):
Textsorten. Reflexionen und Analysen. Tübingen,
31–44.
Niehr, Thomas (2014): Einführung in die linguistische Dis-
kursanalyse. Darmstadt.
Polenz, Peter von (21988): Deutsche Satzsemantik. Grund-
begriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. Berlin/New
York.
Rautenberg, Ursula/Schneider, Ute (Hg.) (2015): Lesen. Ein
interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston.
Rolf, Eckard (1993): Die Funktionen der Gebrauchstextsor-
ten. Berlin/New York.
Sandig, Barbara (1972): Zur Differenzierung gebrauchs-
sprachlicher Textsorten im Deutschen. In: Elisabeth
Gülich/Wolfgang Raible (Hg.): Textsorten. Differenzie-
rungskriterien aus linguistischer Sicht. Frankfurt a. M.,
113–124.
Schmidt, Jan-Hinrik (22018): Social Media. Wiesbaden.
Schmitz, Ulrich (2015): Einführung in die Medienlinguistik.
Darmstadt.
Spitzmüller, Jürgen/Warnke, Ingo (2011): Diskurslinguistik.
Eine Einführung in Theorien und Methoden der trans-
textuellen Sprachanalyse. Berlin/Boston.
5 Textlinguistik
64
Werlich, Egon (1975): Typologie der Texte. Entwurf eines
textlinguistischen Modells zur Grundlegung einer Text-
grammatik. Heidelberg.
Wichter, Sigurd (2011): Kommunikationsreihen aus Gesprä-
chen und Textkommunikaten. Zur Kommunikation in
und zwischen Gesellschaften. Tübingen.
Wildgen, Wolfgang (2010): Die Sprachwissenschaft des
20. Jahrhundert. Versuch einer Bilanz. Berlin/New York.
Kirsten Adamzik
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
65
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
6 Pragmatische Zeichentheorie
6.1 Einführung
Die Fragen danach, was Zeichen sind, wie sie entste-
hen, auf welche Weise sie sich synchron und diachron
verändern und wie sie genutzt werden, zählen wis-
senschaftsgeschichtlich zu den ältesten Fragen der
Philosophie. Insbesondere der Zusammenhang zwi-
schen Zeichen und Dingen (Bezeichnetem) sowie die
Relation zwischen Zeichen, Bezeichnetem und Zei-
chenbenutzer sind traditionelle Streitfragen antiker
philosophischer Zugänge zu Sprache. Vorsicht ist je-
doch geboten, wenn von der antiken Sprachphiloso-
phie die Rede ist. Die Zusammenhänge zwischen Be-
nennung und Erkenntnis sowie diejenigen zwischen
Sprache als Zeichensystem und ihren Zeichenbenut-
zern lagen zwar im Blickfeld der für diese Fragestel-
lung wichtigsten und einflussreichsten antiken Phi-
losophen Platon und Aristoteles. Jedoch haben die
Griechen in der Antike weder einen expliziten Begriff
von Sprache besessen, noch haben sie Sprachphiloso-
phie betrieben, wie wir sie heute als eigenständige
Forschungsdisziplin kennen.
Die aristotelischen Vorstellungen von Zeichen so-
wie die platonischen Ideen und Motive gelten dennochals leitend für alle philosophischen Überlegungen von
der Antike über das Mittelalter bis ins 20. und 21. Jahr-
hundert. Moderne Zeichentheorien und zeichentheo-
retische Forschungsparadigmen sind beeinflusst von
den Argumenten Platons und Aristoteles’. Das gilt
auch und insbesondere für diejenige Zeichentheorie,
die auf den Linguisten Rudi Keller zurückgeht und die
aufgrund ihrer strengen pragmatischen Ausrichtung
im Zentrum dieser Ausführungen stehen wird.
Mit der Frage nach der ›richtigen‹ Zeichenauffas-
sung, die insbesondere dazu geeignet ist, Genese und
Wandel sprachlicher Zeichen (Wörter) erklärungs-
adäquat zu beschreiben, befasst sich der folgende Ab-
schnitt dieses Beitrages.
Die im Anschluss nachgezeichnete pragmatische
Zeichentheorie wird abschließend verwoben mit ak-
tuellen Überlegungen zum lexikalischen Bedeutungs-
wandel.
6.2 Wissenschaftsgeschichtliche Einordung
Zeichentheorien als komplexe Überlegungen zu
Wechselbeziehungen und Wirkungszusammenhän-
gen basieren auf Zeichenauffassungen. Die Frage da-
nach, wie Zeichen verwendet werden, bildet die prag-
matische Dimension einer Zeichentheorie. Diese Di-
mension ist untrennbar verbunden mit der Frage nach
dem Wesen eines Zeichens. Mit anderen Worten gilt
es zunächst festzulegen, was ein Zeichen ist, um be-
antworten zu können, wie ein Zeichen funktioniert.
Die Antwort auf die Frage, was ein Zeichen zum Zei-
chen macht, fällt wissenschaftsgeschichtlich unter-
schiedlich aus. Die Bandbreite reicht von Urbild-Ab-
bild-Beziehungen bis hin zur Verwendungstauglich-
keit als Merkmal von Zeichenhaftigkeit. In diesem Bei-
trag liegt der Fokus auf der Festlegung von sprachlichen
Zeichen als (taugliche) kommunikative Mitteilungs-
mittel. Auf divergierende Vorstellungen können hier
nur Schlaglichter geworfen werden. Ebenso werden
nichtsprachliche Zeichen, die insbesondere für Nach-
bardisziplinen von besonderer Bedeutung sind (etwa
für die Ästhetik oder die Religionswissenschaft), nur
am Rande in die Betrachtung eingeschlossen. Stattdes-
sen sollen Theorien zu Zeichen und Zeichenprozessen
beleuchtet werden, in deren Mittelpunkt die Erfor-
schung natürlicher Sprachen als komplexe Zeichensys-
teme stehen.
Systeme sind grundlegend dadurch definiert, dass
zwischen den Elementen eines Systems Wechselwir-
kungen bestehen. Die Beschreibung eines Systems er-
folgt über die Beschreibung der Relationen der Einzel-
elemente innerhalb des Systems. Auch Zeichensyste-
me lassen sich über solche Relationen definieren.
Die Semiotik als Lehre von den sprachlichen und
nichtsprachlichen Zeichen (griech. sēmeĩon ›Zei-
chen‹) bietet nach Charles W. Morris drei Zugänge
(Analyseebenen), über die zweistellige Relationen un-
tersucht werden können (vgl. Morris 1938):
1. Syntax = Relation der Zeichen zueinander,
2. Semantik = Relation zwischen Zeichen und Be-
deutung,
3. Pragmatik = Relation zwischen Zeichen und Zei-
chenverwendern
Diese drei Dimensionen eines Zeichensystems lassen
sich, auch wenn verschiedentlich ein anderer Ein-
druck erweckt wird, nicht voneinander trennen. Eine
Trennung ist insbesondere dann nicht sinnvoll mög-
lich, wenn man Zeichen nicht als statische Gebilde
versteht, sondern auch die Frage nach Werden und
Wandel beantworten möchte.
Die in diesem Beitrag nachgezeichnete pragmati-
sche Zeichentheorie nimmt ihren Ursprung in der
Überzeugung, dass eine Erklärung sprachlichen Wan-
dels nur gelingen kann, wenn man einen passenden
Zeichenbegriff entwirft. Dieser muss dazu geeignet
6 Pragmatische Zeichentheorie
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_6
66
sein, »einen Beitrag zum Verständnis der Dynamik
und der Evolution natürlicher Sprachen zu leisten«
(Keller 2018: 131).
Dafür muss man eine Zeichentheorie entfalten, die
sich nicht (allein) mit Fragen der Konstitution und
Konstruktion von Zeichen beschäftigt. Die meisten
Zeichentheorien befassen sich in erster Linie mit der
›Architektur‹ sprachlicher Zeichen. Im Vordergrund
stehen häufig Aspekte der Bauweise, die Bestandteile
und die Möglichkeiten der Klassifikation von Zei-
chen. Wenig beachtet – oder bewusst ausgeschlossen
– sind Fragen der Verwendung, die untrennbar ver-
bunden sind mit Fragen nach der Entstehung und
dem Wandel von Zeichen. Dabei ist gerade eine solche
Betrachtungsebene wichtig. Aus dem Wissen über die
Konventionen der Verwendung von Zeichen ergibt
sich zum einen die Zeichenarchitektur von selbst und
zum anderen lassen sich Bildung und Veränderung
sprachlicher Zeichen allein auf diese Weise adäquat
fassen (vgl. ebd.: 15).
Die von Rudi Keller entworfene pragmatische Zei-
chentheorie ist im Kern dazu geeignet, die Semiotik
um zwei entscheidende Ebenen zu erweitern: Die
Ebene der kommunikativen Nutzung (der Zweck der
Zeichenverwendung) wird verwoben mit der Ebene
des semiotischen Wissens. Letztere beschreibt dasje-
nige Wissen, das der Fähigkeit, »dem Adressaten In-
terpretationsvorlagen zu geben, die ihm das Erraten
des Kommunikationsziels erlauben« (ebd.), logisch
zugrunde liegt. Diese Befähigung zum Interpretieren
sprachlicher Zeichen (als zweckrational verwendete
kommunikative Zeichen) nennt Keller semiotische
Kompetenz. Den Zusammenhang zwischen semioti-
scher Kompetenz und semiotischem Wissen be-
schreibt Keller folgendermaßen:
»Semiotische Kompetenz und semiotisches Wissen
sind der sprachlichen Kompetenz logisch vorgeordnet:
Dank unserer Fähigkeit, Wahrnehmbares interpretativ
zu nutzen, und dank der Fähigkeit, diese Fähigkeit wie
derum zum Zwecke der Kommunikation auszubeuten,
bilden sich sprachliche Zeichensysteme als spontane
Ordnungen heraus. [...] Sprachen entstehen durch Nut
zung semiotischen Wissens zum Zweck der Beeinflus
sung von Mitmenschen.« (ebd.: 15 f.)
Es gelingt nicht voraussetzungsfrei, diesen Zusam-
menhang, der für die pragmatische Zeichentheorie
grundlegend ist, zu verstehen. Stillschweigend wird
ein Kommunikationsbegriff angenommen, der den
Sprecher – also den Zeichenbenutzer – und dessen
kommunikative Ziele in den Mittelpunk rückt. Keller
geht davon aus, dass Zeichen nicht aus sich selbst he-
raus deuten und dass Zeichen nicht unabhängig von
Zeichenbenutzern (als Produzenten) und Zeichen-
interpreten (als Rezipienten) existieren können. Was
ein Zeichen und ob etwas ein Zeichen ist, hängt nicht
vom Zeichen selbst ab, sondern von der kommunika-
tiven Nutzung eines Zeichens zum Erreichen eines
kommunikativen Zwecks.
Die zweckrationale Wahl sprachlicher Zeichen und
die (konventionell festgelegte) Verwendungsweise
von Zeichen sind so verstanden der Kern mensch-
licher Kommunikation.
Zeichen entstehen in der Folge kommunikativer
Bemühungen, nicht etwa umgekehrt. Die Fähigkeit
zur Kommunikation ist die Bedingung für die Exis-
tenz sprachlicher Zeichen. Nicht weil wir Sprache (als
Zeichensystem) haben, können wir kommunizieren,
sondern weil wir kommunizieren können, haben wir
Sprache: »Kommunizieren unter Zuhilfenahme kon-
ventioneller Mittel, wie z. B. sprachlicher Zeichen, ist
ein spezieller Fall von Kommunikation; wenngleich es
heutzutage für uns die normale und überwiegend
praktizierte Art und Weise zu kommunizieren ist«
(Keller 2003: 77).
Diese Sichtweise ist zugleich eine Abkehr von his-
torischen Vorstellungen, nach denen Sprache und da-
mit die sprachlichen Zeichen ontogenetisch verortet
werden (vgl. Schleicher 1863). Organizistische Sprach-
auffassungen, nach denen Sprache vitalisierende Kräf-
te besitzt, also unabhängig vom Menschen ›lebt‹, sind
allzu hypostasierend und daher ungeeignet, Genese
und Wandel sprachlicher Zeichen zu erklären. Eine
Theorie über sprachliche Zeichen muss vielmehr zu-
gleich eine Theorie über die Funktionen und Prinzi-
pien menschlichen Kommunizierens sein. Sie ist darü-
ber (über den Aspekt des Interpretierens von Zeichen)
in erster Linie eine pragmatische Theorie.
KlassischeZeichenbestimmungen
Folgt man den Ausführungen Umberto Ecos, lassen
sich jegliche kulturelle Phänomene als Formen der
Symbolisierung verstehen und analysieren (vgl. Eco
1987: 54). Eco identifiziert allein achtzehn verschiede-
ne semiotische Felder (z. B. Tierlaute, Geruchs- und
Geschmackscodes, musikalische Codes, geschriebene
Sprache) als Kommunikationssysteme (vgl. Eco 2002:
20–26). Beim Begriff des Zeichens handelt es sich so
verstanden um eine universale Kategorie, die sowohl
Bedeutung als auch Verstehen voraussetzt: Zeichen
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
67
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
deuten nicht aus sich selbst heraus und sie existieren
nicht isoliert, sondern sie entfalten sich semantisch
und hermeneutisch in kulturell determinierten Pro-
zessen und kommunikativen Aktivitäten – also in der
Zeichenverwendung. Die Annahme, dass prinzipiell
alles unter dem Aspekt des Zeichens betrachtet werden
kann (also alles Zeichen sein ›kann‹), bedeutet jedoch
nicht, dass auch alles per se ein Zeichen ›ist‹. Richtig
ist: Zeichenhaftigkeit ist eine Frage kultureller Traditi-
on. Zeichen sind stets kultur- und kontextvariant.
Zeichendefinitionen folgen unterschiedlichen (phi-
losophischen) Paradigmen, was es nahezu unmöglich
macht, einen Zeichenbegriff zu präsentieren, der alle
geistigen und ideellen Strömungen vereint. Die Auffas-
sungen darüber, was ein Zeichen ist, wie es beschaffen
ist und wie es verwendet wird (auch darüber, ob und
wie es der Herstellung von Wirklichkeit im Denken
dient), sind geprägt durch unterschiedliche Denk-
strömungen und historische Kontexte. Semiotische
Überlegungen beeinflussen die Philosophie bis heute.
Charles William Morris bewertet die Semiotik als
»Prolegomenon jeder zukünftigen Philosophie« (Mor-
ris 1972: 343) und weist ihr damit einen Fundamental-
anspruch zu, der sich wiederfindet im Pragmatismus
Charles Sanders Peirce’ oder im Strukturalismus Fer-
dinand de Saussures oder Roland Barthes’.
Eine einheitliche Zeichendefinition gibt es nicht,
jedoch lassen sich klassische, funktionale und struk-
turale Zeichenbegriffe unterscheiden. Gemeinsam ist
allen Zeichenbegriffen, dass Relationen den Kern der
jeweiligen Auffassung bilden. Zeichen stehen in einer
relationalen Beziehung zu etwas anderem, z. B. zu ei-
nem Ding in der Welt, zu einer Vorstellung von einem
Ding in der Welt oder zu kommunikativen Absichten
(und Dingen oder Vorstellungen). Über die Frage der
Zuordnung (Wofür ›steht‹ ein Zeichen?) lässt sich das
Zeichen bestimmen und verorten.
Klassische Zeichenbestimmungen, die weiter un-
ten in der Unterscheidung repräsentationistischer
und instrumentalistischer Zeichenauffassungen nä-
her beleuchtet werden, operieren mit Stellvertreterre-
lationen. Eine Möglichkeit der Stellvertreterrelation
ist der Verweis. So verweist eine Delle in einem Auto-
dach auf einen stumpfen Gegenstand als Grund für
die Delle oder ein Laut auf einen Menschen oder auf
ein Tier, der oder das den Laut hervorgebracht hat.
Klassische Zeichenbestimmungen nehmen hier ihren
Ursprung: Zeichen ›stehen‹ für etwas oder sie ›verwei-
sen‹ auf etwas.
Eine der Schwierigkeiten einer solchen Zeichen-
auffassung liegt auf der Hand: Kraft welcher Konventi-
on vermag es ein Zeichen, auf etwas, das außerhalb
des Zeichens liegt, zu verweisen? Und wenn man den
Zeichenbegriff nicht unendlich auf alles Wahrnehm-
bare in der Welt ausdehnen möchte, was potentiell
zeichenhaft sein kann, muss man auch klären, wann
eine Delle im Autodach ein Zeichen und wann sie le-
diglich eine Delle ist. Das heißt, man muss die Hervor-
bringung des Zeichens berücksichtigen und fragen:
Wodurch wird ein Laut ein Zeichen? Ist ein Schmer-
zensschrei beispielsweise ein Zeichen für oder ein
Symptom von Schmerz? Worin liegt der Unterschied
zwischen einem Schrei und der Lautäußerung ich ha-
be Schmerzen?
Der klassische Zeichenbegriff operiert mit einem
binären Zuordnungsschema. Auf der einen Seite gibt
es das Zeichen, auf der anderen Seite gibt es etwas, das
durch das Zeichen ersetzt wird (›Bezeichnendes‹ und
›Bezeichnetes‹). Das binäre Relationsschema kann
nun auf dreierlei Weise in Form von Zeichenrelatio-
nen manifest werden: epistemisch, ontologisch und
logisch-kausal.
Die epistemische Form von Zeichenrelationen setzt
das Zeichen in Bezug zu einem abstrakten Konzept.
Ein Wort kann dieser Denkweise folgend als sprach-
liches Zeichen einen abstrakten Gedanken repräsen-
tieren. ›Repräsentation‹ vergegenwärtigt etwas Imma-
terielles, indem einer Vorstellung oder einer Idee ein
plastischer Ausdruck verliehen wird. Das Zeichen er-
zeugt eine Verbindung zwischen einer geistigen und
einer sinnlichen Sphäre.
Ebenfalls dem klassischen Zeichenbegriff zugehö-
rig sind die Realisationsmöglichkeiten ›Verweisung‹
und ›Substitution‹. Während das relationale Verhältnis
zwischen Zeichen und Bezeichnetem bei einer Verwei-
sung darin begründet ist, dass eine direkte Beziehung
zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten her-
gestellt wird (ein Laut bspw. als Zeichen von Leben) –
und damit über einen logisch-kausalen Schlussprozess
gekennzeichnet ist –, wird die ontologische Zeichenre-
lation beispielsweise über räumliche oder zeitliche
Entfernung hergestellt. Ein Erinnerungsfoto etwa sub-
stituiert als Zeichensache etwas Abwesendes oder Ver-
gangenes (Zeichenobjekt) (vgl. Mersch 2001).
Funktionale und strukturale Zeichenmodelle
Das Dilemma klassischer Zeichenauffassungen liegt
darin, dass sie für die Umsetzung des zweistelligen
Schemas von einer prinzipiellen Gegebenheit der
Zeichen ausgehen müssen, Zeichen somit zwingend
voraussetzen. Die moderne Semiotik hat zur Lösung
6 Pragmatische Zeichentheorie
68
dieses Problems eine Erweiterung um eine dritte Re-
lation hervorgebracht, die untrennbar mit dem Na-
men Charles Sanders Peirce verbunden ist (vgl. Peirce
1931–1958). Das von ihm entwickelte triadische Zei-
chenmodell ergänzt Zeichensache und Zeichenobjekt
um den ›Interpretanten‹, verstanden als individuell
erkannter ›Sinn‹ der Zeichenverwendung. Peirce gilt
als Begründer einer pragmatischen Semiotik, weil er
erkennt, dass Zeichenbenutzer als Interpreten für die
Herausbildung der Bedeutung eines Zeichens ent-
scheidend sind. Neben Zeicheneigenschaften und
Objektbezügen stellt Peirce den Aspekt der ›Zeichen-
wirkung‹.
Die Peircesche Relation geht nicht in der einfachen
Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichne-
tem auf, sondern es bedarf der ›Auslegung‹, um sie zu
erfüllen. Peirce erkennt, dass die Semiose als Aktion
zu verstehen ist: Zu einem Zeichen gehört nicht nur
eine Entität, die bezeichnet wird, sondern auch die
vielschichtige Semantik des ›Zeichengebrauchs‹, die
Vorstellungen, die das Zeichen weckt, wozu gleicher-
maßen auch seine Geschichte tritt, mit der es ständig
bereichert wird. Interpretation wird also zu einem (re-
kursiven) pragmatischen Prozess erklärt, der durch ei-
nen Pluralismus von Gebrauchsweisen geprägt ist, wie
ihn später Ludwig Wittgenstein postuliert hat und wie
er in der Zeichentheorie Rudi Kellers von entschei-
dender Bedeutung ist.
Das Neue an dieser funktionalen Sichtweise ist,
dass der triadische Prozess zwar noch immer im klas-
sischen Rahmen von Repräsentation verortet ist, sich
die Relation des Zeichens jedoch nicht in der ein-
fachen Beziehung zwischen Bezeichnendem und Be-
zeichnetem erschöpft. Vielmehr entfaltet das Zeichen
nur dann und nur dadurch Bedeutung, wenn und dass
es Gegenstand einer (rekursiven) Interpretation wird.
Hierin liegt der Kern einer jeden pragmatischen Zei-
chentheorie.
Moderne Vorstellungen von sprachlichen Zeichen
sind verbunden mit der Idee, der Zeichencharakter
hänge weniger mit referentiellen Begründungen von
Zeichenbeziehungen zusammen als vielmehr mit den
Kräften innerhalb des Zeichensystems. Die ›struk-
turale Semiologie‹ setzt nicht das einzelne Zeichen ins
Zentrum der Betrachtung, sondern blickt aufdas Sys-
tem als Ganzes, in dem Zeichen als Elemente fungie-
ren. Dieser Systemgedanke, der verbunden ist mit
dem Namen Ferdinand de Saussure (vgl. Saussure
1967), bewirkt, dass der Aspekt der ›Veränderung‹ in
den Fokus gerät: »Die Symbole sind wie jede Art von
Zeichen nie etwas anderes als das Ergebnis einer Ent-
wicklung, die einen ungewollten Bezug zwischen Din-
gen geschaffen hat [...]« (Saussure 1997: 422).
Moderne Zeichentheorien resultieren vor allem
aus Diskussionszusammenhängen und theoretische
Verflechtungen unterschiedlicher und zum Teil sehr
gegensätzlicher Theorien. Seit Mitte des 19. Jahrhun-
derts erlebt die Semiotik eine Renaissance, die vor al-
lem in der Ablösung der klassischen Abbildtheorie so-
wie in der Entwicklung eines alternativen Zeichen-
begriffs Wirkung entfaltet.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier nur
die einflussreichsten Entwürfe genannt:
• Pragmatismus (Peirce, Morris)
• Analytik (Frege, Wittgenstein)
• allgemeine Symbolphilosophie (Cassirer, Good-
man)
• Phänomenologie und Hermeneutik (Husserl, Hei-
degger)
• Psychoanalyse (Freud, Lacan)
• funktionalistische bzw. strukturale Semiologien
und Semiotiken (Saussure, Jakobson, Lotman,
Eco)
Die Verbindungen zwischen den zahlreichen theoreti-
schen Ansätzen einer modernen Semiotik sind man-
nigfaltig: »Ihr[en] gemeinsamen Nenner bildet einer-
seits die Kritik des klassischen Zeichenmodells und
seines streng binären Schemas der Repräsentation
[...], andererseits eine Rationalitätskritik, die sich von
einer allgemeinen Metaphysikkritik [...] zum ›Dekon-
struktivismus‹ [...] fortschreibt« (Mersch 2001: 334 f.).
6.3 Zeichentypen und Zeichenrelationen
Keller entwirft in seiner Zeichenkonzeption eine Tri-
chotomie interpretativer Grundverfahren zur Be-
schreibung kausaler, assoziativer und/oder regelba-
sierter pragmatischer Schlussprozesse. Indem er »die-
jenigen systematischen Zusammenhänge, vermöge
derer Zeichen interpretierbar sind, als Bedeutung [an-
sieht]« (Keller 2018: 155), verortet er die Bedeutung
sprachlicher Zeichen auf der Ebene der Interpretati-
on. Auf diese Weise entwirft Keller eine Taxonomie
von Zeichen, die sich aus den drei möglichen Grund-
verfahren der Interpretation ergibt. In Anlehnung an
die von Peirce und seinen Nachfolgern verwendeten
Termini ›Index‹, ›Ikon‹ und ›Symbol‹ bezeichnet Kel-
ler diese Grundverfahren als symptomische, iko-
nische und symbolische Verfahren (vgl. ebd.: 156).
Die Zuordnung der Verfahren ergibt sich aus den
prinzipiellen Möglichkeiten, im Zuge des Interpretie-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
69
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
rens Schlüsse zu ziehen: »Die Zusammenhänge, die
wir zum Interpretieren nutzen, können kausale Zu-
sammenhänge, Ähnlichkeiten oder regelbasierte Zu-
sammenhänge sein« (ebd.: 155). So verstanden, wer-
den Zeichen entweder durch die Kenntnis kausaler
Zusammenhänge (Rauch als Zeichen von Feuer),
durch das Verstehen assoziativer Zusammenhänge
(durchgestrichene Zigarette auf einem Schild als Zei-
chen eines Rauchverbots) oder durch die Kenntnis
von Gebrauchsregeln (Hallo als sprachlicher Aus-
druck eines Grußes) interpretiert. Für Keller ergeben
sich aus dieser Zuordnung, die allein über die Metho-
de der Interpretation (und nicht etwa über Repräsen-
tationsrelationen) bestimmt ist, drei Zeichentypen: i.
Symptome, ii. Ikone und iii. Symbole.
In der Bestimmung dieser drei Zeichentypen spie-
gelt sich der Nutzen der pragmatischen Zeichentheo-
rie wider: Für die Zuordnung eines Zeichens zu einem
der drei Zeichentypen ist allein das gewählte Verfah-
ren des interpretierenden Schließens entscheidend.
Auf diese Weise wird auch Zeichenwandel an den
Wandel des interpretierenden Schlussverfahrens ge-
koppelt: »Das heißt, um zu erklären, wie aus einem
Symptom oder einem Ikon mit der Zeit ein Symbol
wird, muss man zeigen, wie ein kausaler Schluss mit
der Zeit durch einen assoziativen Schluss bzw. einen
regelbasierten Schluss abgelöst wird« (ebd.: 160).
Während Ikone und Symbole als Zeichen von ihren
Benutzern in kommunikativer Absicht hervorge-
bracht werden, trifft dies auf Symptome nicht zu. Zei-
chen werden zudem erst dann zu Symptomen, wenn
sie Gegenstand von Interpretationen werden. So ist
Fieber zunächst ein wahrnehmbarer Bestandteil einer
Grippe, zum Symptom wird Fieber dadurch, dass wir
einen kausalen Zusammenhang zwischen dem wahr-
nehmbaren Teil und dem Ganzen herstellen. Im Ge-
gensatz zum Peirceschen Index ist das Symptom bei
Keller dadurch definiert, dass es erst durch die inter-
pretative Nutzung zum Symptom wird (und nicht per
se Eigenschaft eines Dings ist).
›Ikone‹ sind Kommunikationsmittel, die mittels as-
soziativer Schlüsse interpretiert werden. Sie stehen in
Ähnlichkeitsbeziehungen zu ihren Bedeutungen –
und sie sind kulturabhängig. Eine Ähnlichkeit zwi-
schen dem Zeichen und dem Bezeichneten ist nicht
notwendigerweise gegeben. Zwischen der Frauensil-
houette an der Tür einer Damentoilette und der Toi-
lette selbst bestehen z. B. keine Ähnlichkeitsbeziehun-
gen. Vielmehr basiert der assoziative Schluss auf der
Kenntnis kulturellen Wissens. Die Bedeutung eines
Ikons ist also die Ähnlichkeit, die das Ikon interpre-
tierbar macht, zwischen Ikon und seiner Bedeutung
besteht jedoch keine Ähnlichkeit.
›Symbole‹ sind dadurch gekennzeichnet, dass ihre
Interpretation auf der Kenntnis von Gebrauchsregeln
beruht. Symbole werden absichtsvoll verwendet, um
Interpretationen auszulösen: »Zu wissen, was ein Sym-
bol bedeutet, heißt zu wissen, zur Realisierung welcher
Intention es unter welchen Bedingungen verwendbar
ist« (ebd.: 175). Man benötigt Wissen über die Ver-
wendungskonventionen des Zeichens (bzw. der Zei-
chenfolge). Dank der Bedeutung (als Interpretations-
schlüssel) gelangen Interpreten zu der Einsicht, zu der
Sprecher sie mit der Zeichenverwendung bewegen
möchten. Für Symbole nimmt Keller an, dass die Inter-
pretation auf regelbasierten Schlüssen beruht:
»Eine Symbolverwendung zu interpretieren, heißt so
mit nicht, zu versuchen, die Bedeutung des Symbols
herauszufinden; es heißt vielmehr, den Sinn dieser
Symbolokkurrenz auf der Basis der Kenntnis der Be
deutung herauszufinden. Wenn ich die Bedeutung
nicht kenne, d. h. wenn ich nicht weiß, zu welchem
Zweck ein Symbol normalerweise regelkonform ver
wendet wird, werde ich auch nicht herausfinden kön
nen, wozu du es gerade verwendest.« (ebd.: 176; Her
vorhebung im Original)
Insbesondere für die Bedeutungsfestlegung sprach-
licher Zeichen sind der Symbolbegriff und dessen De-
finition entscheidend: Die Bedeutungen von Wörtern
ergeben sich durch die Zuordnung zur Kategorie der
Symbole aus der Kenntnis ihrer Gebrauchsregeln. Zu
wissen, wie man ein Wort verwendet, heißt, seine Be-
deutung zu kennen. Zu verstehen, wozu ein anderer
dieses Wort verwendet, heißt dann, den ›Sinn‹ der
Wortverwendung zu kennen.
6.4 Zeichenauffassungen
Repräsentationistische Zeichenauffassungen
Eine grundsätzliche Differenzierung von Ausdruck
und Inhalt eines sprachlichen Zeichens lässt sich auf
Ferdinand de Saussure zurückführen, der für diese
beiden Ebenen die Unterscheidung zwischen Signifi-
ant (= Ausdruck) und Signifié (= Inhalt) etabliert hat.
Seiner Vorstellung nach besitzt jedes Zeichen zwei
Ebenen, die man voneinander unterscheiden muss.
Wie die zwei Seiten einer Medaille besitzt ein Zeichen
demnach eine Seite, die allein dem Ausdruck dient
und eine andere Seite, die den (semantischen) Inhalt
6 Pragmatische Zeichentheorie
70
repräsentiert. In dieser Dichotomie stellt sich der Aus-
druck als lautliche Realisierung dar, wogegen die In-
haltsseite die Bedeutung eines Wortes trägt. Mit dieser
Unterscheidung von Ausdrucks- und Inhaltsseite hat
Saussure die »erste im eigentlichen Sinne linguistische
Theorie des Zeichens« (Busse 2009: 29) entworfen, die
als Grundlage für die Herleitung eines rein repräsen-
tationistischen Zeichenbegriffsdienen kann.
In diesem Sinne lassen sich Zeichenmodelle iden-
tifizieren, die alle auf der Idee basieren, Bedeutung sei
im Grunde nichts anderes als die Repräsentation eines
Begriffs oder einer Vorstellung von einem Begriff.
Wenn die Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens
nach Saussure mit dem deutschen Begriff Bezeichnetes
übersetzt wird, stellt sich die Frage, was genau dieses
Bezeichnete denn eigentlich ist bzw. in welcher Form
es sich in der außersprachlichen Welt manifestiert. Ei-
ne weit verbreitete Auffassung lautet: Die Bedeutung
eines Zeichens ist genau derjenige Gegenstand oder
das Konzept, für das ein Zeichen steht.
Eine solche Theorie geht davon aus, dass »wir in na-
türlichen Sprachen mit Zeichen über Dinge reden«
(Heringer 1974: 10). »Das Ding, auf das man sich be-
zieht, heißt der Referent des sprachlichen Ausdrucks«
(ebd.: 10) und existiert physisch in der realen Welt.
Die Übertragung des Zeichens auf das Ding ist dabei
nicht willkürlich möglich, sondern konventionell fest-
gelegt, auch wenn die Benennung an sich arbiträr er-
folgt. Das bedeutet, dass ein Zeichen genau dann eine
Bedeutung hat, wenn konventionell festgelegt wurde,
dass es für eine bestimmte Entität steht. Zeichenbe-
deutung ist so verstanden rein auf der ontologischen
Ebene angesiedelt.
Neben diesem konkreten Sachbezug werden in re-
präsentationistischen Theorien auch epistemische Be-
züge postuliert, indem angenommen wird, dass die
Bedeutung eines Zeichens die mit ihm selbst verbun-
dene (wie auch immer geartete) Vorstellung sei. Die
›Idee‹, die mit einem sprachlichen Ausdruck im Geist
des Sprechers verbunden ist, ist der Ideationstheorie
gemäß die Bedeutung des Ausdrucks. Ein Gegenstand
in der Welt oder ein mentales Konzept (z. B. Urlaub
oder Feierabend) erzeugen in den Köpfen der Spre-
cher und Hörer Vorstellungen und eben diese sind
dann die Bedeutungen des referentiellen Gegenstan-
des oder des Konzeptes. Diese Vorstellung vertrat u. a.
auch der Empirist John Locke im 17. Jahrhundert:
»The use, then, of words is to be sensible marks of
ideas; and the ideas that they stand for are their proper
and immediate signification« (Locke 1689: 256).
Repräsentationistische Zeichenauffassungen rei-
chen zurück bis in die Antike. Sie operieren mit der
Annahme, dass Vorstellungen Abbilder von Dingen in
der Welt seien, wobei Laute diese Vorstellungen sym-
bolisieren. Laute sind – der Aristotelischen Zeichen-
auffassung folgend (als Teil einer Theorie des Syllogis-
mus) – konventionelle Zeichen von Vorstellungen.
Vorstellungen wiederum sind Abbilder von Dingen,
so dass Aristoteles’ repräsentationistische Zeichenauf-
fassung von zwei Relationen und drei Elementen in ei-
nem Zeichenmodell ausgeht (vgl. Keller 2018: 50 f.).
Das Verhältnis zwischen Vorstellungen und den Din-
gen in der Welt bildet den Kern der Aristotelischen
Sprachauffassung. Aus diesem Verhältnis lassen sich
drei Betrachtungsebenen ableiten, die miteinander
verwoben sind:
1. Bereich der Dinge in der Welt (ontologische Ebe-
ne),
2. Bereich der seelischen Vorstellungen als kognitive
Korrelate (epistemologische Ebene) und
3. Bereich der sprachlichen Zeichen (linguistische
Ebene).
Von Bedeutung ist, dass Aristoteles für die Dinge in
der Welt und für die seelischen Vorstellungen an-
nimmt, diese seien universell, wogegen die sprach-
lichen Zeichen sprachspezifisch unterschiedlich reali-
siert werden könnten. Der Sprache fällt innerhalb die-
ses Modells die Aufgabe zu, die Ding- und Gedanken-
welten wiederzugeben, nicht jedoch, diese selbst zu
konstituieren. Dinge und Vorstellungen sind allen
Menschen gemeinsam zugänglich (objektivistisch) –
und zwar in derselben Art und Weise. Die lautliche
Zuordnung hingegen ist nicht natürlich, sondern kon-
ventionell durch Übereinkunft festgelegt.
Die Idee einer objektivistischen Konzeption der
Welt der Dinge und der Welt der Vorstellungen ist nicht
nur aus pragmatischer Sicht problematisch: Der be-
hauptete Zusammenhang zwischen der ontologischen,
epistemologischen und linguistischen Ebene bedeutet,
dass jegliches Sprachhandeln nur im Rahmen der Na-
türlichkeit der Dinge möglich wäre, wenn unsere inne-
ren Vorstellungen aufgrund der Objektivität der Dinge
zwingend eine natürliche Richtigkeit besäßen. Wir
könnten dann nichts anders sagen als das, was der ob-
jektiven Wirklichkeit der Dinge entspricht. Referenz-
lose Ausdrücke wären undenk- und unsagbar.
Durch die Idee der Symbolisierung der Dinge durch
Vorstellungen wird jegliches Sprachhandeln durch
(natürliche) Objekteigenschaften determiniert. Kul-
tur- und sprachspezifische Ausdrücke sind in diesem
Modell nicht enthalten. Dass wir aber beispielsweise
das Wort ›saufen‹ in bewertender Weise verwenden
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
71
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
können, um unser Missfallen über das Trinkverhalten
eines anderen Menschen zum Ausdruck zu bringen, ist
nicht in erster Linie eine Frage von Objekteigenschaf-
ten, sondern vielmehr von Haltungen, die wir sprach-
lich durch die Wahl eines geeigneten Zeichens realisie-
ren können. Dass sich die Bedeutung dieses Wortes ge-
wandelt hat und heute Bewertungen enthält, die his-
torisch nicht vorhanden waren (vgl. Bechmann 2013),
zeigt die pragmatische Offenheit von sprachlichen Zei-
chen für Veränderungen, die es der objektivistischen
Sicht Aristoteles folgend nicht geben dürfte.
Zwar findet bei Aristoteles eine sinnvolle Unter-
scheidung von Symbolen als sprachliche Zeichen und
Symptomen (etwa Tierlauten) Niederschlag, indem
der Symbolcharakter nur solchen Lauten zugespro-
chen wird, die konventionell etwas bezeichnen. Je-
doch setzt Aristoteles ›Konvention‹ mit ›Überein-
kunft‹ gleich, was zu dem Fehlschluss verleitet, dass
sprachliche Symbole auf Übereinkünfte zurückzufüh-
ren seien. Richtig ist: »Konventionen sind [...] Verhal-
tensregularitäten von Individuen einer Gruppe, die
durch komplexe, wechselseitig aufeinander gerichtete
Erwartungen erzeugt werden« (Keller 2018: 54).
Wenn Laute Vorstellungen aufgrund von Überein-
künften symbolisierten, dann stellt sich die Frage, wie
genau das Zeichen in der Lage ist, etwas zu symboli-
sieren: »Diese Frage muss jede Theorie beantworten
können, die eine Relation zu einem Korrelat als we-
sentlichen Bestandteil der Zeichenhäufigkeit ansieht«
(ebd.). Selbst unter der Prämisse, dass ein Laut oder
eine Zeichenfolge genau dann eine Bedeutung hat,
wenn er oder sie für etwas steht bzw. etwas symboli-
siert, muss man kritisch hinterfragen, woher Sprecher
und Hörer diese Entsprechung der Bedeutung eines
Zeichens zu seinem Korrelat kennen und wie diese
Verbindung zustande gekommen ist. Keller stellt fest:
»Jede Theorie, die behauptet, dass Zeichen für etwas
stehen, seien es Vorstellungen, Dinge oder sonst et
was, muss auf die Frage eine Antwort geben, wie die
ses Repräsentationsverhältnis hergestellt und auf
rechterhalten wird. Wie bringt man ein Zeichen dazu,
für etwas zu stehen oder etwas zu symbolisieren oder
eine Vorstellung zu repräsentieren?« (ebd.: 82)
Hier setzen instrumentalistische Zeichenauffassungen
an, die Abstand nehmen von der Idee, Sprache sei als
sekundäres Repräsentationssystem ein lautliches Re-
präsentationssystem eines kognitiven Repräsentati-
onssystems. Instrumentalistische Zeichenauffassun-
gen fragen danach, auf welche Weise es dem Hörer ge-
lingt, das, was der Sprecher sagt, zu verstehen und wie
Sprecher in der Lage sind, sprachliche Zeichen zum
Zweck der Kommunikation zu verwenden. Die instru-
mentalistische Antwort, die im Kern schon bei Platon
angelegt war, lautet: Die Bedeutung eines sprachlichen
Zeichens entfaltet sich in der Zeichenverwendung.
Kritik an repräsentationistischen Zeichen-
auffassungen
Ist das, wofür ein Zeichen steht, dessen Bedeutung?
Sind Bedeutungen sprachlicher Zeichen auf der onto-
logischen oder auf der epistemischen Ebene angesie-
delt, wie es repräsentationistischeZeichenauffassun-
gen postulieren?
Keller plädiert dafür, Bedeutungen allein auf der
linguistischen Ebene zu verorten, was einer pragmati-
schen Erweiterung und Explikation des Zeichen-
begriffs gleichkommt. Es ist für den linguistischen Be-
deutungsbegriff ungeachtet des zugrunde gelegten
Bedeutungskonzeptes zentral, dass Bedeutung stets an
einen sprachlichen Ausdruck als die Verwendung
sprachlicher Zeichen gebunden ist, was zugleich im-
pliziert, dass sprachliche Ausdrücke immer bedeu-
tungstragend sind. Ausdrücke verweisen in dieser
Sichtweise über sich selbst hinaus, was nicht nur für
referenzsemantische, sondern auch für Interaktions-
bezüge (also auch instrumentalistische Bedeutungs-
auffassungen) als Verweishinsicht gilt. Die Verweis-
hinsicht eines Ausdrucks beschränkt sich nicht nur
auf einen Begriff- oder Sachbezug: Geäußerte sprach-
liche Ausdrücke verweisen auf eine bestimmte Äuße-
rungssituation und die in dieser Situation verfolgten
kommunikativen Ziele. Darauf macht auch Dietrich
Busse aufmerksam:
»Wenn Prädikate und ihre Bedeutungen in einer direk
ten, unvermittelten Referenzbeziehung auf physika
lische Dingeigenschaften zurückgeführt werden sol
len, dann müsste die Referenzrelation (d. h. eine exten
sionale Beziehung) die Bedeutung natürlichsprach
licher Ausdrücke erschöpfend bestimmen können.«
(Busse 2009: 39 f.)
Wenn es richtig sein soll, dass ein sprachliches Zeichen
immer entweder ein Ding in der Welt oder eine Vor-
stellung repräsentiert, dann stößt man rasch an die
Grenzen einer solchen Sichtweise. Eine repräsentatio-
nistische Theorie orientiert sich zeichentheoretisch an
der Bedeutung von Autosemantika. Synsemantika wie
Konjunktionen sind mit einer solchen Theorie weitaus
6 Pragmatische Zeichentheorie
72
schwieriger, wenn nicht gar überhaupt nicht be-
schreibbar. Auch die Bedeutung referenzloser Ausdrü-
cke (z. B. schön oder grübeln) lässt sich über einen re-
präsentationistischen Bedeutungsbegriff nicht eindeu-
tig bestimmen. Dasselbe Problem entsteht, wenn man
die Bedeutungen von Wörtern in metaphorischen
oder metonymischen Kontexten (z. B. eine Flasche
Champagner köpfen oder sich erschrecken) bestimmen
möchte oder kontextvariante Bedeutungen bestim-
men soll. Auch bei Substantiven ist die Bedeutungs-
festlegung des sprachlichen Zeichens nicht immer
über Referenzbezüge darstellbar: Bei Substantiven wie
›Baum‹ ist es nicht zwingend, dass Sprecher und Hörer
dieselbe Referenz anlegen. So kann ich mir unter ei-
nem Baum vielleicht einen Mammutbaum vorstellen,
mein Gegenüber dagegen einen Bonsai. Je nach Theo-
rie wäre die Bedeutung von ›Baum‹ ein tatsächlich
existierender Baum, die Menge aller existierenden
Bäume oder die Menge aller mentalen Konzepte von
Bäumen, die Sprecher einer Sprachgemeinschaft ha-
ben können: »In jedem Fall aber könnte die Bedeutung
variieren, je nachdem, wer der Sprecher ist und auf
welches Referenzobjekt er sich bezieht. Die Bedeutung
variiert also mit der Verwendung von Ausdrücken«
(Bechmann 2013: 60), was unplausibel ist, da sich
Kommunizieren dann als unmöglich erweisen würde.
Ein weiteres Problem betrifft ko-referentielle Aus-
drücke (vgl. ebd.: 61). Hier müsste man annehmen,
dass solche Ausdrücke in jedem Fall bedeutungsgleich
sind. Auch dies ist nicht der Fall. Wie sonst ließe sich
die Vielzahl synonymer Wörter erklären, die zwar die
gleiche Referenz, aber doch eine unterschiedliche Be-
deutung haben (z. B. ›Morgenstern‹ und ›Abendstern‹
(Venus))?
Gebrauchstheorie der Bedeutung
Keller plädiert in seiner Zeichentheorie dafür, einer
Gebrauchstheorie der Bedeutung sprachlicher Zei-
chen zu folgen, wie sie in ihren Grundzügen bei Lud-
wig Wittgenstein in dessen Philosophischen Unter-
suchungen angelegt ist (vgl. Keller 2018: 79 ff.). Die Be-
deutung eines sprachlichen Zeichens wird darin nicht
durch Referenzbeziehungen zu Dingen oder Vorstel-
lungen begründet, sondern allein durch den Ge-
brauch eines sprachlichen Zeichens in einer bestimm-
ten Verwendungssituation und unter Berücksichti-
gung eines bestimmten kommunikativen Zwecks. Der
Zweck des Kommunizierens kann die (faktische) Dar-
stellung eines Sachverhalts sein. In vielen Fällen je-
doch verfolgen Sprecher andere Ziele.
Die Verwendung sprachlicher Zeichen lässt Raum
für spezifische kommunikative Absichten des Spre-
chers (wie bspw. Persuasion oder soziale Interaktion).
Mit anderen Worten: Verstanden zu werden ist das
Hauptziel kommunikativer Bemühungen. Darüber hi-
naus dient Kommunikation aber auch dazu, weitere
kommunikative Ziele zu erreichen. Die Zweckorientie-
rung der Zeichenverwendung ist die pragmatische Di-
mension einer gebrauchsfunktionalen Zeichentheorie.
Referenzbeziehungen sind zwar möglich, indem eine
der Sprecherabsichten in der (faktischen) Repräsenta-
tion von Dingen oder Sachverhalten durch die Zei-
chenverwendung angenommen werden kann. Jedoch
erweitert die pragmatische Zeichentheorie die Mög-
lichkeit des Referenzbezugs um andere kommunikati-
ve Absichten und deren sprachliche Realisierungen
durch absichtsvolle Zeichennutzung. Die pragmati-
sche Zeichentheorie erkennt, dass die Referenzbezie-
hung (und damit verbundene Repräsentationsabsich-
ten) nur eine Möglichkeit der Zeichenverwendung
darstellt. Die pragmatischen Nutzungsmöglichkeiten
sprachlicher Zeichen erschöpfen sich darin jedoch bei
Weitem nicht.
Im Kern geht es in der pragmatischen Zeichentheo-
rie um die Beantwortung der Frage, was ein sprach-
liches Zeichen kommunikativ nutzbar und interpre-
tierbar macht. Die Antwort gelingt durch eine Theo-
rie, die Bedeutung sprachlicher Zeichen in einen Zu-
sammenhang des gesamten menschlichen Handelns
stellt und damit »die Sprache nicht als ein Zeichensy-
tem [ansieht], das unabhängig von Sprechern und so-
zialen Gruppen existiert« (Heringer 1974: 19). Mithil-
fe einer solchen instrumentalistischen Theorie kann
man plausibel sprachliche (vor allem semantische)
Veränderungen erfassen und begründen. Über diesen
instrumentalistischen Bedeutungsbegriff lässt sich
auch aufzeigen, dass »durch die Annahme von Regeln
das Verhältnis von Langue und Parole und die Mög-
lichkeit der Veränderung, der Erlernung und Entste-
hung sprachlicher Zeichen vorgesehen [ist]« (ebd.:
19). Die Grundfrage jeder instrumentalistischen Be-
deutungstheorie lautet in Bezug auf die zwei Seiten ei-
nes sprachlichen Zeichens: Wie lassen sich die beiden
Grundbegriffe eines sprachlichen Zeichens in Saussu-
rescher Diktion (Ausdruck und Bedeutung) linguis-
tisch einordnen, wenn man sich von der repräsenta-
tionistischen Tradition lösen möchte?
Der Ausdruck eines sprachlichen Zeichens ist in ei-
nem instrumentalistischen Modell auf der Ebene der
Sprache selbst angesiedelt, denn er manifestiert sich
durch ein abstraktes System von Zeichen und Zeichen-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
73
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
beziehungen. Der Inhalt jedoch, die Bedeutung eines
sprachlichen Zeichens, ist in der Dimension des Spre-
chens verortet, also in der konkreten Realisierung des
Ausdrucks im Gebrauch. Im Gegensatz zu einem reprä-
sentationistischen Bedeutungsbegriff basiert der Sym-
bolcharakter eines Wortes in einer sogenannten ›Ge-
brauchstheorie‹ auf einer konventionellen Regelung:
Die Regelhaftigkeit des Gebrauchs in der Sprach-
gemeinschaft sorgt dafür, dass ein sprachliches Zeichen
sowohl kommunikativ verwendbar als auch interpre-
tierbar wird. In diesem Sinne ist Bedeutung eng an den
Gebrauch durch den Zeichenbenutzer gekoppelt und
schließt als kulturell und intentional fixiertes Modell
die beiden Dimensionen Sprecher und Hörer mit ein.
Der Bedeutungsbegriff wird auf der linguistischen Ebe-
ne verortet, wobei mit dem Ausdruck ›Gebrauch‹ nicht
einzelne Gebrauchsinstanzen gemeint sind, sondern
»nur die Gebrauchsweise in der Sprache, die Regel des
Gebrauchs« (Keller 2018: 88). Verstehen wird ermög-
licht über die Kenntnis von Gebrauchsregeln.Der große Vorteil der Gebrauchstheorie sprach-
licher Zeichen nach Rudi Keller liegt darin, dass Be-
deutung als eine Art lehr- und lernbare Technik des
Kommunizierens begriffen wird: »Die Bedeutung ist
nichts Geheimnisvolles, nichts Seelisches oder sonst
etwas Inneres« (ebd.: 90). Zudem ist Gebrauch »nicht
eine Folge der Bedeutung, sondern er ist die Bedeu-
tung« (ebd.; Hervorhebung im Original). Aus dieser
Festlegung tritt die pragmatische Dimension des Kel-
lerschen Zeichenverständnisses hervor: »Das Wort re-
präsentiert nicht die Regel seines Gebrauchs; es ›be-
deutet‹ nicht die Regel des Gebrauchs, sondern regel-
hafter Gebrauch macht es bedeutungsvoll« (ebd. mit
dem Verweis auf Kutschera 1975: 234).
Bedeutungen sprachlicher Zeichen lassen sich auf
diese Weise nicht hinreichend auf das Verhältnis zwi-
schen Zeichen und Objekt reduzieren. Zwar ist es in
manchen Fällen möglich, die Bedeutung eines sprach-
lichen Zeichens darüber zu definieren, ob man der
Äußerung einen Wahrheitswert zuschreiben kann,
der an Objekteigenschaften gebunden ist. Dies ist aber
nicht in jedem Fall möglich.
In repräsentationistischen Zeichentheorien ent-
spricht die Zeichenbedeutung einem Wahrheitswert,
d. h. Bedeutungen sprachlicher Äußerungen werden
über die Werte wahr oder falsch bestimmt. Die Bedeu-
tung eines Wortes zu kennen, würde demnach heißen,
zu wissen, wie die Welt beschaffen sein muss, damit
der Ausdruck wahr ist: »Begriffe sind Funktionen, die
Gegenstände in Wahrheitswerte abbilden« (ebd.: 65).
Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens wird folg-
lich mit seinem Wahrheitswert gleichgesetzt, wodurch
sich eine Korrelation zwischen Sprache und Welt bzw.
zwischen Bedeutung und Wahrheit ergibt. Die Zei-
chentheorie Kellers schränkt diese Sichtweise ein und
erweitert sie um den pragmatischen Aspekt: »Wahr-
heitsbedingungen sind Spezialfälle von Gebrauchs-
regeln« (ebd.: 91). Für die kommunikative Nutzung ei-
nes Wortes ist es nicht allein entscheidend zu wissen,
in welchen Fällen die Verwendung des Ausdrucks
wahr ist. Es ist zur Bedeutungsfestlegung nicht hinrei-
chend, die Bedingungen eines Gegenstandes zu ken-
nen, um darüber zu entscheiden, ob ein sprachliches
Zeichen dazu geeignet ist, »wahrheitsgemäß auf ihn
applizierbar zu sein« (ebd.). Wichtiger – so der Kern
der pragmatischen Zeichentheorie – ist die Kenntnis
von Gebrauchsbedingungen, die über den Aspekt der
reinen faktischen Repräsentation hinaus andere kom-
munikative Zwecke erfüllen können. Ob man einen
Wein ›Gesöff‹ nennt, hat nichts mit Wahrheitswerten
zu tun, sondern mit Einstellungen. Solche Neben-
bedeutungen (Konnotationen) können in entschei-
dender Weise die Bedeutung eines Wortes bestimmen.
Diese Erkenntnis ist für Erklärungsversuche his-
torisch-semantischen Wandels von großer Bedeutung:
Veränderungen von Wortbedeutungen gehen einher
mit Veränderungen der Gebrauchsbedingungen der
sprachlichen Zeichen (vgl. dazu Keller/Kirschbaum
2003; Bechmann 2013). Dazu ein Beispiel: Das Adjek-
tiv ›geil‹ besitzt eine bewegte Bedeutungsgeschichte.
Diente es vormals der (neutralen) konkreten fak-
tischen Repräsentation und bedeutete so viel wie ›üp-
pig‹, was eine Verwendungsweise wie ›ein geiler Ur-
wald‹ zuließ, wird dieser Ausdruck heute in erster
Linie expressiv-evaluativ verwendet (ugs. ›eine geile
Karre‹). Der Bedeutungswandel ist nicht rückführbar
auf veränderte Objekteigenschaften und Wahrheits-
werte. Stattdessen sind neue Gebrauchsbedingungen
verregelt worden als das Resultat einer zweckrationa-
len Nutzungsveränderung durch die Sprecher und Hö-
rer einer Sprachgemeinschaft. Wenn sich sprachliche
Zeichen kommunikativ dazu eignen, zu einem neuen
Zweck anders verwendet zu werden, ändert sich (bei
frequenter Verwendung) die Gebrauchsregel des Wor-
tes durch den Gebrauch selbst.
6.5 Gebrauchsregeln und Regeltypen
Keller elaboriert eine Zeichentheorie, die erstmals den
Zusammenhang von Zeichen und Gebrauchsregel
herstellt. Für Keller wird das Wesen eines sprachlichen
6 Pragmatische Zeichentheorie
74
Zeichens (dessen Zeichenhaftigkeit) dadurch be-
stimmt, »dass ein geregelter Gebrauch ihm kommuni-
kative Funktion verleiht« (Keller 2018: 100). Dieser
Zusammenhang stellt sich folgendermaßen dar: Die
meisten Begriffe unserer Alltagssprache besitzen un-
scharfe Ränder, so dass Objektmerkmale als Ge-
brauchskriterien nicht hinreichend sind (vgl. ebd.:
119 ff.). Nur in den wenigsten Fällen bilden Begriffe
Objekte in Wahrheitswerte ab. Ob ein Ding einem Be-
griff zugeordnet werden kann (wenn Zuordnung über-
haupt das primäre Ziel menschlicher Kommunikation
ist), wird nicht über die Sättigung von Wahrheitswer-
ten bestimmt, sondern es gibt in den meisten Fällen ei-
nen Nutzungsspielraum, der kontext- und intentions-
abhängig ist. Keller verdeutlicht dies an einem Beispiel:
»Die Regel des Gebrauchs des Wortes Haus räumt dem
Sprecher eine gewisse Entscheidungstoleranz ein, etwa
einen bewohnbaren Schuppen Haus zu nennen oder
nicht. Entscheidungsfreiheit heißt nicht Unentscheid-
barkeit« (ebd.: 137; Hervorhebungen im Original).
Noch klarer wird dieser Gedanke, wenn man ihn auf
einen anderen Fall anwendet: Haben wir es bei einem
Schuppen, den jemand ›Haus‹ nennt, mit dem Problem
der unscharfen Grenzen der Benennung zu tun, das
sich aus der (möglicherweise unterschiedlichen) Wahr-
nehmung von Objekteigenschaften (vier Wände, Tür,
Dach etc.) ergibt, spielen diese semantischen Merkmale
kaum noch eine Rolle, wenn man ein Haus einen
›Schuppen‹ nennt. Hier wird das ›Schuppenhafte‹ zum
Ausdruck einer Bewertung auf ein Objekt übertragen,
das die semantischen Merkmale eines Schuppens (aus
Holz, klein, zugig etc.) gar nicht aufweist.
Begriffe sind somit eng verwoben mit den (kul-
turell determinierten) Regeln, die ihrem Gebrauch zu-
grunde liegen. Über den Gebrauch erschließt sich
durch den Weg der Interpretation die Bedeutung des
sprachlichen Zeichens als Mittelungsmittel eines
kommunikativen Zwecks: »Den Prozess des Schlie-
ßens nennt man Interpretieren; das Ziel dieses Prozes-
ses heißt Verstehen« (ebd.: 144; Hervorhebungen im
Original). Hier offenbart sich die pragmatische Di-
mension der Kellerschen Zeichenvorstellung: »Kom-
munikation soll jedes intentionale Verhalten genannt
werden, das in der Absicht vollzogen wird, dem ande-
ren auf offene Weise etwas zu erkennen zu geben«
(ebd.: 142; Hervorhebung im Original). Zeichen die-
nen in der Kommunikation dazu, das kommunikative
Ziel des Verstehens über den Weg der Interpretation
erreichbar zu machen, indem der kommunikative
Sinn in ihnen verregelt ist. Kennt man die Regel des
Gebrauchs eines sprachlichen Zeichens, kennt man
dessen Bedeutung und kann den Sinn einer Äußerung
pragmatisch erschließen. Sprachliche Zeichen reprä-
sentieren auf diese Weise keine Wahrheitswerte, son-
dern kommunikative Absichten. Dadurch, dass der
Sprecher die Regel des Gebrauchs kennt, kann er das
Wort für seine kommunikativen Zwecke nutzen und
dadurch, dass der Hörer dieselben Regeln kennt, kann
er das Wort in seiner Bedeutung erfassen und über
den sprachlichen Kontext und über die Kenntnis der
Wortbedeutung den Sinn der komplexen Äußerung
verstehen. Dies ist der Tenor einer Gebrauchstheorie
der Bedeutung in der pragmatischen Erweiterung um
die Dimensionen Sprecher und Hörer, die Rudi Keller
vorgenommen hat.
Gebrauchsregeln funktionieren prinzipiell nach
dem Schema: Verwende das Wort X, wenn Du auf einen
Sachverhalt/Gegenstand Y verweisen möchtest. Sie ha-
ben den Vorteil, dass sie zu jedem beliebigen Zeitpunkt
angeben können, wie ein Wort verwendet wird, so sich
diachron stets eine spezifische Wortbedeutung finden
lässt. Dies ist besonders für eine Untersuchung des Be-
deutungswandels von entscheidender Wichtigkeit.
Gebrauchsregeln sind unter bestimmten Umstän-
den offen für Veränderungen und Anpassungen und
sie können höchst unterschiedliche Merkmale oder
Parameter involvieren, so dass sich unterschiedliche
Regeltypen ergeben.Parameter der Gebrauchsregel
können sowohl sprachlich als auch außersprachlich
motiviert sein (vgl. Radtke 1998: 46 ff.). Prinzipiell las-
sen sich folgende Parameter identifizieren, mit denen
sprachlichen Realisierungen kommunikativer Ab-
sichten möglich sind (vgl. Bechmann 2013):
1. Parameter aus der äußeren Welt
2. Parameter aus der inneren Welt
a) Parameter aus der Welt der Haltungen
b) Parameter aus der Welt der Gedanken und Ko-
gnitionen
c) Parameter aus der Welt der Gefühle
3. Parameter aus der Welt des Sozialen
4. Parameter aus der Welt des Diskurses
5. Parameter aus der sprachlichen Welt
Diese Taxonomie ermöglicht die Bestimmung von
Haupt- und Nebenbedeutungen sprachlicher Zeichen.
Ein Beispiel soll dies abschließend verdeutlichen: Die
Bedeutung des Wortes ›Fraß‹ involviert neben Para-
metern aus der äußeren Welt (eine Art Essen) auch Pa-
rameter aus der Welt der Haltungen, weil mit der
Wortverwendung (in erster Linie) eine Bewertung
zum Ausdruck gebracht wird. Die Bedeutung des
Wortes ›Fraß‹ zu kennen, heißt, diese spezifischen
(hier: evaluativen) Gebrauchsbedingungen zu kennen.
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
75
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Als Essenz der pragmatischen Zeichentheorie lässt
sich festhalten: Die Interpretation sprachlicher Zei-
chen ist immer die Frage nach der Kenntnis von Ge-
brauchsregeln (und implizit die Kenntnis von bedeu-
tungsbestimmenden Parametern). Die Kenntnis von
Gebrauchsregeln ist das, was Rudi Keller ›semioti-
sches Wissen‹ nennt, ihre Beherrschung meint ›se-
miotische Kompetenz‹.
Literatur
Bechmann, Sascha (2013): Bedeutungswandel deutscher
Verben. Eine gebrauchstheoretische Untersuchung.
Tübingen.
Bechmann, Sascha (2016): Sprachwandel – Bedeutungswan-
del. Tübingen.
Busse, Dietrich (2009): Semantik. Paderborn.
Cassirer, Ernst (21990): Versuch über den Menschen. Ein-
führung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt a. M.
Eco, Umberto (1987): Semiotik. Entwurf einer Theorie der
Zeichen. München.
Eco, Umberto (92002): Einführung in die Semiotik. Pader-
born.
Frege, Gottlob (1962): Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttin-
gen.
Frege, Gottlob (1977): Begriffsschrift und andere Aufsätze.
Darmstadt.
Goodman, Nelson (1968): Languages of Art: An Approach
to a Theory of Symbols. Indianapolis.
Heidegger, Martin (1972): Sein und Zeit. Tübingen.
Heidegger, Martin (1975): Unterwegs zur Sprache. Pfullin-
gen.
Heringer, Hans Jürgen (1974): Praktische Semantik. Stutt-
gart.
Keller, Rudi (22018): Zeichentheorie. Eine pragmatische
Theorie semiotischen Wissens. Tübingen.
Keller, Rudi (32003): Sprachwandel. Von der unsichtbaren
Hand in der Sprache. Tübingen.
Keller, Rudi/Kirschbaum, Ilja (2003): Bedeutungswandel.
Eine Einführung. Berlin.
Kutschera, Franz von (21975): Sprachphilosophie. München.
Lacan, Jacques (1975): Schriften I. Frankfurt a. M.
Locke, John (1689/2008): An Essay concerning Human
Understanding. Oxford.
Mersch, Dieter (2001): Semiotik und Grundlagen der Wis-
senschaft. In: Theo Hug (Hg.): Einführung in die Wissen-
schaftstheorie und Wissenschaftsforschung. Bd. 4,
Hohengehren, 323–338.
Morris, Charles William (1938): Foundations of the Theory
of Signs. In: International Encyclopedia of Unified Sci-
ence. Chicago, 1–59.
Morris, Charles William (1972): Zeichen, Sprache und Ver-
halten. Düsseldorf. [Signs, Language and Behavior, 1947].
Morris, Charles William (1977): Pragmatische Semiotik und
Handlungstheorie. Frankfurt a. M.
Peirce, Charles Sanders (1931–1958): Collected Papers.
8 Bde. Cambridge, Mass.
Radtke, Petra (1998): Die Kategorien des deutschen Verbs
– Zur Semantik grammatischer Kategorien. Tübingen.
Saussure, Ferdinand de (21967): Grundfragen der allgemei-
nen Sprachwissenschaft. Berlin. [Cours de linguistique
générale, 1916].
Saussure, Ferdinand de (1997): Linguistik und Semiologie.
Notizen aus dem Nachlass. Frankfurt a. M. [Cours de lin-
guistique générale, 1916].
Schleicher, August (1863): Die Darwin’sche Theorie und die
Sprachwissenschaft. Weimar.
Wittgenstein, Ludwig (1953): Philosophical Investigations.
Oxford.
Wittgenstein, Ludwig (1998): Tractatus logico-philosophi-
cus. Kritische Edition. Hg. von Brian McGuinness und
Joachim Schulte. Frankfurt a. M.
Sascha Bechmann
6 Pragmatische Zeichentheorie
76
7 Neo-Gricesche Pragmatik
7.1 Grice, Neo-Grice, Post-Grice
Gricesche Pragmatik ist diejenige Pragmatik, die Paul
Grice (1989) entwickelt hat oder diejenige Pragmatik,
die darauf aufbaut oder anschließt. Neo-Gricesche
Pragmatik ist im Gegensatz dazu die Pragmatik, die
sich zwar Grice (1989) verpflichtet fühlt, aber diesen
Ansatz in wesentlichen Teilen revidiert. Zu den Neo-
Griceschen Ansätzen werden vor allem die Ansätze
von Laurence Horn und Stephen Levinson gerechnet.
Post-Gricesche Pragmatik ist diejenige Pragmatik,
die zwar auch noch einen Bezug zu Grice (1989) hat,
ihn aber eher überwinden möchte. Manchmal wird
die Relevanztheorie von Dan Sperber, Deirdre Wil-
son und Robyn Carston als Post-Gricescher Ansatz
bezeichnet.
Zwei theoretische Konzeptionen von Grice (1989)
sind besonders einflussreich geworden. Dies sind
zum einen das Kooperationsprinzip und die ihm zu-
geordneten Maximen, zum anderen die Unterschei-
dung zwischen dem Gesagten (what is said) und dem
Implikatierten (what is implicated). Auf diese beiden
Konzepte und die Neo-Gricesche Kritik daran gehe
ich im Folgenden ein. Im Hintergrund beider Kon-
zeptionen liegt die Gricesche Auffassung über das
Verstehen einer Äußerung. Wenn ein Sprecher eine
bestimmte Äußerung mit einer bestimmten Intention
macht, dann gilt diese Äußerung als vom Hörer ver-
standen, wenn dieser die Intention des Sprechers re-
konstruiert. Neo-Gricesche Pragmatik hat einen gro-
ßen Einfluss auf das zeitgenössische Bild der Pragma-
tik als einer wissenschaftlichen Disziplin (vgl. Allan/
Jaszczolt 2012; Barron/Gu/Steen 2017; Horn/Ward
2004; Huang 2017a).
7.2 Das Kooperationsprinzip und die
Maximen
Das Kooperationsprinzip und die Maximen haben
verschiedene Aufgaben:
a) Sie gewährleisten die Ableitung pragmatischer
Schlüsse,
b) sie dienen der Beschreibung und Klassifikation
pragmatischer Phänomene, und
c) sie motivieren die Unterscheidung zwischen dem
Gesagten und dem Implikatierten.
Das Kooperationsprinzip lautet (Grice 1989: 26):
»Cooperative Principle
Make your conversational contribution such as is re
quired, at the stage at which it occurs, by the accepted
purpose or direction of the talk exchange in which you
are engaged.«
Kooperativität heißt, sich an der Kommunikation in
konstruktiver Weise zu beteiligen, sie also nicht zu
stören oder zu behindern. Dies ist eine Erwartung, die
die Kommunizierenden haben. Und sie haben diese
Erwartung, obwohl sie wissen, dass diese oft ent-
täuscht wird. Dem Kooperationsprinzip sind die fol-
genden Maximen zugeordnet (Grice 1989: 26–27;
deutsche Versionen in Meibauer 2001: 25 und Liedtke
2016: 70–73). Auffällig ist, dass es bei der Maxime der
Qualität (Maxim of Quality) und bei der Maxime der
Art und Weise (Maxim of Manner) jeweils eine Ober-
maxime und zwei bzw. vier spezifischere Maximen
(Untermaximen) gibt.
»Maxim of Quantity
1. Make your contribution as informative as is re
quired (for the current purposes of exchange).
2. Do not make your contribution more informative
than is required.
Maxim of Quality
Try to make your contribution one that is true.
1. Do not say what you believe to be false.
2. Do not say that for which you lack adequate evi
dence.
Maxim of Relation
Be relevant.
Maxim of Manner
Be perspicuous.
1. Avoid obscurity of expression
2. Avoid ambiguity.
3. Be brief (avoid unnecessary prolixity).
4. Be orderly.«
Generell unterstellen Menschen in der Kommunikati-
on, dass diese Maximen beachtet werden. Entsteht je-
doch der Anschein, dass sie dies nicht tun, kann man
als Hörer auf der Basis des Gesagten und des Kontexts
Hypothesen darüber ableiten,was der Sprecher ei-
gentlich oder darüber hinaus gemeint hat. Eine solche
Ableitung kann man pragmatische Inferenz nennen.
Die Untersuchung pragmatischer Inferenzen ist der
Gegenstand der Neo-Griceschen Pragmatik.
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018
F. Liedtke / A.Tuchen (Hg.), Handbuch Pragmatik, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04623-9_7
77
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
Zur Funktion der einzelnen Maximen bei der
pragmatischen Inferenz gibt es eine reichhaltige Lite-
ratur (vgl. die Überblicke bei Finkbeiner 2015; Liedt-
ke 2016; Meibauer 2009; Rolf 2013). Hier müssen ei-
nige Beispiele und Hinweise genügen. Die Quanti-
tätsmaxime spielt eine Rolle bei den skalaren Impli-
katuren (vgl. Geurts 2010; Tiel et al. 2016) und
Tautologien (vgl. Meibauer 2008). Die Qualitätsmaxi-
me hat eine Funktion bei der Ableitung ironischer
und metaphorischer Bedeutungen (vgl. Dynel 2013).
Die Relationsmaxime bezieht sich auf Fälle anschei-
nend inkohärenter Kommunikation. Und die Maxi-
me der Art und Weise hat man auf Fälle von Satzkoor-
dinationen bezogen, bei denen die Anordnung der
Konjunkte Einfluss auf die richtige Interpretation hat
(vgl. Posner 1979).
Betrachtet man die obige Liste von Maximen, stel-
len sich die folgenden Fragen. Erstens, ist die Liste
vollständig, oder muss sie noch erweitert werden? So
hat Grice noch eine weitere Manner-Maxime vor-
geschlagen: »›Frame whatever you say in the form
most suitable for any reply that would be regarded as
appropriate‹; or, ›Facilitate in your form of expression
the appropriate reply‹« (Grice 1989: 273). Diese Ma-
xime bezieht sich auf Fälle der geeigneten Referenz.
Grice (1989: 28) hat auch auf die Möglichkeit einer
zusätzlichen Maxime »Be polite!« hingewiesen. Bei
Geoffrey Leech (2014) findet man entsprechend meh-
rere Maximen, die sich auf sprachliche Höflichkeit
beziehen.
Zweitens, sind einzelne Maximen überflüssig oder
kann die Liste reduziert werden? Grice (1989: 26)
weist darauf hin, dass die zweite Quantitätsmaxime
vielleicht überflüssig sei. Reduktionen des Maximen-
apparats sind in der Neo-Griceschen Pragmatik im-
mer wieder vorgeschlagen worden. Die bekanntesten
Reduktionen liegen von Horn (vgl. Horn 1984, 2007,
2017), Levinson (2000) und den Relevanztheoretikern
(vgl. Carston 2002; Sperber/Wilson 1995; Wilson/
Sperber 2012) vor (zu einem genaueren Vergleich; vgl.
Meibauer 2009; Huang 2017b).
Drittens, sind die Maximen richtig formuliert?
Sind pragmatische Grundbegriffe, die im Kooperati-
onsprinzip und den Maximen verwendet werden
(wie zum Beispiel der Begriff der Informativität oder
der Obskuranz), hinreichend geklärt? Solche Begriffe
sind voraussetzungsreich und ein Anlass, verschiede-
ne Neo-Gricesche Theorien zu entwickeln. Am bes-
ten ist dies an der Debatte über das Konzept des Ge-
sagten (what is said) zu sehen (vgl. Doran et al. 2012;
Terkourafi 2010).
7.3 Typen von Implikaturen
Konversationelle Implikaturen werden durch einen
pragmatischen Schlussprozess abgeleitet (vgl. Atlas
2005: 45–79). Ableitbarkeit oder Rekonstruierbarkeit
ist die erste wichtige Eigenschaft von konversationel-
len Implikaturen. Logische Schlüsse werden dagegen
automatisch gezogen. Die zweite ist Streichbarkeit
(auch: Annullierbarkeit, Suspendierbarkeit). Damit
ist gemeint, dass durch einen passenden sprachlichen
Zusatz eine abgeleitete Implikatur aufgehoben wer-
den kann, ohne dass dies widersprüchlich wirkt. Die
dritte Eigenschaft ist Kontextabhängigkeit. Dies be-
deutet, dass konversationelle Implikaturen vom je-
weiligen Äußerungskontext abhängig sind. Wird der
Kontext geändert, entsteht die entsprechende Impli-
katur nicht, oder es entsteht eine andere konversatio-
nelle Implikatur.
Angenommen, ich erzähle meiner Frau (die für ein
paar Tage auf einem Kongress war): Stell dir vor, ich
habe Robert mit einer Frau gesehen! Dann gebe ich da-
mit zu verstehen, dass die Frau nicht seine Ehefrau,
Schwester, Mutter, usw. war (vgl. Grice 1989: 37). Hät-
te ich nämlich genau gewusst, dass es sich zum Bei-
spiel um seine Frau handelte, hätte ich sagen müssen:
Stell dir vor, ich habe Robert mit seiner Frau gesehen!
Die Ausdrucksweise eine Frau lässt nun Spielräume
der Andeutung offen: War es seine neue Freundin?
Geht er fremd? Ist er frisch verheiratet? Dabei handelt
es sich um mögliche Gesprächsandeutungen (konver-
sationelle Implikaturen), die unter Verwendung von
Hintergrundwissen (Was weiß ich über Robert?) re-
konstruiert werden müssen. Diese Gesprächsandeu-
tungen sind nicht Teil der wörtlichen Bedeutung, da
sie streichbar sind (Streichbarkeits-Kriterium) oder in
einem anderen Kontext erst gar nicht auftauchen
(Kontextabhängigkeits-Kriterium).
Grice (1989: 37–40) unterscheidet zwischen ge-
neralisierten und partikularisierten konversationellen
Implikaturen. Erstere sind relativ kontextunabhängig.
Die gerade erwähnte Implikatur, bei der das Paar
<sein, ein> eine Rolle spielt, ist vom Typ der generali-
sierten konversationellen Implikatur. Man kann er-
warten, dass eine solche Implikatur regelmäßig auf-
tritt. Die partikularisierten konversationellen Impli-
katuren dagegen erfordern mehr spezielle Hinter-
grundinformationen, damit sie abgeleitet werden
können. Zum Beispiel: Ich weiß von Helga, dass sie bei
ihrem letzten Job unter verdächtigen Umständen ge-
kündigt wurde. Fragt man mich, wie es Helga geht und
ich antworte Oh, ganz gut; im Gefängnis ist sie noch
7 Neo-Gricesche Pragmatik
78
nicht gelandet, dann spiele ich darauf an, dass dies wie-
der der Fall sein könnte und charakterisiere sie als po-
tentiell unehrlich.
Neben den generalisierten und den partikularisier-
ten konversationellen Implikaturen führt Grice (1989:
25–26) auch noch den Begriff der konventionellen Im-
plikatur ein. Konventionelle Implikaturen sind Bedeu-
tungen, die einerseits nicht zum Gesagten gehören (in-
sofern sind es Implikaturen), anderseits aber auch kon-
ventionell sind, d. h. nicht abgeleitet werden, wie es bei
den konversationellen Implikaturen der Fall ist. Grice
(1989) vertritt die Auffassung, dass der Konnektor und
die gleiche Bedeutung hat wie der aussagenlogische
Operator ∧. Wenn die Reihenfolge der Konjunkte eine
Rolle spielt wie in Anna heiratete und bekam ein Kind
im Vergleich mit Anna bekam ein Kind und heiratete,
dann ist der entsprechende Bedeutungseffekt eine
konversationelle Implikatur, die mithilfe der 4. Unter-
maxime der Manner-Maxime, »Be orderly!« (Grice
1989: 27), abgeleitet werden kann (vgl. Posner 1979).
Nimmt man nun den Konnektor aber, ergibt sich ein
Problem. Er sollte wie und analysiert werden mit einer
normalen Verknüpfungsbedeutung; aber woraus lässt
sich dann die Kontrastbedeutung ableiten? Diese kann
keine konversationelle Implikatur sein, ist aber auch
kein Bestandteil des Gesagten. Nach Grice haben wir
es daher mit einer Zwischenkategorie zu tun. Diese
Kategorie der konventionellen Implikatur ist jedoch
umstritten (vgl. Bach 1999; Potts 2005).
Insgesamt ergibt sich die in Abb. 7.1 veranschau-
lichte Taxonomie von Bedeutungen.
7.4 Das Gesagte und das Gemeinte
Grice (1989) vermeidet die Rede von Semantik und
Pragmatik. Stattdessen führt er die Begriffe des Gesag-
ten (what is said) und des Implikatierten (what is im-
plicated) ein. Das Gesagte ist der Aussageinhalt (die
Proposition) einer Äußerung. Propositionen werden
in der Semantik behandelt. Sie sind die diejenigen
Größen, die einer Wahrheitsbewertung unterzogen
werden. Es ist kein Zufall, dass das bei weitem einfluss-
reichste Kapitel aus Grice (1989), in welchem er seine
Implikaturentheorie entfaltet, »Logic and Conversati-
on« heißt (Grice 1989: 22–40). In dieser Arbeit verfolgt
Grice einen minimalistischen Ansatz zur Sprecher-Be-
deutung (speaker meaning). Die Semantik ist für ihn
eine Wahrheitsbedingungen-Semantik; die über die
semantischeBedeutung hinausgehende Bedeutung
muss dann pragmatisch sein. Deiktische Variablen
und die Auflösung von Ambiguitäten werden als pro-
blematisch für den strikten Minimalismus anerkannt.
Die exakte Abgrenzung von Semantik und Pragmatik
(oder die Leugnung deren Möglichkeit) ist ein zentra-
les Problem der modernen Linguistik und die Implika-
turentheorie leistet dazu einen bedeutenden Beitrag
(vgl. Börjesson 2014; Depraetere/Salkie 2017).
In der Neo-Griceschen und Post-Griceschen Dis-
kussion ist es üblich geworden, bestimmte Denkrich-
tungen als Ismen zu kategorisieren. Die wesentlichen
Ismen sind der (semantische) Minimalismus, der In-
dexikalismus und der Kontextualismus (Maximalis-
mus). Daneben werden manchmal der (semantische)
Relativismus und der Okkasionalismus/Situationalis-
mus unterschieden (vgl. Bezuidenhout 2017; Borg
2012: 1–47). Im semantischen Minimalismus wird die
Sicht vertreten, dass sich die formale Semantik mit
den Wahrheitsbedingungen von Propositionen be-
schäftigt. Diese sollen die Kompositionalität der Satz-
bedeutung und damit die syntaktische Struktur des
Satzes reflektieren. Semantischer Minimalismus ist
grundsätzlich kontextfrei, mit der Ausnahme von
kontext-sensitiven Elementen wie indexikalischen
(deiktischen) Ausdrücken. Grice (1989) ist in diesem
Sinne ein semantischer Minimalist, aber auch Borg
(2012) und Cappelen/Lepore (2005).
Der Indexikalismus ist zwischen semantischem
Minimalismus und Kontextualismus angesiedelt.
Hierbei wird angenommen, dass es in der semanti-
schen Struktur noch weitere Variablen gibt, die kon-
textabhängig belegt werden müssen (vgl. Finkbeiner/
Meibauer 2015). Der Kontextualismus (Maximalis-
mus) ist eine Neo-Gricesche Denkrichtung, die dazu
neigt, den Anteil der Pragmatik bei der Bedeutungs-
konstitution als sehr hoch anzusetzen und den der Se-
mantik potentiell zu reduzieren. In vielen Kontexten
zeigt sich, dass Anpassungen der semantischen Struk-
tur an Gegebenheiten der Sprechsituation notwendig
sind, damit man überhaupt Wahrheitsbedingungen
identifizieren kann. In diesem Sinne beeinflusst die
Pragmatik von vorneherein die Semantik. Es ist nicht
so, dass erst die Semantik ihre Arbeit macht und dann
noch die Pragmatik hinzutritt, wie es im Wesentlichen
der Sicht des semantischen Minimalismus entspricht.
7.5 Unterdeterminiertheit
Kontextualistische Ansätze eint die Grundüberzeu-
gung, dass die logische Form noch nicht ausreicht, um
Wahrheitsbedingungen zu fixieren. In der Regel findet
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
79
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
eine Art Anreicherung der logischen Form statt. Typi-
sche Beispiele für unterdeterminierte Strukturen, die
durch pragmatische Prozesse angereichert werden
müssen, sind die folgenden (vgl. Carston 2002: 21–28):
• fehlende Konstituenten, s. (1), (2);
• unspezifizierter Skopus von Konstituenten, s. (3);
• Unterspezifizierung oder Schwäche des konzep-
tuellen Gehalts, s. (4);
• Überspezifizierung oder Enge des konzeptuellen
Gehalts, s. (5):
(1) Paracetamol ist besser. (als was?)
(2) Die Frucht ist rot. (Schale, Inneres, beides
etc.?)
(3) Er hat sich nicht das Brot im Badezimmer mit
einem Messer gestrichen. (nicht das Brot,
nicht das Brot im Badezimmer etc.)
(4) Der Weg ist uneben. (für einen Roller, für
einen Landrover etc.?)
(5) Sein Gesicht ist quadratisch. (nicht exakt
quadratisch)
Man hat in dieser Hinsicht von einer Explikatur (ex-
plicature), einer Implizitur (impliciture), oder dem in-
tuitiven Inhalt (intuitive content) gesprochen (vgl.
Bach 1999; Carston 2002; Recanati 2004). Ob diese
Konzepte aber theoretisch und empirisch gut begrün-
det sind, ist umstritten. Levinson (2000) vertritt die
Auffassung, dass die Pragmatik Einfluss auf das Ge-
sagte nehmen könne (pragmatic intrusion), aber sie tut
dies nach ihm per Implikatur. Huang (2017c: 174) äu-
ßert Skepsis in Bezug auf die präzise Definition der
oben genannten Konzepte; auch Borg (2015) trägt ei-
ne genaue Kritik am Konzept der Explikatur vor. Bach
(2010) bemüht sich, sein Konzept der Implizitur ge-
nau vom relevanztheoretischen Konzept der Explika-
tur abzugrenzen. Auch das Konzept der ›unartikulier-
ten Konstituente‹ wäre in einen Vergleich einzubezie-
hen (vgl. Liedtke 2013). Vor diesem Hintergrund sind
experimentelle Ansätze zur Differenzierung der Kon-
zepte willkommen (z. B. Sternau/Ariel/Giora et al.
2015). Eventuell muss man auch noch weitere Bedeu-
tungskonzepte anerkennen (vgl. Ariel 2016).
7.6 Spielarten der Neo-Griceschen
Pragmatik
Die bekanntesten Neo-Griceschen Ansätze streben ei-
ne Reduktion oder eine besondere Systematik der Ma-
ximen an, haben dabei aber zugleich die Semantik-
Pragmatik-Unterscheidung im Blick. Im Folgenden
gehe ich in erster Linie auf die Ansätze von Levinson
(2000) und Horn (1984, 2007) ein, wobei besonders
den sprachlichen Phänomenen, die diese Ansätze er-
fassen wollen, Beachtung geschenkt wird (zur »Post-
Griceschen« Relevanztheorie s. Kap. II.8). Anschlie-
ßend wird knapp auf aktuelle Kritik an diesen Ansät-
zen verwiesen.
Das Levinsonsche Modell
Levinson (2000) konzentriert sich auf die Analyse von
generalisierten konversationellen Implikaturen. Er
schlägt eine Revision der Griceschen Maximen vor,
die auf drei Heuristiken basiert. Das Kooperations-
prinzip spielt keine Rolle; stattdessen werden pragma-
tische Prozesse als evolutionäre Mittel charakterisiert,
die Langsamkeit der Artikulation zu kompensieren.
Die erste Heuristik (»What isn’t said, isn’t.«) bezieht
sich auf die erste Quantitätsmaxime bei Grice; das ent-
Sprecherbedeutung
das Gesagte das Implikatierte
konversationelle Implikaturkonventionelle Implikatur
generalisierte
konversationelle
Implikatur
partikularisierte
konversationelle
Implikatur Abb. 7.1 Taxonomie von
Bedeutungen nach P. Grice
7 Neo-Gricesche Pragmatik
80
sprechende Prinzip nennt Levinson das Q-Prinzip.
Die zweite Heuristik (»What is expressed simply, is
stereotypically exemplified.«) bezieht sich auf die
zweite Quantitätsmaxime bei Grice; das entsprechen-
de Prinzip bei Levinson heißt I-Prinzip. Die dritte
Heuristik (»What’s said in an abnormal way isn’t nor-
mal.«) schließt an die erste und dritte Submaxime der
Manner-Maxime an (Levinson 2000: 35–39). Bei die-
sem Umbau des Griceschen Maximengerüsts fällt auf,
dass die Griceschen Maximen der Relation und der
Qualität wegfallen.
Das Q-Prinzip wird folgendermaßen definiert
(Levinson 2000: 76) (deutsche Fassung in Liedtke
2016: 104):
»Qprinciple
Speaker’s maxim: Do not provide a statement that is in
formationally weaker than your knowledge of the
world allows, unless providing an informationally
stronger statement would contravene the Iprinciple.
Specifically, select the informationally strongest para
digmatic alternate that is consistent with the facts.
Recipient’s corollary: Take it that the speaker made the
strongest statement consistent with what he knows
[...].«
Das in der Sprechermaxime erwähnte I-Prinzip ver-
langt, dass der Sprecher nicht informativer sein soll als
notwendig (s. u.). Wenn immer es möglich ist, sollte
der Sprecher an stereotypische Annahmen anknüpfen.
Im Rezipientenkorollar geht es darum, dass der Spre-
cher eine möglichst starke Äußerung machen sollte.
Hier sind skalare Implikaturen einschlägig. Skalare
Implikaturen beziehen sich auf Skalen, in welchen
Elemente nach ihrem Grad der Informationsstärke
geordnet werden. Eine solche Skala ist zum Beispiel
<alle, einige>. Das rechte Element ist das schwache,
das linke Element das starke. Assertiert man das rech-
te, implikatiert man die Negation des linken. Dies
funktioniert nur unter der Annahme, dass der Spre-
cher das Q-Prinzip (oder die erste Quantitätsmaxime)
beachtet. Hätte er gewusst, dass alle gilt, hätte er dies
auch sagen sollen. Da er es nicht getan hat, ist der Hö-
rer bei der Äußerung von einige zu der Annahme be-
rechtigt, dassnicht alle gilt. Diesen Mechanismus
kann man nun verallgemeinern. Typische Skalen sind
<alle, die meisten, viele, einige> (Quantifizierer), <und,
oder> (Konjunktionen), <notwendigerweise, mögli-
cherweise> (Modalwörter), <müssen, können> (Mo-
dalverben), <immer, oft, manchmal> (Temporaladver-
bien>, <heiß, warm> (Gradadjektive) sowie <wissen,
glauben> und <lieben, mögen> (Verben). (Eine andere
Anordnung der Skalenelemente, also <SCHWACH,
STARK>, findet sich bei Horn 2017a, vgl. Fn. 2: 515.)
Neben den skalaren Implikaturen sind klausale Im-
plikaturen zu nennen. Diese entstehen bei Kontrast-
mengen, d. h. verbalen Doubletten wie {wissen, glau-
ben}, {beweisen, finden}, {voraussagen, voraussehen}
und anderen (vgl. Levinson 2000: 111). In diesen Fäl-
len drückt die klausale Implikatur epistemische Unsi-
cherheit über den im eingebetteten Satz ausgedrück-
ten Sachverhalt aus. Die Äußerung Ida findet, dass die
Preise steigen implikatiert dann, dass sie es nicht be-
wiesen hat.
Das I-Prinzip lautet wie folgt (Levinson 2000: 114–
115) (deutsche Fassung in Liedtke 2016: 105):
»IPrinciple
Speaker’s maxim: the maxim of Minimization. ›Say as
little as necessary‹; that is, produce the minimal lin
Heuristiken Prinzipien Gricesche Maximen Beispiele
Heuristik 1 QPrinzip Quantity (Maxime
der Quantität,
1. Unter maxime)
QImplikatur: (a) Einige Kollegen waren
betrunken. +> ›Nicht alle Kollegen waren
betrunken.‹ (skalare Implikatur); (b) Der
Arzt glaubt, dass der Patient gesund wird.
+> ›Der Arzt weiß nicht, ob der Patient
gesund wird.‹ (klausale Implikatur)
Tab. 7.1 Prinzipien,
die generalisierte
konversationelle
Implikaturen ableiten
Heuristik 2 IPrinzip Quantity (Maxime
der Quantität,
2. Unter maxime)
IImplikatur: Anna drückte den Knopf und
der Motor sprang an. +> ›Anna drückte
den Knopf und dann/deshalb sprang der
Motor an.‹ (konjunktionale Stützung)
Heuristik 3 MPrinzip Manner (Maxime
der Art und Weise,
1. und 3. Unter
maxime)
MImplikatur: Franz verursachte den Stopp
der Maschine. (vs. Franz stoppte die Ma
schine.) +> ›Er tat dies indirekt, nicht in der
normalen Weise, z. B. in dem er die Not
bremse betätigte.‹ (Paraphrase)
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
81
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
guistic information sufficient to achieve your commu
nicational ends (bearing Q in mind).
Recipient’s corollary: the Enrichment Rule. Amplify the
informational content of the speaker’s utterance, by
finding the most specific interpretation, up to what
you judge to be the speaker’s mintended point, unless
the speaker has broken the maxim of Minimization by
using a marked or prolix expression [...].«
»M-intended« bedeutet »meaning-intended« und be-
zieht sich auf die Sprecherabsicht. Das I-Prinzip soll
eine Reihe von Implikaturen abdecken (Levinson
2000: 117–118), und zwar:
(6) konditionale Verstärkung: Wenn du den Rasen
mähst, bekommst du von mir 5 Euro. +> ›Wenn
du nicht den Rasen mähst, bekommst du auch
keine 5 Euro.‹
(7) konjunktionale Stützung: Bettina meldete ein Pa-
tent an und verkaufte die Rechte an Daimler. +>
›Bettina meldete ein Patent an und dann ver-
kaufte sie die Rechte an Daimler.‹
(8) Brückenimplikatur: Markus packte den Präsent-
korb aus. Der Sekt war warm. +> ›Der Sekt war
Teil des Präsentkorbs.‹
(9) stereotypbasierte Schlussfolgerung: Helgai be-
grüßte Toni und dann lächelte siei. +> ›Helga be-
grüßte Toni, den Mann, und dann lächelte sie.‹
(Voraussetzung: Der Name Toni kann sich auf
Männer oder Frauen beziehen.)
(10) Negationsverstärkung: Ich mag Egon nicht +>
›Ich kann ihn überhaupt nicht leiden.‹
(11) Negationsanhebung: Ich glaube nicht, dass sie
vertrauenswürdig ist. +> ›Ich glaube, dass sie
nicht vertrauenswürdig ist.‹
(12) präferierte lokale Koreferenz: Franzi kam herein
und eri setzte sich. +> ›Es war Franz, der sich
setzte (nicht ein anderer Mann).‹
(13) Spiegelmaxime: Fritz und Moni kauften ein Piano.
+> ›Sie kauften es zusammen, nicht jeder eins.‹
(14) Spezialisierung von Raumausdrücken: Der Nagel
ist im Holz. +> ›Der Nagel ist im Holz ein-
geschlossen, nicht eingeschlagen.‹
(15) possessive Interpretationen: Angelas Kinder +>
›die Kinder, deren Mutter sie ist‹; Angelas Haus
+> ›das Haus, in dem sie lebt‹; Angelas Verantwor-
tung +> ›die Verantwortung, die sie trägt‹; Angelas
Theorie +> ›die Theorie, die sie begründet hat.‹
Die Bedeutungsrelationen bei N + N-Komposita, die
Levinson noch nennt, wurden hier ausgelassen; es ist
in der Wortbildungstheorie umstritten, ob diese eher
semantischen oder pragmatischen Charakter haben.
Das M-Prinzip wird folgendermaßen definiert (Le-
vinson 2000: 136–137); deutsche Fassung in Liedtke
(2016: 107 f.):
»MPrinciple
Speaker’s maxim: Indicate an abnormal, nonstereo
typical situation by using marked expressions that
contrast with those you would use to describe the cor
responding normal, stereotypical situation.
Recipient’s corollary: What is said in an abnormal way
indicates an abnormal situation, or marked messages
indicate marked situations [...].«
Das M-Prinzip deckt nach Levinson mindestens die
folgenden Fälle ab (Levinson 2000: 138–153):
(16) lexikalische Dubletten: Sie hat einen Wälzer [vs.
Buch] gelesen. +> ›Sie hat ein dickes, schweres
Buch gelesen.‹
(17) konkurrierende Wortbildung: Ich nehme den
Flieger [vs. das Flugzeug]. +> ›Fliegen ist nichts
Besonderes für mich.‹
(18) Nominalkomposita: Dies ist eine Schachtel für
Streichhölzer [vs. Streichholzschachtel]. +> ›Dies
ist eine nicht-prototypische Schachtel, die extra
für die Aufbewahrung von Streichhölzern ange-
fertigt wurde.‹
(19) Litotes: Das war eine nicht unbeträchtliche An-
strengung. +> ›Es war eine ziemliche Anstren-
gung.‹
(20) Genitivkonstruktion: Das ist das Bild von Toni
[vs. Tonis Bild]. +> ›Das Bild stellt Toni dar.‹
(21) Verschmelzung: Sie ging zur Schule/zur Univer-
sität [vs. zu der Schule/zu der Universität]. +>
›Sie war eine Schülerin/Studentin.‹
(22) Paraphrase: Franz verursachte den Stopp der Ma-
schine [vs. Franz stoppte die Maschine.] +> ›Er tat
dies indirekt, nicht in der normalen Weise, z. B.
in dem er die Notbremse betätigte.‹
(23) Wiederholung: Er ging zu Bett und schlief und
schlief [vs. und schlief]. +> ›Er schlief länger als
gewöhnlich.‹
Nur die erste (»Avoid obscurity of expression«) (Grice
1989: 27) und die dritte Untermaxime (»Be brief
(avoid unnecessary prolixity))« (ebd.) der Griceschen
Maxime der Art und Weise bleiben in Levinsons
M-Prinzip erhalten. Die zweite Untermaxime (»Avoid
ambiguity« (ebd.) wird durch das Q-Prinzip abge-
7 Neo-Gricesche Pragmatik
82
deckt (vgl. Levinson 2000: 135). Die vierte Untermaxi-
me (»Be orderly« (Grice 1989: 27)) wird nicht mehr
benötigt, denn die typischen Fälle der konjunktiona-
len Stützung (vgl. Bsp. (7)) fallen bei ihm unter das
I-Prinzip. Außerdem handele es sich bei der ›Ord-
nung‹ von Informationseinheiten eher um ein all-
gemeines kognitives Linearisierungsprinzip. Es
scheint so, dass viele der Beispiele in (16) bis (23) mit-
hilfe des Q- oder I-Prinzips erklärt werden können.
Manchmal ist auch schwer zu entscheiden, ob wirk-
lich die gleiche Denotation vorliegt, wie es im Rezi-
pientenkorollar des M-Prinzips gefordert wird.
Vergleicht man die Griceschen Maxime mit den
Levinsonschen Prinzipien, sieht man, dass Levinson
auf die Qualitätsmaxime und die Relationsmaxime
verzichtet. Die Qualitätsmaxime spiele eher eine Hin-
tergrundrolle bei der Ableitung von generalisierten
konversationellen Implikaturen (vgl. Levinson 2000:
74). Während Grice (1989) die Qualitätsmaxime be-
nötigt, um Ironie, Metapher und Sarkasmus zu erklä-
ren (vgl. Dynel 2013), argumentiert Levinson, dass es
sich dabei um Fälle von partikularisierten konver-
sationellen Implikaturen handele, die ja nicht Gegen-
stand seiner Theorie sind (vgl. Levinson 2000: 386, Fn.
2). Angesichtsvieler Fälle konventioneller Ironie oder
konventionellen Sarkasmus kann dies aber nicht über-
zeugen. Die Relationsmaxime lehnt Levinson eben-
falls mit dem Argument ab, dass sie nur der Ableitung
partikularisierter konversationeller Implikaturen die-
ne (vgl. Levinson 2000: 74). Diese Maxime scheint je-
doch eine Rolle bei der Disambiguierung und Ellip-
senauflösung zu spielen (vgl. ebd.: 174, 183).
Levinson (2000) stellt einen kontextualistischen
Ansatz dar, der ein Eindringen der Pragmatik in die
Semantik (pragmatic intrusion) annimmt. Grice wird
der Vorwurf gemacht, dass seine Konstruktion des
Verhältnisses vom Gesagten und vom Implikatierten
zirkulär sei: Einerseits schließe die Ableitung einer
Implikatur an das Gesagte an; anderseits kann das Ge-
sagte – nämlich in Bezug auf Disambiguierung, Dei-
xis/Indexikalität, Festlegung der Referenz, Ellipsen-
auflösung und Einengung allgemeiner Bedeutungen
(generality narrowing) – nur mithilfe von pragmati-
schen Inferenzen (»processes that look undistinguish-
able from implicatures«) überhaupt erst ermittelt wer-
den (Levinson 2000: 186).
Levinsons Alternativmodell zum Griceschen Mini-
malismus (s. Abb. 7.2) enthält drei pragmatische
Komponenten, nämlich Indexikalische Pragmatik,
Gricesche Pragmatik 1 sowie Gricesche Pragmatik 2
und zwei semantische Komponenten, nämlich Kom-
positionelle Semantik und Semantische (modell-theo-
retische) Interpretation. Der Output der Kompositio-
nellen Semantik und der Indexikalischen Pragmatik
ist Input für die Gricesche Pragmatik 1. Der Output
der Griceschen Pragmatik 1 ist Input für die Semanti-
sche Interpretation, deren Output wiederum Input für
die Gricesche Pragmatik 2 ist. Deren Output ist
schließlich die Sprecher-Bedeutung.
Während die Indexikalische Pragmatik und die
Grice sche Pragmatik 1 präsemantische pragmatische
Komponenten sind, ist die Gricesche Pragmatik 2 eine
postsemantische pragmatische Komponente. Im Fo-
kus des Levinsonschen Modells ist die Gricesche Prag-
matik 1, da hier die generalisierten konversationellen
Implikaturen aktiv sind. Die Gricesche Pragmatik 2,
die für partikularisierte konversationelle Implikaturen
zuständig ist, wird von Levinson nicht näher betrach-
tet. Mit der Anordnung der Komponenten ist aber kei-
ne Voraussage über tatsächliche Verarbeitungsvorgän-
ge verbunden (vgl. dagegen Noveck/Sperber 2007).
Das Hornsche Modell
Horn (1984) gilt neben Levinson als ein weiterer be-
deutender Neo-Griceaner. Nach Horn haben Implika-
turen die Aufgabe, die Ökonomie der sprachlichen In-
formation zu regulieren (vgl. Horn 2004: 13). Horn
vertritt eine ›manichäische‹ (duoprinzipielle) Prag-
matik mit genau zwei Prinzipien, dem Q-Prinzip und
dem R-Prinzip (Horn 1984: 13):
»Q-Principle
Make your contribution sufficient: Say as much as you
can (given R).
(Lowerbounding principle, inducing upperbounding
implicatures)
R-Principle
Make your contribution necessary: Say no more than
you must (given Q).
(Upperbounding principle, inducing lowerbounding
implicatures).«
In folgender Weise sind diese beiden Prinzipien den
Griceschen Maximen zuzuordnen: Das Q-Prinzip
deckt die erste Untermaxime der Quantitätsmaxime
ab und die erste und zweite Untermaxime der Man-
ner-Maxime. Das R-Prinzip deckt die zweite Unter-
maxime der Quantitätsmaxime, die Maxime der Rela-
tion und die dritte und vierte Untermaxime der Man-
ner-Maxime ab. Die Maxime der Qualität wird als un-
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
83
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
reduzierbar betrachtet, da Wahrhaftigkeit eine
Vorbedingung für die Erfüllung der anderen Maxi-
men sei (vgl. Horn 2004: 7).
Das Q-Prinzip zielt auf die Maximierung des In-
halts einer Äußerung ab. Es garantiert dem Hörer,
dass der Inhalt ausreichend ist. Aus dem Unver-
mögen des Sprechers, einen informativeren oder kür-
zeren Ausdruck zu benutzen, schließt der Hörer, dass
dies der Sprecher nicht verantworten konnte. Der Pa-
radefall sind hier die skalaren Implikaturen. Das
R-Prinzip zielt auf die Minimierung des Ausdrucks
ab und daher auch auf einen minimalen Aufwand des
Sprechers. Dies gilt zum Beispiel für alle indirekten
Sprechakte.
Abbildung 7.2 zeigt, wie das Q-Prinzip funktioniert
(von Horn 2004: 10 für das Deutsche adaptiert): Die
rechte Spalte gibt den Normalfall an.
In Bezug auf den Fall der Kardinalzahlen in Bei-
spiel (a) ist die dargestellte, ›klassische‹ Analyse in
Frage gestellt worden (vgl. Bultinck 2005; Huang
2017b: 164). In neueren Arbeiten wird eher von einer
Unterspezifizierung des skalaren Ausdrucks aus-
gegangen, der in einem Kontext in geeigneter Weise
angereichert wird.
Als ein wichtiges ökonomisches Prinzip schlägt
Horn (1984: 22) das Prinzip der pragmatischen Ar-
beitsteilung vor:
»The Division of Pragmatic Labor
The use of a marked (relatively complex and/or prolix)
expression when a corresponding unmarked (simpler,
less ›effortful‹) alternative expression is available tends
to be interpreted as conveying a marked message (one
which the unmarked alternative would not or could not
have conveyed).«
In Bezug auf das Konzept der markierten Mitteilung
ähnelt dieses Prinzip dem Levinsonschen M-Prinzip.
Levinson hat allerdings eingewendet, dass Horn hier
die Minimierung des Inhalts mit einer Minimierung
des Ausdrucks verwechsle. Man dürfe die Gricesche
Manner-Maxime nicht so aufspalten, wie es Horn tut,
Indexikalische Semantik
Output: Semantische Repräsentationen
Kompositionelle Semantik
Gricesche Pragmatik 1
Disambiguierung, Festlegung der Referenz,
Einengung allgemeiner Bedeutungen, etc.
Semantische Interpretation
Modelltheoretische Interpretation
Output: Satzbedeutung, ausgedrückte Proposition
Gricesche Pragmatik 2
Indirektheit, Ironie und Tropen, etc.
Output: Sprecherbedeutung, vom Sprecher gemeinte Bedeutung
Abb. 7.2 Präsemantische
und postsemantische Prag
matik (Levinson 2000: 188)
7 Neo-Gricesche Pragmatik
84
da die Manner-Maxime immer formorientiert sei und
daher auf die Minimierung des Ausdrucks abziele
(vgl. Levinson 1987: 73).
Vergleich und Kritik der beiden Ansätze
Ein erster wesentlicher Unterschied zwischen Horn
und Levinson liegt daher in der Frage, wie viele prag-
matische Prinzipien angenommen werden sollen.
Horn plädiert für zwei, Levinson für drei. Beide leh-
nen das monoprinzipielle Vorgehen der Relevanz-
theorie (bei der Relevanz aber kein Prinzip ist, son-
dern ein kognitiver Prozess) ab. Horn (2017a: 522) ar-
gumentiert sogar, dass das Relevanzprinzip eigentlich
auch manichäisch (duoprinzipiell) sei.
Der zweite wesentliche Unterschied zwischen Horn
und Levinson liegt darin, dass Horn die Vorstellung
vom pragmatischen Eindringen in das Gesagte ab-
lehnt. Dies ist für ihn eine Vermischung von what is
said/Semantik und what is implicated/Pragmatik. Statt-
dessen sympathisiert Horn mit dem konservativen mi-
nimalistischen Vorgehen von Bach (1994), der die Im-
plizitur als Erweiterung einer unterspezifizierten logi-
schen Form betrachtet (vgl. Huang 2017b: 175).
Beide Neo-Griceschen Ansätze sind wiederholt
kritisiert worden. Die erste Kritik stammt aus der Re-
levanztheorie und findet sich zum Beispiel bei Cars-
ton (2002: 96–101). Hier werden die Levinsonschen
Annahmen zum Griceschen Zirkel und zum Begriff
der generalisierten konversationellen Implikatur in
Zweifel gezogen. Eine Kontroverse zwischen Neo-
Griceschen relevanztheoretischen (›Post-Grice-
schen‹) Ansätzen findet sich in Horn (2005–2006)
und Carston (2005). Sofern Kent Bach auch als Neo-
Griceaner aufgefasst wird, ist in diesem Zusammen-
hang noch die Kontroverse über die Implizitur von In-
teresse (vgl. Bach 2010).
Eine ›konventionalistische‹ Attacke auf Grice und
die Neo-Griceaner haben Lepore/Stone (2015: 40–59)
vorgetragen (vgl. auch Davis 1998, 2016.) Vieles von
dem, was Neo-Griceaner und Kontextualisten für ein
Produkt pragmatischer Inferenzen halten, führen sie
auf sozialeKonventionen zurück (vgl. kritisch dazu
Horn 2016).
Versucht man, die zeitgenössische Leistungsfähig-
keit des Neo-Griceschen Ansatzes zu bewerten, muss
man sich allerdings auch mit weiteren Ansätzen aus-
einandersetzen, die zwischen Minimalismus und
Kontextualismus/Maximalismus anzusiedeln sind,
zum Beispiel Ariel (2010, 2016), Borg (2012), Cappe-
len/Lepore (2005), Jaszczolt (2016) und Recanati
(2010). Ein genauer Vergleich dieser Positionen ist ge-
nauso wichtig wie der Versuch, sie an ihrer Beschrei-
bung und Erklärung konkreter sprachlicher Daten
und Phänomenbereiche zu bemessen.
7.7 Weitere Gebiete Neo-Gricescher
Pragmatik
Neben den klassischen Analysefeldern haben sich
neuere Forschungsgebiete etabliert, in denen Neo-
Gricesche Herangehensweisen fruchtbar sein können.
Einige von diesen werden im Folgenden kursorisch
vorgestellt. Bisher kaum behandelt wurde die Inter-
punktion-Pragmatik-Schnittstelle. Meibauer (2015)
diskutiert das (modalisierende) Anführungszeichen
<» «> bei Gradpartikeln in Kontexten wie Spears zahlt
Mann »nur« 750.000 Euro. In Meibauer (im Druck)
geht es um das Auslassungszeichen <...>. In beiden
Fällen wird Levinson (2000) als theoretischer Rahmen
benutzt. Als neues Forschungsgebiet wird oft die lexi-
kalische Pragmatik betrachtet (vgl. Blutner 2004;
s. Kap. II.10). Es geht dabei einerseits um den Begriff
der Skala, anderseits um Strukturierungen im Wort-
schatz einer Sprache (vgl. Hirschberg 1991; Horn
2017a; Huang 2009). Auch Wortbildungsphänomene
wie die Selbstkomposita (alias lexical cloning) (z. B. Du
machst den Eiersalat und ich den Salat-Salat, o. k.?)
werden in diesem Zusammenhang betrachtet (vgl.
Finkbeiner 2014; Horn 2017a: 523–528; Huang 2017b:
59–64). Meibauer (2014b) argumentiert dafür, dass
der Kontextualismus eine prälexikalische Pragmatik
in Betracht ziehen sollte. Wenn Wortbildung im Lexi-
Untergrenze,
einseitig
(das Gesagte)
Obergrenze,
zweiseitig
(das qua Q
Implikatierte)
(a) Lena hat drei
Kinder.
›... mindestens
drei ...‹
›... genau drei ...‹
(b) Du hast
einige Pralinen
gegessen.
›... einige, wenn
nicht alle ...‹
›... einige, aber
nicht alle ...‹
(c) Es ist möglich,
dass sie gewinnt.
›... auf jeden Fall
möglich ...‹
›... möglich, aber
nicht sicher ...‹
(d) Er ist ein
Schurke oder
ein Dummkopf.
›... und vielleicht
beides ...‹
›... aber nicht
beides ...‹
(e) Es ist warm. ›... auf jeden
Fall ...‹
›... aber nicht
heiß ...‹
Tab. 7.2 Funktionen des Quantitätsprinzips nach L. Horn
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
85
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
kon stattfindet, muss es pragmatische Prozesse geben,
die schon bei der Kreation von Neubildungen wirk-
sam sind.
An der Syntax-Pragmatik-Schnittstelle sind Ana-
phern zu verorten, für die Huang in einer Reihe von
Arbeiten Neo-Gricesche Analysen vorgelegt hat (vgl.
Huang 2005, 2017b: 73–78). In Bezug auf die Seman-
tik-Pragmatik-Schnittstelle kann man Phänomene
des Lügens und der Täuschung als relativ neue Gegen-
stände der Neo-Griceschen Forschung nennen
(s. Kap. III.33: Lügen) (vgl. Dynel 2015–2016; Horn
2017b; Meibauer 2014a, 2016). Es war Grice, der
schon früh die Möglichkeit einer Maxime »Be polite!«
(Grice 1989: 28) angedeutet hatte. Inzwischen ist Höf-
lichkeit, als sprachliches Phänomen zwischen Prag-
matik und Soziolinguistik, ein eigenes großes For-
schungsgebiet (vgl. Leech 2014; Haugh 2015: 40–68;
s. Kap. III.28: Höflichkeit).
Literatur
Allan, Keith/Jaszczolt, Kasia M. (Hg.) (2012): The Cam-
bridge Handbook of Pragmatics. Cambridge.
Ariel, Mira (2010): Defining Pragmatics. Cambridge.
Ariel, Mira (2016): Revisiting the typology of pragmatic
interpretations. In: Intercultural Pragmatics 13/1, 1–35.
Atlas, Jay David (2005): Logic, Meaning, and Conversation.
Semantical Underdeterminacy, Implicature, and Their
Interface. Oxford.
Bach, Kent (1994): Conversational impliciture. In: Mind &
Language 9, 124–162.
Bach, Kent (1999): The myth of conventional implicature.
In: Linguistics and Philosophy 22, 327–366.
Bach, Kent (2010): Impliciture vs explicature: what’s the dif-
ference? In: Belén Soria/Esther Romero (Hg.): Explicit
Communication. Robyn Carston’s Pragmatics. Basing-
stoke, 126–137.
Barron, Anne/Gu, Yueguo/Steen, Gerard (Hg.) (2017): The
Routledge Handbook of Pragmatics. London.
Bezuidenhout, Anne (2017): Contextualism and semantic
minimalism. In: Yan Huang (Hg.): The Oxford Handbook
of Pragmatics. Oxford, 21–46.
Blutner, Reinhard (2004): Pragmatics and the lexicon. In:
Laurence R. Horn/Gregory Ward (Hg.): The Handbook of
Pragmatics. Blackwell, 488–514.
Börjesson, Kristin (2014): The Semantics-Pragmatics Con-
troversy. Berlin.
Borg, Emma (2012): Pursuing Meaning. Oxford.
Borg, Emma (2015): Exploding explicatures. In: Mind and
Language 31/3, 335–355.
Bultinck, Bert (2005): Numerous Meaning: The Meaning of
English Cardinals and the Legacy of Paul Grice. Oxford.
Cappelen, Herman/Lepore, Ernie (2005): Insensitive
Semantics: A Defense of Semantic Minimalism and
Speech Act Pluralism. Oxford.
Carston, Robyn (2002): Thoughts and Utterances. The Prag-
matics of Explicit Communication. Oxford.
Carston, Robyn (2005): Relevance theory, Grice, and the
Neo-Griceans: A response to Laurence Horn’s »Current
issues in neo-Gricean pragmatics«. In: Intercultural Prag-
matics 2, 303–320.
Davis, Wayne (1998): Implicature: Intention, Convention,
and Principle in the Failure of Gricean Theory. Cam-
bridge.
Davis, Wayne (2016): Irregular Negatives, Implicatures, and
Idioms. Dordrecht.
Depraetere, Ilse/Salkie, Raphael (Hg.) (2017): Semantics and
Pragmatics: Drawing a Line. Dordrecht.
Doran, Ryan/Ward, Gregory/Larson, Meredith/Mc Nabb,
Yaron/Baker, Rachel E. (2012): A novel experimental
paradigm for distinguishing between what is said and
what is implicated. In: Language 88, 124–154.
Dynel, Marta (2013): Irony from a neo-Gricean perspective:
On untruthfulness and evaluative implicature. In: Inter-
cultural Pragmatics 10, 403–431.
Dynel, Marta (2015): Intention to deceive, bald-faced lies,
and deceptive implicature: Insights into Lying at the
semantics-pragmatics interface. In: Intercultural Pragma-
tics 12/3, 309–332.
Dynel, Marta (2016): Comparing and combining covert and
overt untruthfulness. On lying, deception, irony and
metaphor. In: Pragmatics & Cognition 23/1, 174–208.
Finkbeiner, Rita (2014): Identical constituent compounds in
German. In: Word Structure 7/2, 182–213.
Finkbeiner, Rita (2015): Einführung in die Pragmatik.
Darmstadt.
Finkbeiner, Rita/Meibauer, Jörg (2015): Indexicalism. In:
Konstanze Jungbluth/Federica da Milano (Hg.): Manual
of Deixis in Romance Languages. Berlin, 425–440.
Geurts, Bart (2010): Quantity Implicatures. Cambridge.
Grice, Paul (1989): Studies in the Way of Words. Cambridge,
Mass.
Haugh, Michael (2015): Im/Politeness Implicatures. Berlin.
Hirschberg, Julia (1991): A Theory of Scalar Implicature.
New York.
Horn, Laurence R. (1984): Toward a new taxonomy for prag-
matic inference: Q-based and R-based implicature. In:
Deborah Schiffrin (Hg.): Meaning, Form, and Use in Con-
text: Linguistic Applications. Washington (DC), 11–42.
Horn, Laurence R. (2005): Current issues in neo-Gricean
Pragmatics. In: Intercultural Pragmatics 2/2, 191–204.
Horn, Laurence R. (2006): More issues in neo- and post-
Gricean pragmatics: A response to Carston’s response. In:
Intercultural Pragmatics 3/1, 81–93.
Horn, Laurence R. (2007): Neo-Gricean pragmatics: A
manichean manifesto. In: Noel Burton-Roberts (Hg.):
Pragmatics. Basingstoke, 158–183.
Horn, Laurence R. (2016): Conventional wisdom reconside-
red. In: Inquiry 59/2, 145–162.
Horn, Laurence R. (2017a): Pragmatics and the lexicon. In:
Yan Huang (Hg.): The Oxford Handbook of Pragmatics.
Oxford, 511–531.
Horn, Laurence R. (2017b): What lies beyond: Untangling
the web. In: Rachel Giora/Michael Haugh (Hg.): Doing
Pragmatics Interculturally:Cognitive, Philosophical, and
Sociopragmatic Perspectives. Berlin/Boston/Munich,
151–174.
7 Neo-Gricesche Pragmatik
86
Horn, Laurence R./Ward, Gregory (Hg.) (2004): The Hand-
book of Pragmatics. Oxford.
Huang, Yan (2005): Anaphora and the pragmatics-syntax
interface. In: Laurence R. Horn/Gregory Ward (Hg.): The
Handbook of Pragmatics. Blackwell, 288–314.
Huang, Yan (2009): Neo-Gricean Pragmatics and the lexi-
con. In: International Review of Pragmatics 1, 118–153.
Huang, Yan (Hg.) (2017a): The Oxford Handbook of Prag-
matics. Oxford.
Huang, Yan (2017b): Neo-Gricean pragmatics. In: Yan
Huang (Hg.): The Oxford Handbook of Pragmatics.
Oxford, 47–78.
Huang, Yan (2017c): Implicature. In: Yan Huang (Hg.): The
Oxford Handbook of Pragmatics. Oxford, 155–179.
Jaszczolt, Kasia M. (2016): Meaning in Linguistic Inter-
action. Semantics, Metasemantics, Philosophy of
Language. Oxford.
Leech, Geoffrey (2014): The Pragmatics of Politeness.
Oxford.
Lepore, Ernie/Stone, Matthew (2015): Imagination and
Convention. Distinguishing Grammar and Inference in
Language. Oxford.
Levinson, Stephen C. (1987): Minimization and conversatio-
nal inference. In: Jef Verschueren/Marcella Bertuccelli-
Papi (Hg.): The Pragmatic Perspective. Amsterdam,
61–129.
Levinson, Stephen C. (2000): Presumptive Meanings. The
Theory of Generalized Conversational Implicature. Cam-
bridge, Mass.
Liedtke, Frank (2013): Pragmatic templates and free enrich-
ment. In: Frank Liedtke/Cornelia Schulze (Hg.): Beyond
Words. Content, Context, and Inference. Berlin, 185–205.
Liedtke, Frank (2016): Moderne Pragmatik. Grundbegriffe
und Methoden. Tübingen.
Meibauer, Jörg (2001): Pragmatik. Eine Einführung. Tübin-
gen.
Meibauer, Jörg (2008): Tautology as presumptive meaning.
In: Pragmatics & Cognition 16/3, 439–470.
Meibauer, Jörg (22009): Implicature. In: Jacob L. Mey (Hg.):
Concise Encyclopedia of Pragmatics. Amsterdam, 365–
378.
Meibauer, Jörg (2014a): Lying at the Semantics-Pragmatics
Interface. Berlin.
Meibauer, Jörg (2014b): Word-formation and contextualism.
In: International Review of Pragmatics 6/1, 103–126.
Meibauer, Jörg (2015): Only »nur«. Scare-quoted (exclusive)
focus particles at the semantics-pragmatics interface. In:
Jenny Arendholz/Wolfram Bublitz/Monika Kirner (Hg.):
The Pragmatics of Quoting Now and Then. Berlin/Boston,
177–207.
Meibauer, Jörg (2016): Topics in a linguistic theory of lying:
A reply to Marta Dynel. In: Intercultural Pragmatics 13/1,
107–123.
Meibauer, Jörg (im Druck): How omission marks mark
omission ... Understanding the graphematics/pragmatics
interface. In: Claudia Claridge/Merja Kytö (Hg.): Punc-
tuation and Pragmatics. Frankfurt a. M.
Noveck, Ira/Sperber, Dan (2007): The why and how of expe-
rimental pragmatics: The case of ›scalar inferences‹. In:
Noel Burton-Roberts (Hg.): Pragmatics. Basingstoke,
184–212.
Posner, Roland (1979): Bedeutung und Gebrauch der Satz-
verknüpfer in den natürlichen Sprachen. In: Günther Gre-
wendorf (Hg.): Sprechakttheorie und Semantik. Frankfurt
a. M., 345–385.
Potts, Christopher (2005): The Logic of Conventional Impli-
catures. Oxford.
Recanati, François (2004): Literal Meaning. Cambridge.
Recanati, François (2010): Truth-Conditional Pragmatics.
Oxford.
Rolf, Eckard (2013): Inferentielle Pragmatik. Zur Theorie
der Sprecher-Bedeutung. Berlin.
Sperber, Dan/Wilson, Deirdre (21995): Relevance: Commu-
nication and Cognition. Cambridge.
Sternau, Marit/Ariel, Mira/Giora, Rachel/Fein, Ofer (2015):
Levels of interpretation: New tools for characterizing
intended meanings. In: Journal of Pragmatics 84, 86–101.
Terkourafi, Marina (2010): What-is-said from different
points of view. In: Language and Linguistics Compass 4/8,
705–718.
Tiel, Bob van/Miltenburg, Emiel van/Zevakhina, Natalia/
Geurts, Bart (2016): Scalar diversity. In: Journal of Seman-
tics 33, 137–175.
Wilson, Deirdre/Sperber, Dan (2012): Meaning and Rele-
vance. Cambridge.
Jörg Meibauer
II Hauptströmungen der Pragmatik – A Forschungsparadigmen
87
XHUB-Print-Workflow | 01_Liedtke_Pragmatik_04623_{Druck-PDF} | 07.12.18
8 Relevance Theory
8.1 Introduction
Relevance theory is a cognitively-oriented pragmatic
theory that aims at providing a psychologically realis-
tic account of utterance interpretation. Originally de-
veloped by Dan Sperber and Deirdre Wilson (1995), it
has in the last few decades been one of the leading
frameworks for pragmatics research. In this chapter, I
first present relevance theory’s central claims and ex-
plain the motivations for them. I then review some of
the main applications of relevance theory (linguistic
underdetermination, the explicit-implicit distinction,
lexical pragmatics and procedural meaning), and dis-
cuss some questions that are the focus of current re-
search in these areas, both from within relevance the-
ory and by advocates of alternative approaches such as
semantic minimalism or indexicalism.
8.2 Outline of relevance theory
Relevance theory (RT) built on H. Paul Grice’s (1989)
seminal work, and preserves his key insights that un-
derstanding an utterance is no more than a matter of
inferring what the speaker intended to convey, and
that this can be achieved if interlocutors assume that
speakers aim to meet certain expectations. While
Grice’s Cooperative Principle and maxims of conver-
sation were designed to explain how hearers reason
from what a speaker says to what she implicates, RT
sees the domain of pragmatic comprehension as os-
tensive stimuli more generally – that is, acts of inten-
tional communication. These include not just utter-
ances of linguistic expressions, but also the various
paralinguistic and non-linguistic devices that accom-
pany them, as well as non-verbal communication. RT
also sees pragmatic inference as involved not just in
reasoning from what was said to implicatures, but also
in recovering what was explicitly said.
RT makes the following general claim about cogni-
tion:
Cognitive Principle of Relevance:
Human cognition tends to be geared to the maximisa-
tion of relevance (cf. Sperber/Wilson 1995: 260)
›Relevance‹ is a property of inputs to cognitive sys-
tems: it is a positive function of the cognitive effects
yielded by an input, and a negative function of the pro-
cessing effort required to achieve those effects. Cogni-
tive effects are additions to, strengthenings of, or revi-
sions to a person’s cognitive environment, which is the
set of assumptions that are accessible to them and that
they are capable of entertaining as true.
Ostensive communication raises an expectation of
relevance in the addressee: because it requires atten-
tion and processing effort, the addressee is entitled to
expect a worthwhile level of effects, and no gratuitous
expenditure of effort. This assumption is captured in a
second principle of relevance:
Communicative Principle of Relevance:
Every ostensive stimulus conveys a presumption of its
own optimal relevance (ibid.)
What makes a stimulus optimally relevant is that:
a) It is relevant enough for it to be worth the ad-
dressee’s effort to process it.
b) It is the most relevant one compatible with the
communicator’s abilities and preferences (ibid:
270).
The universal tendency to maximise relevance makes it
possible for us to often predict what other people will
attend to, what information from memory they will
bring to bear on processing the input, and how they
will process it – that is, what inferences they will draw
from it. A communicator can therefore shape her ut-
terance to ensure that the audience constructs an inter-
pretation that fulfils her communicative intention; this
is what justifies an audience’s presumption of optimal
relevance. RT claims that the communicative principle
of relevance and the presumption of optimal relevance
license the following comprehension heuristic:
• Relevance-theoretic comprehension procedure:
a) Follow a path of least effort in deriving cogni-
tive effects: