Prévia do material em texto
Die Welt mit anderen Augen sehen G G Die Welt mit anderen Augen sehen G GAUSGABE 08 2017 SCHARFER BLICK Das unterirdische Riesenmikroskop Lob der Unver nu nft Die Wissens chaf t von unsere n Schwächen. Und warum sie eigentlich unsere Stärken sind Dieser Glanz erfreut sogar die Umwelt. Gewohnt streifenfreier Glanz – und gut zur Umwelt. Denn die 99,9 % natürlichen Inhaltsstoffe tragen zur Schonung von Ressourcen und Gewässern bei. Jetzt informieren auf www.sidolin-pronature.de Dieser Glanz erfreut sogar die Umwelt. NEU Besuchen Sie uns auf facebook.com/geomagazin oder schreiben Sie uns: briefe@geo.de Herzlich Ihr Christoph Kucklick Liebe Leserin, lieber Leser, Ollie, ein Staffordshire-Terrier aus Australien, ist seit wenigen Wochen der berühmteste Hund der Wissen - schaft. Das bernsteinfarbene, sanftäugige Tier ist Redaktionsmitglied von gleich sieben wissenschaftli- chen Zeitschriften geworden. In dieser Position hat Ollie die Aufgabe, Studien zu bewerten und zu prüfen, ob sie einer Veröffentlichung würdig sind. Zu dieser Ehre hat Ollies Besitzer, ein Medizin - professor aus Perth, seinem Hund verholfen. Er hatte Ollie mit einem gefälschten, aber höchst durchsich- tigen Lebenslauf ausgestattet: Dr. Olivia Doll interes- siere sich besonders für die „Vorteile des Bauchkrau- lens bei mittelgroßen Caninen“ und die „Auswirkung von Skateboards auf das Bewegungsverhalten von Hunden“. Das Bild auf der Bewerbung zeigte die Pop- Sängerin Kylie Minogue. Die Zeitschriften akzeptier - ten Ollie alias Dr. Doll ohne Bedenken. Der Professor bezweckte mit der Finte zweierlei. Er wollte zum einen die Einfältigkeit von Forschern im Allgemeinen entlarven und im Besonderen die Schamlosigkeit jener Zeitschriften, die den größten Mist veröffentlichen, wenn die Autoren dafür (viel) Geld bezahlen. Von solchen Magazinen gibt es leider immer mehr. Auch die Wissenschaft ist also nicht vor Däm - lichkeit gefeit – jenem Phänomen, dem wir unsere Titelgeschichte widmen. Eine exakte Definition ist weder möglich noch nötig: Dummheit, Quatsch, Ese - lei, Unvernunft – die Bezirke menschlicher Torheiten überlappen sich. Sie produzieren haarsträubende und oft schmerz - haft komische Geschichten, wie Ute Eberle ab Sei- die Evolution ein derart nachteiliges, nämlich zuwei- len tödliches Verhalten nicht längst ausgerottet hat? Die Antwort ist Teil einer großen Umdeutung des Menschlichen, die wir zunehmend erleben: Statt uns selbst, wie es die Aufklärung vorgegeben hat, als „Homo rationalis“ zu deuten, als Spezies von überlege- ner Gedankenleistung und hoher Rationalität, fassen wir uns zunehmend als irrationale, unberechenbare und höchst emotionale Wesen auf. Und suchen darin eine Neubestimmung dessen, was den Menschen be- sonders macht. Das Hirn wird, so der GEO-Kolumnist und Neurowissenschaftler Henning Beck im zweiten Teil der Titelgeschichte (Seite 65), immer mehr als Feh- aber genau deswegen höchst kreativ ist. Der Geist ist kein kühler Rechner, sondern ein heißer Chaot. Und darin liegt seine Stärke. Ob Ollie einer Studie mit diesem Inhalt seinen Segen geben würde, ist nicht bekannt. Auch größere Mengen Leckerlis konnten sie bislang nicht zu einem Kommentar bewegen. Wenn Forschung vor die Hunde geht: Terrier Ollie macht unter dem Pseudonym Karriere als Experte für medizinische Fachpublikationen. Ein Beweis dafür, dass auch die Wissenschaft nicht gegen Dämlichkeit gefeit ist August 2017 Ti tel fo to: T im D od d, Bi ldb ea rb eit un g: Jo hn G rev e Editorial GEO 08 2017 3 32 DER FRIEDENSSUCHER IN DER WÜSTE Agadez, im Norden des Niger, ist Schnittpunkt für: Tuareg, Flüchtlinge, US-Soldaten, Ent- wicklungshelfer. Der Bürgermeister versucht den Frieden zu wahren. Von Michael Stührenberg und Christopher Pillitz 52 TITELTHEMA: LOB DER TORHEIT Dummheit scheint unausrottbar. Obwohl Unvernunft oft genug böse Folgen hat. Aber übersehen wir vielleicht etwas? Hat törichtes Verhalten womöglich auch gute Seiten? Plus: Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind. Von Ute Eberle und Henning Beck 70 GÄRTNER GEGEN GRABOWSKI Der Maulwurf, ein schaufelhändiger Tunnel- bohrer, ist der natürliche Feind des gepflegten Grüns. Ein Bericht von der Rasenfront. Von Andreas Wenderoth und Solvin Zankl 82 TROTZ UND VORURTEIL Vor 25 Jahren brannte in Rostock-Lichten- hagen ein Asylbewerberheim. Wie gehen die Menschen dort heute mit der Geschichte um? Von Christoph Dorner, Birte Kaufmann und Ina Schoenenburg 116 REICH DER GEISTER Seit Menschengedenken wird Japan von rätselhaften Fabelwesen, Göttern und Dämonen heimgesucht, vorzugsweise zum Wechsel der Jahreszeiten. Fotos von Charles Fréger 52 Wer improvisieren muss, kommt oft auf dumme Ideen. Vor solcher Torheit schützt auch hohe Intelligenz nicht unbedingt. In manch einer Situation verhalten sich gerade die Schlauen besonders närrisch 82 Heute dominieren Senioren in Rostock-Lichtenhagen. Doch 1992, im Jahr der Krawalle, war der Stadtteil voller junger, wütender Menschen 32 Seit Jahrhunderten gilt Agadez, die Stadt mit dem markanten Minarett aus Lehm, als Tor zur Sahara. Jetzt gerät die Hauptstadt der Tuareg in einen strategischen Fokus – hält der Frieden im Sahel? GEO 08 20174 Inhalt August 2017 128 SUPERLATIV IM TIEFPARTERRE In Hamburg geht dieser Tage das modernste und leistungsstärkste Mikroskop der Welt in Betrieb – nach acht Jahren Bauzeit und mehr als 1,2 Milliarden Euro Kosten. Doch der Aufwand für das European XFEL hat sich gelohnt: Erstmals können Forscher damit den Tanz der Atome beobachten. Von Jürgen Bischoff und Heiner Müller-Elsner 12 KOSMOS Unterwegs in einer Sari-Fabrik in Indien, bei Tölpeln vor den Shetlandinseln, auf Java und bei Schlangenbändigern in Italien 21 HORIZONTE In Indien lernen Großmütter, Solaranlagen zu bauen. Auf den Falklandinseln schützen Minen Pinguine, und in Berlin schwimmen Fische unter Tomaten 80 FORUM Empathie? Gefährlich!, warnt Fritz Breithaupt 103 361° Macht Aberglaube unverwundbar? Warum entspannen uns Naturgeräusche? Entsteht Parkinson im Darm? Antworten auf diese und weitere Fragen 144 GEO TELEVISION „Seefeuer“ – eine berührende Dokumentation über das Leben auf Lampedusa 146 WELTBÜRGER Diesmal: Shahin Tivay Sadatolhosseini aus Aachen, unterwegs in den Iran 6 Unterwegs 8 Resonanz, Leserservice 115 Impressum, Fotonachweise 140 GEO Erleben 142 Die Welt von GEO 145 Vorschau »Nie den Mut verlieren, Neues auszuprobieren! Etwas zu machen, ist wichtiger, als es perfekt zu machen« H I R N F O R S C H E R H E N N I N G B E C K , S E I T E 6 5 Klein, niedlich, nervig: Wenn der Maulwurf das Grün umgräbt, treibt er Gärtner zur Verzweiflung 70 Auftritt der Maskierten: Sie kommen, um zu verführen, zu mahnen oder zu strafen. Und sie geben den Japanern Anlass zum Feiern 116 Der Beschleuniger- tunnel im European XFEL: Hier werden Elektronen fast auf Lichtgeschwindig - keit beschleunigt 128 5 Im Herz der Laserkanone Wer komplizierte Forschung in einer Reportage einfangen will, braucht einen langen Atem. Drei Jahre begleitete GEO- Redakteur Jürgen Bischoff (unten links) den Bau des Röntgenlasers European XFEL, Fotograf Heiner Müller-Elsner (rechts) sogar doppelt so lang. Als sie sich mit Harald Sinn, einem der leitenden Physiker, jüngst im 3,4 Kilometer langen Forschungstunnel am Hamburger Stadt - rand trafen, hatte Müller-Elsner dort im Lauf der Recherche bereits etwa 25 000 Fotos geschossen. Über die Jahre war bei dem GEO-Teamauch der Respekt vor den Menschen gewachsen, die diesen Rie- senapparat geplant haben. „Eine Technik zu installieren, die auf einer Länge von 3,4 Kilometern millimetergenau passt: Das“, findet Heiner Müller-Elsner, „ist schon eine ungeheure Leistung.“ Seite 128 Das Auge der Bundeswehr wacht überall Wie zwei GEO-Reporter im Niger in den Fokus der Truppe gerieten Bevor die GEO-Reporter Christopher Pillitz (vorn) und Michael Stühren - berg ins Aïr-Gebirge reisten, hatten sie eine bemerkenswerte Begegnung. „Vor unserer Abfahrt saßen wir in Agadez in einem Restaurant“, erzählt Stührenberg. „Da trat ein Mann an unseren Tisch und sagte: ‚Wir sind auf der Suche nach einem Deutschen, der in Begleitung eines Briten reist. Das können nur Sie sein.‘“ Der Mann, Oberstleutnant der Bundeswehr, war vom deutschen Nachrichten - dienst in Burkina Faso alarmiert worden: Der deutsche Tourist wolle versuchen, auf eigene Faust ins Aïr zu gelangen. Weil schon mehrfach Weiße im Niger von Islamisten gekidnappt worden seien, herrsche nun Aufregung. Stührenberg konnte den Offizier beruhigen: Für die Fahrt der Reporter am nächsten Morgen stand eine doppelte Militäreskorte der nigrischen Armee bereit. Seite 32 Reporterglück: ein Sperrmüllmöbelstück Reporter verbringen ihr halbes Leben in Hotels. Aber als GEO-Autor Christoph Dorner drei Monate in Rostock-Lich - tenhagen leben wollte, um ein Porträt des Stadtteils zu recher- chieren, suchte er sich eine Wohnung. Dorner brachte Matrat - ze, eine rollbare Kleiderstange, Kleidung und Küchenutensilien im Gepäck mit. Ein einfaches, aber brauchbares Regal fand sich im Sperrmüll in der Rostocker Innenstadt. Einen Tisch bekam er von einer Nachbarin, die sich gerade von ihrem Partner getrennt hatte – und alles aus der Wohnung warf, was sie an ihn erinnerte. Weil in seiner frisch sanierten Platten- bauwohnung kein Internetkabel verlegt war, half eine andere Nachbarin mit ihrem Router-Passwort aus: Dorner war im Netz – und auch gleich im Stadtteil selbst vernetzt. Seite 82 Unterwegs GEO-Reporter auf Recherche GEO 08 20176 1 Renault Captur Life ENERGY TCe 90: Fahrzeugpreis 4 14.329,– € inkl. Renault Flex Plus Paket 2 im Wert von 540 ,– €. Bei Finanzierung: Nach Anzahlung von 1.670,– € Nettodarlehensbetrag 12.659,– €, 24 Monate Laufzeit (23 Raten à 129,– € und eine Schlussrate: 9.692,– €), Gesamtlaufleistung 20.000 km, eff. Jahreszins 0 %, Sollzinssatz (gebunden) 0 %, Gesamtbetrag der Raten 12.659,– €. Gesamtbetrag inkl. Anzahlung 14.329,– €. Ein Finanzierungsangebot für Privatkunden der Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Gültig bis 31.08.2017. Renault Captur ENERGY TCe 90: Gesamtverbrauch (l/100 km): innerorts: 6,0; außerorts: 4,5; kombiniert: 5,1; CO 2 Renault Captur: Gesamtverbrauch kombiniert (l/100 km): 5,6–3,6; CO 2-Emissionen kombiniert (g/km): 127–95 (Werte nach Messverfahren VO [EG] 715/2007). 2 2 Jahre Renault Neuwagengarantie und 3 Jahre Renault Plus Garantie (Anschlussgarantie nach der Neuwagengarantie) für 60 Monate bzw. 50.000 km ab Erstzulassung gem. Vertragsbedingungen. 3 Enthalten ist ein Renault Wartungspaket, welches alle Kosten der vorgeschriebenen Wartungsarbeiten für die Vertragsdauer (60 Monate bzw. 100.000 km ab Erstzulassung) gemäß Vertragsbedingungen umfasst. Gültig für Privat-/ und Kleingewerbe- kunden, für Kaufanträge bis 31.07. 2017 . 4 Abb. zeigt Renault Captur Intens mit Sonderausstattung. Renault Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl. Renault CAPTUR SUV à la Renault Der neue 0 % Finanzierung 1 inkl. 5 Jahren Garantie 2 5 Jahre Wartung gratis 3 A U S G A B E J U N I 2 0 1 7 Titelthema Drogen Ich kann bestätigen, dass die gele- gentliche Einnahme von Drogen für einen Erwachsenen nach meinen Wissen keine negativen Begleiterscheinungen hat. Als Rucksackreisender in Asien habe ich in Nepal das Rauchen mit Lungenzug ge - lernt, bin aber dennoch kein Raucher ge- worden. Später habe ich auch versehent- lich eine etwas zu große Menge Haschisch gegessen (ich hatte keine Erfahrung), bin aber in keiner Weise süchtig geworden. Dann auf Bali habe ich Pilze zu mir genommen. Ein wunderschöner Rausch. Gern denke daran zurück. In Deutschland habe ich nie das Verlangen gehabt, es zu wiederholen. Nur muss ich dazu auch er- wähnen, dass junge Menschen bei einem starken Drogenkonsum offenbar Schäden erleiden können. In Tanger traf ich mal eine junge Frau, die hatte starke Wahn- vorstellungen, nachdem sie als 16-Jährige einen knappen Monat im Rif-Gebirge in Marokko gewesen war und dort jeden Tag ihren Rausch gehabt hatte. Eckar t Tardeck , v ia E-Mai l Warum heißt Zopf »Zopf«? Sie brauchen gar nicht weit herum in Fremdsprachen zu suchen. In der Schweiz war dieses Wort als Haarschopf mindes- tens in den 1960er und 1970er Jahren gang und gäbe. Und zwar quer durch die Gene- rationen. Wir sagten damals im Bündne - rischen Schweizerdeutsch-Dialekt: „Läck, hät da an Zopf!“ Ins Deutsche übersetzt: „Junge, Junge, hat der Haare!“ beziehungs- weise „eine Mähne!“ oder „einen Haar- schopf!“ Es ging dabei immer um die damals moderne wallende Hippie-Haar - pracht und wurde vor allem auf Männer angewandt. Deren langes Haar war ja da- mals völlig neu! Da diese Haarmode, wie für Mode üblich, gelegentlich verschwand, verschwand auch das Wort wieder. Br ig i t ta Helena F ischbacher , v ia E-Mai l Zum Beitrag über das Stottern eine Anmerkung und Frage. Ich vermisste dar- in eine Beschäftigung mit folgendem Phä- nomen: Man kann einen Text lesen, als ob man einen Vortrag hält, also durchaus mit Betonungen, Verzögerungen, bewusst ein- gesetzten Pausen, um ein Publikum zum Nachdenken zu bewegen. Ja, auch Melo- dien sind möglich – alles ohne einen Sprachmuskel zu bewegen und sich selbst durch den Ton des laut Gesprochenen quasi selbst zu kontrollieren oder dem Wort seinen Weg zu bahnen (wie im Text angedeutet, könnte eine winzige Zeitver- zögerung zwischen Hören und Sprechen A U S G A B E M A I 2 0 1 7 Thema Stottern Danke, Vivian Pasquet und Olaf Ble- cker, für den wunderbaren Artikel über das Stottern, das war Balsam für meine Seele. Ich fand mich sofort wieder in ihren Wor - ten und Wahrnehmungen. Mein Stottern begann mit acht Jahren und wurde damit abgetan, dass eine Tante auch ziemlich heftig stotterte. Ein ganzes Leben „trick - sen“ ist wirklich ziemlich anstrengend und mit sehr vielen Ängsten verbunden. Sogar geprügelt habe ich mich, weil ein Nach- barsjunge mich hänselte wegen des Stot- terns. Dafür bekam ich noch Strafe oben- drauf. Im Laufe der Zeit entwickelte ich Witz und Charme, um vom Stottern ab - zulenken. Die Bilder zeigen, wie einzigar- tig schön 800 000 Menschen in Deutsch - land sein können ... Chr is ta Diedr ich , v ia E-Mai l Ihr Artikel hat mir sehr gefallen. Habe mich sehr oft darin wiedergefunden. Ich habe 1987 nach dem Abitur ein halbes Jahr stationäre Therapie nach dem Mon - terey Fluency Program gemacht und hin - terher auch nie wieder öffentlich so gespro- chen. Das Einzige, was half, war meine Ertaubung zehn Jahre später. Keine Sym- ptome mehr! Als ich dann Cochlea-Im - plantate bekam, kamen aber auch die Symptome wieder. Na ja, man kann nicht alles haben. Ral f Janowsky, v ia Facebook »Ich danke Ihnen für das ansprechende Titelbild der Juni-Ausgabe. Ich bin für die Legalisierung von Hanf! In Israel wird Hanf aus medizinischen Gründen schon in Seniorenheimen eingesetzt« M I C H A E L A W A L T E R , V I A E - M A I L Drogen wie Hanf sind auch Heilpflanzen. Daher kämpfen Ärzte gegen das Totalverbot GEO 08 2017 Resonanz Ihre Briefe und E-Mails an GEO 8 Dienstreise Für die,die anders ticken. ProMare Chronograph Wir von Nautische Instrumente Mühle-Glashütteticken ein klein bisschen anders: Ein matschiger Waldweg, zwei Räder unterm Hintern, drei Kilometer Abstand zur nächsten Straße – das klingt für uns nach der idealen Dienstreise. Geht es Ihnen manchmal auch so? Genau deshalb fertigen wir Armbanduhren, die dies alles mitmachen. Besuchen Sie unsere Webseite unter: www.muehle-glashuette.de G E O L E S E R S E R V I C E A B O N N E M E N T - U N D E I N Z E L H E F T B E S T E L L U N G ANSCHRIFT: GEO-Kundenservice, 20080 Hamburg E-Mail: geo-service@guj.de PERSÖNLICH ERREICHBAR: Mo. bis Fr. 7.30 bis 20.00 Uhr, Sa. 9.00 bis 14.00 Uhr TELEFON INNERHALB D: 040 / 55 55 89 90 Telefon außerhalb D: +49-40 / 55 55 89 90 Telefax: +49-1805 / 861 80 02* GEO-KUNDENSERVICE: www.GEO.de/kundenservice PREISE JAHRESABONNEMENT: 90 € (D) | 99 € (A) | 156 sfr (CH) Preise für weitere Länder auf Anfrage erhältlich B E S T E L L U N G V O N G E O - D V D S , K A L E N D E R N , B Ü C H E R N E T C . GEO-Kundenservice, 74569 Blaufelden Hotline-Telefon: 040 / 42 23 64 27 Hotline-Telefax: 040 / 42 23 66 63 E-Mail: guj@sigloch.de F R A G E N A N D I E R E D A K T I O N Telefon: 040 / 37 03 20 73 Telefax: 040 / 37 03 56 48 E-Mail: briefe@geo.de * 0,14 Euro/Min. aus dem deutschen Festnetz Bevölkerung bei. GEO sollte unbedingt auch in Schulen als Unterrichtsmaterial ver wendet werden! Übrigens: Das verbrei- tete Schädlingsbekämpfungsmittel Lizetan von Bayer darf noch immer als „nicht bie- nengefährlich“ beworben werden – obwohl es Thiacloprid, ein Neonicotinoid, enthält. Bayer klagte sogar gegen den Umweltver- ein BUND auf Unterlassung der Bezeich - nung ihrer Produkte als „bienengefährlich“ – und verlor. Unglaublich, wie ein Konzern, geleitet von marktwirtschaftlichen Inter- essen, so kurzsichtig agieren kann. Sebas t ian S teh le , v ia E-Mai l eine Ursache für das Stottern sein). Wie funktioniert dieses innerliche Sprechen bei einem Stotterer? Chr is t ian Hol land , v ia E-Mai Anmerkung der GEO-Redakteurin Vivian Pasquet: „Gedanken stottern glück- licherweise nicht – Vorträge still einzu- üben gelingt Stotternden deshalb fließend. Selbst laute Selbstgespräche sind möglich. Ein Hinweis darauf, dass Sprechen manchmal leichterfällt, wenn die Anfor- derungen niedriger sind.“ Wald Nach Fichten-Monokulturen schaf - fen wir nun Rotbuchen-Monokulturen. Der ALB (Asiatische Laubholzbockkäfer), mit Verpackungsholz als blinder Passagier aus China eingeführt, wird noch als Qua - rantäne-Schädling eingestuft. Dort, wo er gesichtet wird, wird alles entlaubt. Fr i tz Ponschab , Wet t s te t ten A U S G A B E M Ä R Z 2 0 1 7 Insektensterben Etwas verspätet möchte ich mich noch für den ausgezeichnet recherchierten, gut geschriebenen (und bebilderten!) Ar- tikel über das wichtige Problem des Insek- tensterbens bedanken. Im Vergleich zu inzwischen weit bekannten Bedrohungen wie Atomkraft und CO 2-Emissionen fris- ten die Neonicotinoide wohl noch immer ein mediales Schattendasein. GEO trägt durch kritischen, fundierten Qualitätsjour - nalismus immer wieder zur Aufklärung der An einem stürmischen Maitag gelang Leonhard von Guggenberg aus Oberbozen diese stimmungsvolle Aufnahme vom Völser Weiher in Südtirol. Mitmachen: geo.de/leserfoto »Ines Possemeyers Artikel über den Wanderalbatros hat mich sehr berührt. Wundervoll geschrieben!« J O H A N N A S T O L L , V I A E - M A I L GEO 08 201710 DAS LESERFOTO DES MONATS www.comdirect.de Millionen Deutsche sparen ihr Erspartes kaputt Zeit, das zu ändern. Mit cominvest, dem digitalen Anlageservice von comdirect. • Klassisches Sparen hat ausgedient – legen auch Sie Ihr Geld in Wertpapieren an • Mit cominvest unterstützen wir Sie – von der Vorauswahl der Wertpapiere bis hin zur kompletten Betreuung Ihrer Geldanlage • Schnell, einfach und bequem online Informieren Sie sich unter: www.deutschland-bankt-neu.de GEO 08 201712 KOSMOS Die Welt in Bildern Unterwegs in einer indischen Sari-Fabrik, bei Tölpeln vor den Shetlandinseln, am Vulkan Bromo auf Java und bei Schlangenbändigern in Italien I N D I E N Im Griff 800 Meter lang sind die Stoffbahnen dieser Sari-Manufaktur in Sanganer im indischen Bundesstaat Rajasthan. Damit sie nach dem Färben trocknen können, werden sie in Schlaufen über ein mehrere Meter hohes Gestell aus Bambus gehängt. Später werden sie zu Tüchern von etwa sechs Meter Länge zerschnitten: Viele Frauen in Indien tragen Saris noch heute als Alltagsgewand 13 GEO 08 201714 S C H O T T L A N D Sturzflug ins Getümmel Wenn sich Basstölpel auf der Jagd nach Fisch ins Meer stürzen, erreichen sie Geschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern. Der britische Meeresbiologe smith studierte das Verhalten der Meeresvögel fünf Jahre lang. Nur mit viel Geduld und Glück gelang ihm diese Nahaufnahme einer Gruppe von Tölpeln im Streit um Futter – unter Wasser vor den Shetland inseln 15 16 I N D O N E S I E N Im Schatten des Feuers Einmal im Jahr erklimmen Einheimische den Kraterrand des Vulkans Bromo auf der Insel Java: Zum Yadnya Kasada, einem hinduistischen Opferfest, werfen sie Reis, Früchte, Tiere und Geld in den Schlund des Vulkans, um die Götter zu besänftigen. Dennoch brach der Bromo 2016 über raschend aus und schickte seine Asche mehr als 1000 Meter hoch in den Himmel. Immerhin: In Gefahr geriet dabei niemand GEO 08 2017 17 I T A L I E N Geliebte Nattern Für eine Prozession tragen die Bewohner des italienischen Ortes Cocullo Schlangen herbei, um damit die Statue des heiligen Dominikus zu behängen. Er gilt in den Abruzzen als Schutzpatron der Bauern und Schäfer, angeblich soll er einen Drachen bezwun- gen haben. Jedes Jahr im Mai ehren ihn die Menschen daher mit einem Schlan - genfest. Danach werden die Tiere wieder ausgesetzt GEO 08 201718 19 Jetzt im Handel. Das Extra für besondere Reisen. Aktualisierte Neuauflage Die Kinder tragen den roten Stern auf der Mütze, singen patriotische Lieder und heben beim Fahnenappell die Faust nas eröffnen „Rote Armee Schulen“. Dort werden Grundschüler im Sinne der kom munistischen Führung ausgebildet: Sie erhalten Unterricht in „Roter Kultur“. Landesweit gibt es bereits mehr als 200 dieser Schulen. Kinder lernen dort, stolz auf ihr kommunistisches Erbe zu sein. Dazu studieren die Grundschüler die Geschichte der chinesischen Volksbefrei ungsarmee: Während des sogenannten Langen Marsches flohen in den 1930er Jahren kommunistische Kämpfer vor den nationalistischen Truppen Chinas. Inner halb eines Jahres legten sie 12 000 Kilo meter durch unwegsames Gelände zurück. Etwa 90 Prozent der Soldaten starben oder desertierten bei den Gewaltmärschen. Dem späteren Diktator Mao Zedong ebnete der Lange Marsch den Weg an die Macht. In den Rote Armee Schulen wird die verlustreiche Militäroperation zum Heldenmythos verklärt: Kinder feiern die Soldaten in Gedichten und Aufsätzen. Vor zehn Jahren entstanden die ersten dieser Schulen, gegründet meist von Nach fahren der damaligen Kämpfer; oft Mit glieder der oberen Politkaste. Sie wollen, in einer Zeit der rasanten Modernisierung des Landes, die Erinnerung wachhalten an die Entbehrungen. C H I N A Kleine Kinder, großer Führer Ganz alte Schule: In China lernen Grundschüler, stolz auf ihr kommunistisches Erbe zu sein – an eigens dafür eröffneten Rote-Armee-Schulen Für die Schüler sei der »Geist der Roten Armee« ein echter Gewinn, sagt ein Schul- leiter: »Er lehrt sie, hart zu arbeiten und genügsam zu sein« GEO 08 2017 Horizonte Unterwegs inder Welt 21 Frischer Tilapia? In Berlin kein Pro- blem. Dort kommt der Speisefisch bereits wenige Stunden nach seinem Fang in die Kühltheken der Stadt. Denn der Bunt - barsch stammt aus einer Aquafarm, die im Zentrum der Metropole belegen will, dass sich Fischzucht auch nachhaltig gestalten lässt: Die Öko-Farm im Bezirk Schöne - berg produziert nicht nur 30 Tonnen Fisch pro Jahr, sondern düngt mit den Ausschei- dungen der Tiere auch noch die Beete des firmeneigenen Gewächshauses. Darin ge- deihen Tomaten, Kräuter und Salat. Aquaponik heißen derartige Farmsys- teme: Fischzucht und Gemüseanbau wer - den dort parallel betrieben. Spezielle Filter, die mit Bakterien besetzt sind, reinigen dabei das Brauchwasser der Tiere und wan deln deren Ausscheidungen in Pflan- zendünger um. Das gereinigte Wasser fließt zurück zu den Fischen in die Becken. Der Bedarf an Frischwasser wird so drastisch gesenkt: Forscher des Leibniz- Instituts für Gewässerökologie und Bin- nenfischerei haben eine Anlage entwickelt, die täglich nur drei Prozent des Wassers ersetzen muss – weltweit ist sie damit technisch führend. Gleichzeitig schonen die neuen Fischfarmen die Natur, weil sie keinen Tierkot mehr in die Umwelt ablei - ten. Klassische Aquakulturen gelten auf- grund ihres Abwassers dagegen als ökolo- gisch bedenklich. Städte und Kommunen anderer Län - der holen sich Rat bei den Entwicklern in Deutschland: Ähnliche Fischfarmen ent - stehen nun zum Beispiel auch in China, Belgien, der Schweiz und Spanien. Angeln und Ernten unter einem Dach Aquafarmen gelten als Dreckschleudern in Meeren und Flüssen. Doch nun entstehen in immer mehr Großstädten nachhaltige Anlagen: Sie produzieren nebenbei auch noch Gemüse Ab sofort haben viele südkoreanische Supermarktkunden die Wahl: Sie können sich ihr Wechselgeld in barer Münze auszahlen oder den entsprechenden Betrag auf Prepaid-Karten buchen lassen – mit denen können sie dann zum Beispiel Tickets im öffentlichen Nahverkehr lösen. Ist das Pilotprojekt, das bisher nur in ausgewählten Märk- ten läuft, erfolgreich, will die koreanische Zentralbank auch Wechselgeldbuchungen direkt auf private Bankkonten zulas- sen. Laut einer Umfrage der Zentralbank tragen zwei Drittel der Südkoreaner ohnehin kein Kleingeld mehr am Körper, zudem unterstütze die Hälfte der Befragten die komplette Abschaffung aller Münzen. S Ü D K O R E A KLEINGELD? SO GUT WIE ABGESCHAFFT Die südkoreanische Nationalbank will alle Münzen abschaffen. Gezahlt wird mit ihnen sowieso kaum noch Die Produktion der Münzen kostet den südkoreanischen Staat pro Jahr umgerechnet etwa 42 Millionen Euro. Dieser Aufwand stehe nicht im Verhältnis zum Gegenwert der Mün - zen, so die Nationalbank. Die kleinste koreanische Münze ist zehn Won wert, etwa 0,008 Eurocent. Und der kleinste korea - nische Schein entspricht nur knapp acht Eurocent. Nur noch Spielgeld? Kinder in Seoul zwischen Riesenplastikmünzen Nachhaltig und vorbildlich: Fischzucht und Tomatenanbau in einem GEO 08 2017Horizonte22 N A C H H A L T I G K E I T * One-way Komplettpreis inkl. Steuern und Gebühren. Condor Flugdienst GmbH, Condor Platz, 60549 Frankfurt am Main ab € 27999 * nonstop Der Flug der Karibik. Wenn fliegen, dann besonders. Mit 150 Stundenkilometern in die Kurve: Wer zum ersten Mal Bilder von einem Drohnenwettkampf sieht, dem wird schwindelig. Die kleinen Fluggeräte haben einen Parcours zu meistern, der aus engen Gängen, steilen Schächten und überraschend auftauchenden Hindernissen besteht. Spektakuläre Crashs gehören mit zur Show. Drohnenrennen entwickeln sich zum Massensport. Ende Juli wird das Finale der Weltmeisterschaft aus London in 75 Länder über- tragen. Online oder am Fernsehgerät verfolgten im vergangenen Jahr 73 Millionen Menschen allein die Wettkämpfe der Drone Racing League, der ersten Profiliga für Drohnenpiloten. Sie wurde vor zwei Jahren in den USA als Privatunternehmen gegründet und vermark - tet seitdem die neue Sportart als globales Medienereignis. Die Drohnen werden eigens für die Rennen entwickelt und sind besonders bruchfest. Kameras liefern Flugvideos in HD-Qua - lität für die Zuschauer. Dem Piloten am Boden senden sie Live-Auf - nahmen in geringerer Auflösung auf spezielle Brillen. Nun will das Unternehmen Wettkampfdrohnen für Kinder entwickeln – so wäre auch für Nachwuchssportler gesorgt. U S A JETZT AUCH FÜR PROFIS: DROHNENRENNEN Millionen Fans verfolgen Wettkämpfe der Mini-Fluggeräte Nur an der Farbe zu unterscheiden: In der Drohnenliga treten alle Piloten mit iden- tischen Modellen an Auf den ersten Blick erinnert die Szene an eine Schneiderei; allerdings halten die Frauen Lötkolben, Zangen, Drähte und elektronische Schaltkrei se in den Händen – denn sie werden gerade in einer Zukunftstechnologie des 21. Jahrhunderts geschult. sthan im Nordwesten Indiens lernen Frauen aus der ganzen Welt jeweils sechs Monate lang, wie man Solarmo dule installiert und wartet. Mit diesem Wissen sollen sie an schließend ihre Familien und Gemein den mit günstigem Strom versorgen, I N D I E N SOLAR FÜR DIE WELT In einem Bildungszentrum in Rajasthan lernen arme Frauen aus aller Welt, Solar anlagen zu montieren . Das bewirke mehr, als Ingenieure in die Provinz zu schicken, gl a ubt man dort unabhängig von staatlicher Infrastruk tur. Oder, wie es in der Selbstbeschrei bung des Colleges heißt: „Wir bilden Frauen aus, die Licht und Bildung in ihre Dörfer tragen.“ Gegründet wurde das Zentrum für Sozialarbeit und Forschung, wie sein offizieller Name lautet, bereits vor 45 Jahren. Zu Beginn lag der Fokus noch auf Techniken der Wasserversor 2 1 3 1 Eine Frau baut einen elektrischen Schaltkreis zusammen 2 Konsequent bis ins Detail: Im »Barefoot College« wird ausschließlich mit Sonnenenergie gekocht 3 Aus diesem Klotz soll ein Solar-Backofen entstehen GEO 08 2017Horizonte24 ERLEBEN SIE DIE ARKTIS IN JEDEM STECKT EIN ENTDECKER Jetzt gratis Katalog bestellen: www.hurtigruten.de/kataloge Hurtigruten GmbH · Große Bleichen 23 · 20354 Hamburg — Und Spitzbergens wahre Herrscher. der norwegischen Arktis. Begegnen Sie ihrem König: 3.000 Eisbären leben hier – mehr als es Menschen gibt. Erleben Sie die Natur so nah wie möglich, an Bord von Hurtigruten, Willkommen an Bord! hu tte rst oc k gung. Sein Erfinder, der indische Bil- dungsaktivist Sanjit „Bunker“ Roy, möchte „mit dem College zeigen, wie öffentliche Bildungseinrichtungen an Bedürfnissen der Menschen vorbei arbeiten“, sagt der heute 71-Jährige. Denn es genüge nicht, ausschließ- lich Eliten auszubilden, die ihren Hei - matländern womöglich den Rücken kehrten. Stattdessen müsse man auch einfache Menschen in die Lage ver- setzen, sich selbst zu helfen. Deswegen setzt das Barefoot Col- lege auf eine niedrigschwellige Aus- bildung: Unterrichtet wird in erster Linie in Zeichensprache, das soll Sprachbarrieren überwinden. Teilneh- men können Frauen jeden Alters. So haben seit den 1990er Jahren auch rund 150 Großmütter aus 28 Ländern die Solar-Trainings durchlaufen. Die Stipendien der Frauen werden unter anderem von der indischen Regierung übernommen. Insgesamt sind durch das Projekt bereits 1300 Dörfer mit Solaranlagen versorgt worden. Dass er ausschließlich Frauen ausbilde, hat einen Grund, verrät Bun- ker Roy: Männer seien rastlos. Sobald sie einen Abschluss in der Hand hiel- ten, wollten sie ihr Dorf verlassen und einen Job in der Stadt finden. Frauen dagegen seien eher geneigt, die Pro- ble me vor Ort zu lösen. Fo tos : J or di Pi za rro 4 5 4 Sechs Monate dauert die Ausbildung; unterrichtet wird per Handzeichen – das überwindet Sprachbarrieren5 Nach der Ausbildung sollen die Frauen in ihren Dörfern Solaranlagen konstruieren und selbstständig warten GEO Vorteilsabo Christoph Kucklick, Chefredakteur GEO Von großen Veränderungen und kleinen Visionen. Jetzt GEO frei Haus lesen oder verschenken und attraktive Vorteile sichern. GEO ist Deutschlands größtes Reportage-Magazin: neugierig und offen, berührend und engagiert. Sehen Sie die Welt mit anderen Augen. Herzlichst Ihr WUNSCH-PRÄMIE ZUR WAHL Zur Begrüßung als Dankeschön. JEDERZEIT KÜNDBAR Nach Ablauf des 1. Jahres. BEQUEM Kostenlose Lieferung nach Hause. EXKLUSIVE RABATTE Nur für unsere Abonnenten: – eUpgrade: Unterwegs digital lesen, für nur 1,– € pro Ausgabe zusätzlich. Mehr unter www.geo.de/eUpgrade – GEOcard: Bis zu 50 % Ersparnis bei allen GEOcard-Partnern unter www.geo-card.de – GEO-Welt: 10 % Ersparnis auf alle GEO-Wandkalender u. v. m. unter www.geo.de/rabatte Dies ist ein Angebot der Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. Belieferung, Betreuung und Inkasso erfolgen durch DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Nils Oberschelp (Vorsitz), Christina Dohmann, Dr. Michael Rathje, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, als leistenden Unternehmer. + + + + online mit noch mehr Angeboten: www.geo.de/abo per Telefon (bitte die Bestell-Nr. angeben): selbst lesen: 159 8607 / verschenken: 159 8608 / als Student lesen (exkl. Prämie): 159 8609 + 49 (0) 40 / 55 55 89 90 1 Jahr GEO-Magazin für nur 90,– € bestellen – Karte abschicken oder PRÄMIE zur Wahl 2. GEO-Bestseller Informativ und spannend. • „Die Heilkraft der Sonne“ • „Zucker – der süße Konfliktstoff: Wie gefährlich ist er?“ Ohne Zuzahlung 4. Wetterstation „Frame“ Das Wetter auf einen Blick. • Uhr, Alarmfunktion, Hygro- und Thermometer • Mit massivem Echtholzrahmen • Maße: ca. 30 x 14,5 x 4,5 cm Zuzahlung: nur 1,– € 5. HALFAR Rucksack „Urban“, dunkelblau Moderner Notebook-Rucksack in coolem Design. • Gepolstertes Hauptfach • Praktische Vortasche und 2 flache Einsteckfächer • Maße: ca. 32 x 41 x 15 cm Zuzahlung: nur 1,– € 3. Schraubendreher-Set, 49-teilig Ideal für jeden Heimwerker. • Inhalt: 4 Kreuzschlitzschraubendreher, 4 Schlitz - schraubendreher, 8 Feinmechaniker-Schrauben- dreher, 1 Bitadapter und 32 Bits Zuzahlung: nur 1,– € DANGER MINES Es war ein kurzer Krieg – mit dra- matischen Folgen. Am 2. April 1982 be- setzten argentinische Truppen die Falk- landinseln; nach nur 74 Tagen eroberte Großbritannien den Felsenarchipel vor der Küste Argentiniens zurück. Da waren 907 Menschen tot. Außer - dem hatte das argentinische Militär mehr als 20 000 Landminen auf den Inseln ver - graben, um die Gegenoffensive der Briten zu verschleppen. Weil viele der Spreng- sätze noch immer scharf sind, bleibt der Krieg bis heute sichtbar. Einige Küsten- abschnitte sind seit 35 Jahren abgesperrt und für Menschen nicht zugänglich. Das soll sich ändern. Experten aus Simbabwe haben im Auftrag der briti - schen Regierung seit 2009 bereits gut sieben Quadratkilometer von den Minen befreit. In einigen Jahren sollen mehr als 70 Sperrzonen vollständig geräumt sein. Doch jetzt regt sich Protest gegen die bereits angelaufene „Phase 5“ der Räu- mung – von Naturschützern. Denn aus einigen der Kriegsgebiete von einst sind mittlerweile faktisch Natur- reservate geworden. Als besonderes wert- volles Ökosystem gilt ausgerechnet jener Küstenabschnitt, an dem die argentini- schen Truppen einst zuerst landeten: In der Yorke Bay wachsen wieder viele der auf den Inseln ursprünglich heimischen Pflanzen. Außerdem verbringen seit Jahr- zehnten Kolonien von Magellan- und Eselspinguinen die Sommermonate in der Bucht. Ihr Gewicht von höchstens 7,4 Ki- logramm reicht nicht aus, um die Minen zur Detonation zu bringen. In deren Schutz sind die Pinguin-Po - pulationen auf Rekordzahlen angewachsen. Nun könnte der Lebensraum der Vögel durch die Minenräumung zerstört werden. Da müsse man abwägen, findet Paul Brickle, Direktor des South Atlantic Envi- ronmental Research Institute: „Was würde es bringen, wenn man diese Minen heute entfernt?“ Zwar ist kein Zivilist je durch eine der Minen verletzt worden. Und den rund 3000 Bewohnern der Inseln wäre es auch lieber, die Sprengsätze blieben, wo sie sind. Das behauptet jedenfalls eine Abgeordne- te des Lokalparlaments. Aber mit ihrem Beitritt zum Abkommen von Ottawa hat - te sich die britische Regierung 1997 ver- pflichtet, alle Minen auf ihren Territorien zu räumen. Die Folgen einer Räumung wären gravierend. Weil viele Sprengkörper nicht mehr exakt dort liegen, wo die Argentinier sie auf ihren Karten einst eingezeichnet hatten, müsste die gesamte Dünenland - schaft vielleicht sogar mit gepanzerten Ma- schinen umgegraben werden. Dann wäre das Ökosystem zerstört – und der Krieg hätte die Bucht nach über 30 Jahren doch noch in ein Trümmerfeld verwandelt. F A L K L A N D I N S E L N PARADIES IM MINENFELD In gesperrten Strandabschnitten auf den Falklands leben Tausende Pinguine. Ihr Lebensraum ist bedroht – denn die Sprengsätze müssen geborgen werden In der Yorke Bay landeten einst argentinische Truppen, heute geht es friedlicher zu GEO 08 2017Horizonte28 Vor zwei Jahren studierte die Niederländerin Marije de Groot, heute 23, in Istanbul. Nach dem Semester brach sie mit zwei Freunden von Antalya aus auf eine Wanderung auf. Doch schon am ersten Tag kamen sie von der Strecke ab. GEO: Frau de Groot, wie ist das passiert? MARIJE DE GROOT: Es war ein schöner Tag, wir waren am Strand und sind spät aufgebrochen. Irgendwann war es komplett dunkel, und wir konnten die Lichter unseres Zielorts immer noch nicht ausmachen. Da haben wir eine dumme Entscheidung getroffen. Sieben Tage lang verschollen Es war keine schwierige Route. Doch eine einzige falsche Entscheidung kostete drei Erasmus- Studenten beim Wandern in der Türkei beinahe das Leben Was haben Sie getan? Wir sahen die Lichter eines Dorfes am Strand und dachten: „Das Meer ist nah, wir schlagen uns zur Küste durch.“ Doch irgend- wann ging es nicht weiter, der Weg endete an einem Abgrund. Wir übernachteten dort, im Freien. Und fanden nicht mehr zurück? Am nächsten Tag fing es an zu regnen. Sehr heftig und sehr lang. Auf einmal verwandelte sich das leere Flussbett, an dem wir uns orientiert hatten, in viele kleine Flüsse, die in unterschiedliche Richtungen liefen. Ab diesem Moment hatten wir uns verirrt, außerdem war es sehr kalt. Wir suchten in einer Höhle Schutz. Wie lange blieben Sie dort? Zwei oder drei Tage, genau kann ich es nicht sagen, die Zeit verschwimmt, wenn ich zurückdenke. Irgendwann merkten wir: Wenn wir hier sitzen bleiben, kommen wir nie mehr nach Hau - se. Wir liefen los, versuchten, auf höher gelegene Punkte mit Handy-Empfang zu gelangen. Wann spürten Sie zum ersten Mal Hunger? Vor allem am dritten Tag fühlte ich mich schwach und hungrig, danach ging es merkwürdigerweise besser. Vielleicht merkte ich, wie nutzlos es war, mich auf den Hunger zu konzentrieren. Ich habe auch immer wieder eine Art wilde Bohnen gegessen. Mehr Essbares gab es nicht? Ich vertrug die Bohnen gut, deshalb bin ich bei ihnen geblieben. Einem meiner Freunde wurde von ihnen übel, er hat dann In - sekten gegessen. Wasser gab es zum Glück genug. Woher wussten Sie, wie man sich in der Wildnis verhält? Ein paar Tricks kannten wir aus Überlebenssendungen aus dem Fernsehen. Wir urinierten in Flaschen, um uns an ihnen zu wär - men. Und ich hatte irgendwo aufgeschnappt, dass der Mensch sieben Tage ohne Nahrung auskommen kann. Das hat mir Mut gemacht. Wie wurden Sie gerettet? Am siebten Tag probierten wir ein letztes Mal unsere Telefone. Eigentlichwaren die Akkus längst leer, doch wie durch ein Wun- der funktionierte eines trotzdem. Wir beschrieben die Gegend, alles, woran wir uns erinnern konnten. Am nächsten Tag wurden wir entdeckt und per Seil in einen Hubschrauber gezogen. Dachten Sie an einem Punkt auch einmal: „Wir schaffen es nicht mehr zurück“? Ja, vor allem am Ende. Da halluzinierten wir schon, ich hörte Menschen singen und verstand erst nach Stunden, dass das über - haupt nicht möglich war. Doch immer, wenn einer nicht mehr konnte, haben die beiden anderen ihn wieder aufgebaut. Ich glaube, das hat uns gerettet. Am Ende ging das Abenteuer für Marije de Groot glücklich aus Au tor en K os mo s + H or izo nte : F erd ina nd D yc k, Je nn y N ied ers tad t GEO 08 2017Horizonte30 W I E W A R ’ S ? Mehr spannende Geschichten auf www.kfw.de/stories kfw.de zur Datenautobahn? Die KfW fördert die Digitalisierung. In den Jahren 2013 bis 2015 haben 83 % der deutschen Mittelständler Digitalisierungsprojekte durch- geführt. Als eine der weltweit führenden Förderbanken unterstützt die KfW Unternehmen bei der Digitalisierung – z. B. bei der Industrie 4.0. Denn automatisierte und digital vernetzte Systeme fördern nachhaltig zu verbessern. Mehr erfahren: www.kfw.de/stories/digitalisierung Das Aïr-Gebirge: Wer hier herrscht, kontrolliert die Routen für Migranten, Schmuggler, Abenteurer. Weil sich Islamisten in der Region breitmachen, bauen die USA nun einen Drohnenflughafen. Wird der Sahel bald zum Schlachtfeld? Ein Mann stellt sich der drohenden Eskalation entgegen Der Friedenssucher in der Wüste N I G E R Text: Michael Stührenberg, Fotos: Christopher Pillitz Rhissa Feltou, Bürgermeister von Agadez, kontrolliert die Lage im Aïr-Gebirge. In der glutheißen Gegend haben sich früher Aufständische verschanzt, etwa der Tuareg - führer Mano Dayak, dessen Sohn Mawli, ganz in Weiß, nun den Bürgermeister begleitet 32 GEO 08 2017 33 Als Rhissa Feltou im Wadi Tiden ankommt, einem Trockental im Aïr-Gebirge, wird er von den Tuareg mit Gastfreundschaft empfan - gen. Doch er kann sich der Unterstützung der Nomaden nicht sicher sein. Sie haben in seinem Kampf gegen Schmugg ler viel zu verlieren GEO 08 201734 35 Vor wenigen Jahren verdienten die Einwohner von Agadez gut an den Migranten. Seit die EU den Kampf gegen Menschen - schmuggler unterstützt, suchen manche neue Geldquellen: Sie machen sich auf in die Wüste, um dort nach Gold zu graben GEO 08 2017 37 In der verwinkelten Altstadt von Agadez sind auch tagsüber Frauen in bunten Gewändern zu sehen. Vom fanatischen Islam, den die Salafisten-Brigaden in der Region propagieren, halten die meisten Bewohner der Stadt wenig GEO 08 2017 39 K Ö N N T E N H I E R R E B E L L E N Ü B E R L E B E N ? Rhissa Feltou, der Bürgermeister von Agadez, blickt in die höllische Landschaft des Aïr: schwarze Kiesel, schwar- ze Felsbrocken, schwarze Berge – ein gewaltiger Back- ofen aus Basalt. Der Wind: so erfrischend wie der Hauch eines Schweißbrenners. 43 Grad heiß soll es an diesem Tag im Norden Ni- gers werden. 43 Grad im Schatten, doch davon gibt es keinen. Nicht ein Baum, so weit das Auge reicht. Nur hier und da ein Dornbusch von so kläglicher Belaubung, dass nicht einmal ein Wüstenfuchs unter ihm Schutz vor der Sonne suchen würde. Rhissa Feltou sieht aus, als hätte ihn ein zorniger Dschinn aus seinem Rathaus entführt und in diesem verbrannten Nichts ausgesetzt. Sein boubou, sein pfirsichfarbenes Gewand, lässt ihn doppelt so breit wie in Wirklichkeit erschei - nen, fast übernatürlich. Fährt der Wind darun - ter, bläht er den boubou auf wie einen Ballon. Als könnte der Bürgermeister jeden Augenblick davonfliegen. „Glaubst du, Rebellen könnten es hier aus- halten?“, wiederholt Rhissa Feltou seine Frage. Hier im Aïr, einem Gebirge größer als die Niederlande und Belgien zusammen? Kaum vorstellbar, sich in dieser Einöde durchzu- schlagen. Dennoch: Mit Unterstützung von Nomaden aus den Wadis, den Trockentälern der Sahara, könnten Aufständische sich tatsächlich in diesen Bergen einnisten. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Vor einem Vierteljahrhundert habe ich hier einige Zeit mit Tuaregrebellen verbracht, die einen aussichts- losen Kampf um ihre Unabhängigkeit ausfochten. Die Regierungstruppen wagten sich damals nicht ins Aïr- Gebirge. Manchmal näherten sie sich über die offene Sandwüste Ténéré, wo sie mit ihren Pick-ups und Panzerwagen im Notfall schnell die Flucht ergreifen konnten. Am Fuß der Berge angekom- men, feuerte die Armee mit Artillerie blind in die Richtung, wo sie unser Lager vermutete. Ver- gebene Mühe. Doch heute ist alles anders. Es gibt einen Grund dafür, dass wir uns an diesem brennend heißen Tag aufgemacht haben ins Aïr-Gebirge: Rhissa Feltou will sich einen Eindruck von diesem Terrain verschaffen, das schon bald wieder zu einem Schlachtfeld wer- den könnte. Denn in allen Ecken der Region sammeln derzeit die Islamisten Anhänger für ihre Truppen. Und am Stadtrand von Agadez baut die US Army nun, fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, eine riesige Mi- litärbasis, die – nach Dschibuti – vermutlich zweitgrößte in Afrika. Das investigative Internetportal „The Intercept“ meldet, in Agadez sollen Drohnen vom Typ MQ-9 Rea - per in Stellung gebracht werden. Niger ist demnach das einzige Land in Nordwestafrika, das der Stationierung dieser Reaper-Drohnen zugestimmt hat. Der Reaper, auf deutsch „Sensenmann“, ist eine flie- gende, unbemannte Kampfmaschine, ähnlich jener Pre- dator-Drohne, die über Pakistan Angst und Schrecken verbreitet. Nur tödlicher, mit längerer Reichweite. Ideal, um ein unwegsames Gebiet wie das Aïr-Ge- birge zu beherrschen. Ideal auch, um aus großer Höhe ein brennendes Streichholz in ein offenes Pulverfass zu werfen. K In der Mittagshitze entspannt sich Rhissa Feltou, der Bürgermeister von Agadez, im Hof seines Hauses. Seine Stadt, früher auch als Abenteuerspielplatz bei Sahara-Reisenden beliebt, rückt jetzt mehr und mehr in den Fokus der Weltpolitik GEO 08 201740 I I N D E R S A H E L Z O N E führt das Abendland heute Krieg an verschiedenen Fronten und be- nutzt dafür Namen, die friedlich klingen. Die Amerikaner, die ihr Areal in der Wüste jenseits des Internationalen Flughafens Mano Dayak für sich abgegrenzt haben, räumen allenfalls ein, „Aufklärungsflüge“ zu planen. Doch ihre Basis ist abgeschottet, und jeder Versuch, zum Droh- nenflughafen vorzudringen, scheitert an Mili- tärkontrollen. In der Stadt lässt sich kaum ein US-Soldat blicken. Auch die Europäer wirken hier in Agadez wie Ge- spenster, die im klimatisierten Geländewagen mit ver- riegelten Türen durch die Stadt fahren und dann darauf warten, dass sich das schwere Metalltor von EUCAP Sahel Niger für sie öffnet. Der Name bezeichnet eine vorgeblich „zivile Mission“ der Europäischen Union. Ihr Sitz in Agadez ähnelt jedoch eher einer Militär - festung: umgeben von einer hohen Mauer, be- wehrt mit rasierklingenscharfem Stacheldraht. EUCAP Sahel Niger bildet nigrische Sol - daten und Polizisten aus, damit diese in Agadez keine Migranten mehr aus Westafrika zum Mittelmeer durchlassen. Und damit sie Nigers Wüstengrenzen zu Algerien und Libyen unter Kontrolle bekommen. Dort werden ungestört Drogen geschmuggelt und Waffen. Es sind li- bysche Kalaschnikows und Panzerfäuste, die seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi 2011 in die Hände islamistischer Terroristen gelangen. Die Sahelzone droht zu einem Brandherd zu werden, wieder einmal. Bisher betrifft dies vor allem Mali, Nigers Nachbar-land im Westen. Dort starben bereits 118 Blauhelmsol- daten beim Versuch, den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen. Das macht Mali zur tödlichsten Friedens - mission der UN. Das 27 Meter hohe Minarett der Großen Moschee von Agadez, aus Lehm errichtet, überragt die Altstadt. Teile der über 500 Jahre alten Stadt stehen als Unesco-Weltkulturerbe unter Schutz. Seit Unruhen die Region erschüttern, kommen kaum noch Touristen GEO 08 2017 41( W E I T E R A U F S E I T E 4 4 ) GEO 08 201742 Eine Kamelkarawane hat sich aus dem Aïr-Gebirge aufge - macht nach Agadez. Die alten Handelsrouten haben noch Bestand, doch junge Tuareg zeigen wenig Neigung, sich den Dromedaren anzuver - trauen – sie suchen lieber das schnelle Geld, das sich mit Pick-ups verdienen lässt Sind die Drohnen aus Agadez also für die Islamisten in Mali bestimmt? In Pakistan haben die fliegenden US-Kampfmaschi - nen Hunderte Zivilisten getötet, ohne die Islamisten zu stoppen. Und wenn die Drohnen erst über dem Aïr-Ge - birge kreisen, werden sie dann auch die heiligen Krieger von al-Qaidas Sahara-Ableger AQIM ins Visier nehmen? Oder Boko Haram, das den Norden Nigerias, aber auch Gebiete im Niger terrorisiert? Werden sie für Ruhe sorgen – oder den Islamis- ten von Ansarul Islam noch mehr Zulauf ver- schaffen, jener neuen Terrortruppe in Burkina Faso, das vor Kurzem noch als eines der fried- lichsten Länder Afrikas galt? Agadez, einst ein verschlafener Grenzort zwischen Sahel und Sahara, wo fröhliche Tou- risten zu Jeep- und Motorradtouren in die Wüs - te aufbrachen, hat sich zu einem Brennpunkt der Weltpolitik entwickelt. Hier laufen strategi- sche Fäden zusammen, die in Washington, Pa- ris, Berlin und Brüssel gesponnen werden. Und deren lose Enden nun in der Hand eines Bür - germeisters baumeln, der sich nichts inniger wünscht als Frieden für seine geliebte Stadt. L L I E B E Z U A G A D E Z , das gebe ich zu, fällt einem Fremden heute nicht leicht. Ganz anders war dies vor 30 Jahren, als „Nigers Tor zur Wüste“ noch liebenswert ver- rückt erschien. Mit Originalen wie Abdelkader, den alle „Danger“ nannten. In seinem Schuppen am Markt bot er gebrauchte Ski und Snowboards zum Verkauf an. In der Hoffnung, dass ein Tourist Lust verspüren würde, die Bretter an den Dünenhängen der Ténéré auszuprobieren. Die Ausgelassenheit verzog sich mit Beginn der Tuaregrebellion Anfang der 1990er Jahre. Rhissa Feltou studierte zu jener Zeit Jura in Straßburg; dort wurde aus dem Nomadenjungen ein Mann von Welt: selbstsicher, charmant, voller Vertrauen in seine Fähigkeiten als glo- balisierter Nomade mit diplomatischem Geschick. Feltou kehrte aus Frankreich zurück, nahm seine Kinder und deren französische Mutter mit. Es hielt ihn nicht in Europa. Und er blieb auch, als seine Kinder und ihre Mutter 2007 in ihre Heimat zurückkehrten. Weil seine Sehnsucht nach Agadez stärker war. Seit sechs Jahren regiert er als Bürgermeister, und er wird nie müde, mir die Schönheit der wohl 500 Jahre alten Karawanen- kreuzung vor Augen führen zu wollen. Ein paar Tage vor unserem Ausflug in die Wüste zog er mich hinauf in die Spitze des Minaretts der Freitagsmoschee. Wie jedes Mal, wenn ich nach Agadez komme. Wir quetschten uns durch schmale Gänge und nied - rige Tunnel, streckenweise auf allen vieren. Rhissa Fel- tous prächtiger boubou war mit rotem Staub bedeckt, der Turban völlig verrutscht. Aufgeschreckte Fledermäuse waren uns ins Gesicht geflattert. „Weißt du, dass dieser Turm 27 Meter hoch ist?“, fragte Feltou oben, ohne die Antwort abzuwarten. Der Bürgermeister breitete die Arme über der bröckelnden Brüstung aus – wie ein morgenländischer Prinz, der das Reich zu seinen Füßen am liebsten um- armen würde. „Agadez!“, rief Feltou aus, „Hauptstadt der Tuareg!“ Aus der Minarettspitze konnte ich erken - nen, wie weit die Stadt in die Wüste ausgeufert war. Seit meinem letzten Besuch, scheint mir, ist die Bevölkerung hier explodiert. Wie viele Einwohner es nun wohl sind, 300 000? Viel- leicht noch mehr. Die meisten sind allerdings zugewanderte Hausa aus Nigers Süden. In der Hauptstadt der Tuareg sind die sesshaft gewor- denen Nomaden längst in der Minderheit. Architektonisch drückt sich Agadez in klobigen Quadern aus. In der Altstadt um die Moschee sind dies einstöckige, sieben, acht Meter hohe Häuser aus banco, einer Mischung aus Lehm, Pflanzenfasern und Kuhmist. Ganz Agadez lebt in den Farben des banco; je nach Sonnenstand leuchtet die Stadt hellbraun, ockergelb oder sanft rosafarben. Ihre Schönheit ist fragil: Unermüdlich arbeiten die Maurer gegen die Erosion der Stadt an, denn jede Regenzeit weicht den banco auf, rundet bedroh- lich die Kanten und Ecken der Quader, verdünnt deren Mauern und Flachdächer. Auf diese Flachdächer fliehen die Bewohner vor der Hitze der engen Gassen. Hier spielt sich nach Sonnen - untergang das Leben ab. A A M A B E N D N A C H U N S E R E R Minarettbesteigung bekam Rhissa Feltou auf seinem Flachdach Besuch von einem Mann, der seinen Namen nicht verraten will. „Dies ist nicht mehr unser Agadez“, beschwerte sich der Targi* bei seinem Bürgermeister. „Hier bestimmen jetzt die kufr.“ Was „Ungläubiger“ heißt, im Munde eines Targi jedoch Weiße schlechthin meint. „Seit die kufr hier das Sagen haben, sind wir Bettler!“ Wir lagen ausgestreckt auf Matratzen, die ein Karree um eine geflochtene Bastmatte bildeten. In deren Mitte stand der Feuerkorb mit glühenden Holzkohlen, darauf das obligate Teekännchen. Ein leichter Wind streichelte die Haut, über uns tauchten die ersten Sterne auf. Unten vor dem Haus parkte der Pick-up des Besu - chers. Jahrelang hatte dieser Wagen seinen Besitzer ernährt, beim Transport von Migranten durch die Wüs - te nach Libyen. Jeden Montagmittag war noch bis vor Die Tuareg sind die Wächter am Tor zur Wüste 44 GEO 08 2017*männl. Singularform von Tuareg ALGERIEN NIGER MAURETANIEN MALI BURKINA FASO SENEGAL ELFENBEIN- KÜSTE GHANA BENINGUINEA MAROKKO ITALIENSPANIEN LIBYEN TSCHAD NIGERIA Agadez Tamanrasset Gao Kano DirkouAïr Abidjan Tema zentrale und westliche Flüchtlings-Tuareggebiet Accra Ghat Sabha BengasiOuargla Lampedusa Sizilien Sardinien Sirte M i t t e l m e e r T é n é r é 500 km Niame Bamako Tripolis TunisAlgier Ouagadougou Lagos Conakry T u a r e g AQIM (al-Qaida) AQIM (al-Qaida) AQIM (al-Qaida) Ansar al-Scharia Islamischer Staat Islamischer Staat Boko Haram Boko Haram Ansarul Islam von militanten Gruppierungen MEHR ALS 330 000 MENSCHEN versuchten im Jahr 2016, über die Region Agadez nach Europa zu kommen – obwohl die Regierung von Niger Menschenschmuggel im Mai 2015 unter Strafe gestellt hatte. Daraufhin erhöhten sich vor allem die Preise für den Transport – und der Profit für die Schmug - gler. Die Logistik existiert seit Jahrhunderten: Einst zogen Kamelkarawanen durch die Wüste, um Gold und Sklaven nach Nordafrika zu bringen. Nun lässt sich auf dem Weg von Nigeria nach Libyen viel Geld mit Migranten verdienen. Bislang hat die EU den nigrischen Staat mit insgesamt 750 Millionen Euro unterstützt. Projekte für bessere Bildung und Infrastruktur sollen die Menschen zum Bleiben bewe - gen. Die Soldaten Nigers werden ebenfalls besser ausgebil - det – auch um das Land vor Terror zu schützen. Denn durch den Schmuggel gelangen Waffen zu Terrororganisationen wie al-Qaida und Boko Haram. Neben Perspektivlosig- keit sind die Islamisten für viele Menschen in der Region ein Grund für die Flucht nach Norden. Alessandra Röder Alte Routen, neue Handelsgüter Früher brachten die Karawanen Salz aus der Wüste nach Agadez; heutehaben sich etliche Nomaden auf den Schmuggel von Menschen und Waffen spezialisiert S A H A R A GEO-Grafik GEO 08 2017 45( W E I T E R A U F S E I T E 4 8 ) Eine schwer bewaffnete Militärpatrouille auf dem Weg ins Aïr. Auch viele Tuareg sind in der nigrischen Armee integriert. Sie gelten als loyal, auch im Kampf gegen Isla- misten. Was aber, wenn sich die Gewichte in einem Drohnenkrieg verschöben? GEO 08 201746 47 wenigen Monaten eine ansehnliche Flotte von Pick-ups aus dem Stadtzentrum gestartet. Vor den Augen aller, besonders der Polizisten und Zollbeamten, die vor dem Massenstart ihren Anteil kassierten. Bis 2016 waren jedes Jahr weit mehr als hunderttausend Westafrikaner – über - wiegend aus Nigeria, Ghana, Gambia und der Elfenbeinküste – über Agadez zum Mittelmeer gelangt. „Seit dem Verschwinden des Tourismus ha- ben wir Schleuser die Stadt ernährt!“, rief der frustrierte Transportunternehmer. Er rechnete mir seinen ehemaligen Gewinn im Dreisatz vor: 150 000 Francs CFA, also um- gerechnet 230 Euro pro Passagier. Bei 20 Migranten pro Wagen, multipliziert mit mindestens zwei Fahrten im Monat, machte das um die 10 000 Euro. „Und jetzt werden wir wie Verbrecher behandelt!“ Mehr als hundert seiner Kollegen säßen hinter Git - tern. Weil es nun dieses Gesetz gegen Schleuser gebe. „Und dahinter stecken die Ungläubigen!“ Das ist nicht zu bestreiten. Die ranghöchs - te kufr bei der Formulierung des Migrations- stopps ist Angela Merkel. Deutschland, so die Kanzlerin Anfang dieses Jahres auf einem EU- Gipfel in Malta, habe „mit dem, was wir in Agadez tun, sehr viel daran mitgearbeitet und arbeitet weiter daran mit, dass wir den Men- schen schon in Niger als Transitland wieder eine Perspektive geben und dort schon die illegale Migration bekämpfen“. Soll heißen: Die Europäische Union und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) geben Hunderte Mil - lionen Euro dafür aus, dass Niger seine Saharagrenzen dicht macht. „Migrationspartnerschaft“ heißt der Deal im EU-Jargon. Im Gegenzug verspricht Europa Finanz- und Wirt - schaftshilfe für Agadez und seine Region. Damit dort der Volkszorn nicht überkocht. Agadez wächst rasch; nicht einmal der Bürger- meister weiß, wie viele Bewohner heute in der Stadt leben. Neben den Tuareg, die hier sesshaft wurden, ziehen Menschen aus dem Migranten, die auf dem Weg nach Europa hängen bleiben GEO 08 201748 Aber wie lassen sich die fehlenden Einkünfte der Schleuser ersetzen? Eines Morgens stellte mir Rhissa Feltou seine neu gegründete Straßenfegerbrigade für ein sauberes Agadez vor. Finanziert wird sie von der EU, deren Sternenkranz auf Plakaten und Arbeitskitteln im Viertel um das Mi - narett leuchten. Der Bürgermeister erklärte, wo gefegt werden solle, wohin mit dem Dreck. Und an mich ge- wandt: „Das Ziel dieser Aktion ist es, Arbeitsplätze zu schaffen. Jeder Feger bekommt 2000 CFA pro Tag.“ Das sind umgerechnet drei Euro. Ob das ausreiche, um die Herzen der Stadt zu gewinnen? In Agadez, meinte der Bürgermeister, sei auch das „recht viel Geld“. Für einen armen Altstadtbewohner vielleicht. Aber bestimmt nicht für einen Tuareg mit Pick-up und einer Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz. „Ich werde nicht mehr lange tatenlos hier herumsit - zen“, warnte der Besucher auf Rhissa Feltous Dach. Was er damit sagen wollte, blieb unserer Vorstel- lung überlassen. Die Alternativen zu seiner „Tatenlo- sigkeit“ sind hinreichend bekannt; im Wesentlichen gibt es vier: Der Schleuser kann weiter Menschen schmug- geln, nur mit höherem Risiko – nicht mehr von Agadez aus, sondern mit heimlicher Abfahrt am Wüstenrand. Kundschaft gibt es reichlich in den „Ghettos“, den Häusern für hängen gebliebene Migranten. Eine zweite Verdienstmöglichkeit für Ex- Schleuser sind Drogen- und Waffenschmuggel. Oder, drittens, die Goldsuche in der Ténéré- Wüste. Dort ähnelt Nigers Norden zunehmend dem Wilden Westen. Wer fündig wird, versucht oft, seine Nuggets nach Agadez zu schaffen, um sie dort zu verkaufen. Was zur vierten Alternative für den Targi auf Rhissa Feltous Dach führt: Überfälle auf Gold- sucher. Allgemeiner gefasst: die Jagd auf Beute jeglicher Art. Sehr begehrt sind zum Beispiel Ungläubige, die als Geiseln an al-Qaida verkauft werden. Der perfekte Arbeitsplatz für Banditen ist das Aïr- Gebirge. Potenzielle Opfer bewegen sich dort auf Pisten ohne Ausweichmöglichkeiten. Und perfekte Orte für Hinterhalte gibt es massenhaft. Deshalb sind wir nicht allein ins Aïr-Gebirge auf - gebrochen: Auf unserer Fahrt durch die basaltschwarze Hölle begleiten uns zwei Pick-ups, beide mit aufmon- tiertem Maschinengewehr und je acht Soldaten. O O H N E M I L I T Ä R S C H U T Z dürfen Ausländer Aga- dez nicht mehr in Richtung Wüste verlassen. Der erste Pick-up fährt vor uns, der zweite sichert die Nachhut. Wir wirbeln eine Menge Staub auf; im Geländewagen des Bürgermeisters reisen wir mit heruntergekurbelten Fensterscheiben, das Turbantuch zum Schutz um Kopf, Mund und Nase gewickelt. Unser erster Besuch gilt dem Grab von Mano Dayak, dem Kommandanten der Tuaregrebellion der 1990er Jahre. Die Grabstätte liegt in einer Einöde aus roter Stauberde und schwarzem Schotter, doch in Sichtweite des von grünen Bäumen gesäumten Wadi Tiden, eines 100 Kilometer langen Trockentals. In der Regenzeit zwi- schen Juni und September sammelt sich dort das von den Granit- und Basalthängen herabrinnende Wasser. So werden die Wadis für wenige Tage, manchmal auch nur für Stunden, zu Flüssen, an deren Ufern ein wenig Grün sprießt und Menschen sich ansiedeln. In dieser Welt natürlicher Knappheit, aber ohne materielles und kulturelles Elend, wurde Mano Dayak geboren: „ungefähr 1950“, präzise Geburtsregister gab es in der Kolonialzeit für Nomaden nicht. Bei meinem letzten Besuch vor mehr als zehn Jahren stand ich vor fünf gleich großen, mit Steinen der Um- gebung bedeckten Gräbern: für die fünf Insassen einer Cessna, die am 15. Dezember 1995 zu Füßen des Mont Bagzane gegen einen Felsen geprallt und ver- brannt war. Dayak war unter den Opfern. Wahrscheinlich war es ein Unfall. Doch die meisten Tuareg glauben noch immer an Sabotage. Inzwischen ist Dayaks Grab mit Marmor bedeckt. Freunde haben ihn aus Kogo, den „blauen Bergen“, herbeigeschafft. Einer jener Orte in der Ténéré, die Mano Dayak liebte. Dennoch ist dies kein tröstender Anblick für mich. Die Erinnerung schmerzt unvermin - dert stark. Ein Projekt, das Hoffnung mische werden von der EU dafür bezahlt, die Straßen von Agadez zu kehren. Die Frauen bekommen dafür umge rechnet drei Euro am Tag – das sei gutes Geld, findet Bürgermeister Rhissa Feltou beim Besuch der Brigade GEO 08 2017 49 Ich hatte für Mano Dayak seine Autobiografie „Tou- areg, la tragédie“ verfasst. Ich war dem Rebellenführer damals für eine Zeit in die Berge gefolgt, ohne dass mich die politische Agenda der Tuareg allzu sehr interes sierte. Aber ich sah in Mano Dayak einen Freund, dessen Leben als Nomade der Moderne mich faszinierte. Dayak beschäftigte stets die Frage, ob die Tuareg, denen die Kolonialherren keinen eige- nen Staat hinterlassen hatten, ein ähnliches Schicksal erleiden wie die Kurden: von allen betrogen, einschließlich von sich selbst. Vielleicht hätte die Geschichte Nigers ei - nen besseren Lauf genommen, wäre Mano Da- yak damals nicht umgekommen. Vielleicht aber sind die Mächte der Geschichte stärker als die Kraft von Einzelnen. Diese Frage muss sich auch Rhissa Feltou stellen, der ein Neffe von Mano Dayak ist: Kann ein Einzelner in die Weltläufe eingreifen? Kann ein Bürgermeister seine Stadt retten? N N A C H D E MB E S U C H A M G R A B bringt uns Rhissa Feltou zu einer Lagerstätte im Wadi Tiden, wo wir die Nacht verbringen. Erst scheint es dort, als sei im Leben der Tuareg noch alles beim Alten. Unser Gastgeber Ibrahim bietet uns Tee an, gießt ihn aus dem in Schulterhöhe gehalte- nen Kännchen zielgenau in das schmale Teeglas auf Hüfthöhe. Wenige Schritte entfernt steht Ibrahims ehan, das traditionelle Tuaregzelt. In der Kosmogonie der No- maden verkörpert es das Zentrum der Welt. Häuser? Die seien nur „Gräber von Lebenden“, sa- gen die Tuareg verächtlich. In weichem Sand ausgestreckt, blicken wir in den Himmel über der Sahara. Direkt über uns Orion; nagh, Karawanenführer, nennen ihn die Tuareg. Weil sich dieses Sternenbild in Winternächten über der Sa - linenoase Bilma erhebt. Dadurch weist Orion den aus dem Aïr aufbrechenden Karawanen den Weg zum Salz der Ténéré. Nichts in dieser Welt scheint sich seit meiner Zeit bei den Rebellen im Aïr verändert zu haben. Doch dann sehe ich die drei Lastkamele, die träge durchs Wadi stampfen. Sie zupfen mit den Zähnen Blätter von den Bäumen, deren Äste vom hohen Ufer über das trockene Flussbett ragen. „Meine Kamele“, sagt Ibrahim stolz. „Sind sie schon aus Bilma zurück?“, frage ich. „Nein, sie gehen nicht auf Karawane.“ Warum nicht? „Unsere Söhne wollen den langen Marsch durch die Wüste nicht mehr auf sich nehmen.“ Zu viele Strapazen und Entbehrungen für ein biss - chen Salz und Hirse! Die Jugend wolle lieber schnelles Geld mit Pick-ups verdienen. Ibrahim erzählt wie einer aus altem Schrot und Korn. Dabei dürfte auch er kaum älter als 40 Jahre sein. „Wir führen heute ein anderes Leben“, räumt er ein. „Nicht mehr wie echte Nomaden. Zum Einkau - fen fahren wir nach Agadez.“ Nun erkenne ich am Fuß der Bäume auch seinen geparkten Pick-up. Und daneben das Haus aus banco. Auf dem Dach eine Parabol- antenne. Drinnen der Fernseher, vor dem um diese Zeit die Kinder hocken. Ein „Grab für Lebende“, die keine Noma- den mehr sind. In dieser Nacht aber wolle er wie ein Nomade schlafen, verkündet Ibrahim, und ver- abschiedet sich ins ehan. Und Rhissa Feltou beginnt mit leiser Stimme, unangenehme Zu - sammenhänge zu erklären. Dass nämlich Ibrahim zur Generation der ishomar gehöre. Der Ausdruck stammt von den Vätern, den alten Nomaden. Abgeleitet ist er von chômeur, französisch für Arbeitsloser. Er war abfällig gemeint und sollte bedeuten, dass ihre Söhne, die vor den Dürren der 1970er und 1980er Jahre nach Libyen geflohen waren, bei ihrer Rück- kehr nach Niger und Mali für keine nützliche Arbeit mehr zu gebrauchen waren. Nur noch zum Umgang mit Kalaschnikow und Panzerfaust. Gaddafi hatte die Jungen mit offenen Armen emp - fangen und sie in seine Islamische Legion gesteckt. Die jungen Tuareg hatten als Kanonenfutter für Libyens militärische Abenteuer im Tschad, ja sogar als Leihgabe an die Palästinensische Befreiungsorganisation im Liba- non herhalten müssen. In ihre Heimat kehrten sie mit dem Plan zurück, im Norden Malis und Nigers einen Tuaregstaat aus dem Sand zu stampfen. Ihnen diesen Unsinn auszureden, hatte Mano Dayak Schätze von Geduld gekostet: Zum einen war das Land der Tuareg nur eine öllose Wüste. Und zum anderen besaßen die Bewohner dieser Wüste keinerlei Kenntnisse und Geschicke, die zur Organisa- tion eines Staates notwendig gewesen wären. Nach dem Tod ihres Anführers konnten die ishomar immerhin noch von dem Friedensvertrag profitieren, den Dayak mit dem Staate Niger ausgehandelt hatte. Hun - derte ließen sich in Armee, Gendarmerie und Zoll in - tegrieren. Andere hingegen wurden zu Glücksrittern. Wie jene, die 2007 eine „zweite Tuaregrebellion“ anzet- telten, die im Sande verlief. „Und jetzt haben wir es mit der nächsten Generation zu tun“, schließt Rhissa Feltou. „Mit den Kindern der ishomar. Sie sind noch gefährlicher als ihre Väter. Weil sie nicht mehr wissen, was asheq bedeutet – selbst wenn sie dieses Wort ständig im Munde führen!“ Die jungen Nomaden scheuen die Mühen der Wüste GEO 08 201750 Asheq ist der Schlüssel zum Verständnis der Tuareg- kultur. Es bedeutet die Summe aller ethischen Werte, die das Verhalten eines Targi bestimmen sollten. Sein Sym- bol ist der tagelmust, der traditionelle Turban, den ein Nomade und Krieger ab seinem 15. Lebensjahr trägt. Asheq fordert von den Tuareg Mut und Tapferkeit im Kampf, vor allem aber gebietet er, Schwächere zu schüt- zen. Nichts gilt den Nomaden als so unverzeihlich wie Gewalt gegenüber Frauen und Kindern. Davon jedoch sind die Söhne der ishomar weiter entfernt als Orion vom Wadi Tiden. Viele haben sich Terroristen angeschlossen, etwa der Dschihadistentrup- pe Ansar Dine, die monatelang Timbuktu beherrscht hatte. Als französische Truppen die Stadt 2013 befreiten, hörte man zahllose Geschichten über junge Tuareg, die schwarze Frauen vergewaltigt hatten. Ich frage Rhissa Feltou, was genau er im Aïr-Ge- birge suche. Er suche eine Antwort auf die Frage, ob es Dschihadisten gelingen kann, die Heimat der Tuareg zu infiltrieren, die Welt von ehemaligen Nomaden, die nun in Häusern leben und Fern - sehen schauen. „Dass sie es versuchen, daran besteht kein Zweifel“, sagt Feltou. Gelingt ihr Vorhaben, wird die Lage in Agadez zum Albtraum. „Wer das Aïr beherrscht“, weiß Feltou, „kon- trolliert Nigers Norden.“ A A M M O R G E N unserer Abreise aus dem Ge- birge promenieren Ibrahims Kamele noch immer zwi- schen den ehan-Zelten. Zwei Mädchen hüten Ziegen, kleine Kinder spielen im Sand. Rhissa Feltou ruft die Männer aus unserer Wadi-Nachbarschaft zusammen. Einer bringt sein Teekännchen und glühende Holzkohle mit. Wir setzen uns auf den Boden, die Runde diskutiert auf tamasheq, der Sprache der Tuareg. „Sie sagen, Islam sei das Gegenteil von Islamismus“, resümiert Feltou für mich auf Französisch: weil Reli- gion nicht zu Krieg anstiften dürfe, sondern stets dem Frieden dienen müsse. Ab und zu würden ihre Vettern aus Mali zu Besuch kommen. Aber wenn diese vom „neuen Islam“ erzählten, würden die Männer im Wadi nur aus Höflichkeit zuhören. „Nicht einer von denen ist bereit, sich den Islamisten anzuschließen“, betont der erleichterte Bürgermeister. Einer der Tuareg aus unserer Militäreskorte sagt, er kenne mich von früher. Mohamed Almahadi war Frei- heitskämpfer; seit er als Soldat in Nigers Armee dient, wurde sein mickeriger Sold nie erhöht. Er ist ein ruhiger Mann von 43 Jahren, der nur redet, wenn er etwas zu sagen hat. „Du musst etwas Wichtiges wissen“, kündigt er an. „Die in die Armee integrierten Rebellen sind absolut loyal. Gibt es einen Angriff isla- mistischer Tuareg aus Mali, kämpfen wir gegen sie. Und für Niger.“ Aber wer weiß schon, was die Zukunft bringt? Schon die Gegenwart ist kompliziert. Was, wenn ein Kamikazebomber den neuen Drohnenstützpunkt der Amerikaner angreift? Und dabei den Verdacht entstehen lässt, Sym- pathisanten und Helfer in der Bevölkerung zu haben? Wenn die Soldaten in Agadez dann ähnlich wie in Bagdad oder Kabul reagieren, dann sind „Kollateralschäden“ unter Tuaregzivilisten kaum zu ver- meiden. Mohamed Almahadi wischt sich mit dem Zipfel seines grünen Armeeturbans den Schweiß von der Stirn. „Dann“, sagt er nachdenklich, „würde auch für uns hier wieder alles anders aussehen.“ Dann könnte die Region zum Schauplatz eines end - losen Konfliktes werden, in dem die Nomaden erneut aufgerieben werden könnten. Eine neue Rebellion wäre der Albtraum des Bürgermeisters von Agadez. „Wir wollen immer nur das Beste für unser Agadez“, beschwört Rhissa Feltou. „Wir haben doch nur diese eine Stadt.“ Rhissa Feltou besucht seinen 90-jährigen Vater Feltou Mohamed Dayak im Wadi Tiden nördlich von Agadez. Der Sohn studierte Jurain Straßburg; doch in Frankreich hielt es ihn nicht: Seine Verbunden - heit mit dem Lebensstil der Tuareg brachte ihn zurück nach Agadez MICHAEL STÜHRENBERG zehnten für GEO als Reporter um die Welt, ist vor allem in Afrika und Lateinamerika unterwegs. Was er und der nicht minder weit gereiste Fotograf CHRISTOPHER PILLITZ auf ihrer Recherche in Agadez erlebten, lesen Sie auf Seite 6 in der Rubrik „Unterwegs“. GEO 08 2017 51 LOB DER TORHEIT Wahnwitzige Konstruktionen, absurde Kletterübungen, riskantes Werkeln – im Internet, aber nicht nur dort, zeigt sich der Mensch als unbedachtes Wesen: Auch die Klügsten lassen sich zu Eseleien hinreißen. Das endet oft böse. Und doch hat die Evolution die Unvernunft nicht ausgerottet. Bietet sie womöglich Vorteile? Ist es manchmal weise, töricht zu handeln? P S Y C H O L O G I E GEO 08 201752 GEO 08 2017 53 V O R E I N I G E N J A H R E N mens Larry Walters 42 heliumgefüllte Wetterballons an einen Gartenstuhl. Er setzte sich hinein und kapp te das Tau, das den Stuhl am Boden hielt. Dann stieg er in den Himmel auf. Die Berichte darüber, was danach passierte, wi dersprechen sich in Details. Doch grob muss Folgen des geschehen sein: Der 33 jährige Walters hatte für seine Exkursion Sandwiches, einige Flaschen Bier und ein Luftgewehr eingepackt. Mit der Waffe woll te er die Heliumballons einen nach dem anderen abschießen, um so sachte zu landen. Dummerweise ließ er das Gewehr während des Flugs fallen. Piloten, die am nahe gelegenen Los Angeles International Airport starteten, sahen den Gartenstuhlflieger hilflos rund vier Kilometer hoch am Himmel schweben und alarmierten die Polizei. Die fand Walters schließlich nahe dem Boden, verheddert in einer Hochspan nungsleitung. Die gute Nachricht: Walters war unverletzt. Die schlechte: Er wurde verhaftet. Eine rundherum idiotische Aktion also. Nur: Walters sah das völlig anders. Er fand das Unterfan gen sinnvoll, ja offenbar nötig. Gefragt, was er sich um Himmels willen bei der Sache gedacht habe, hatte V Text: UTE EBERLE Der Mensch neigt zur »mentalen Abkürzung«. Und wenn er eine Aktion nicht gründlich durch- denkt, gelangt er auf Abwege GEO 08 201754 er angeblich geantwortet: „Ein Mann kann nicht ein fach nur herumsitzen.“ Eine bemerkenswerte Weltsicht, man könnte auch sagen, ein erschreckender Realitätsverlust, vor allem aber eine Anschauung, mit der Larry Walters nicht allein ist auf der Welt. Von den vielen, die sich zu ähnlichen Torheiten hinreißen lassen, haben indes nicht alle so viel Glück wie er. Der Anführer einer christlichen Sekte etwa übte in der Badewanne, wie Jesus auf dem Wasser zu ge hen. Er starb, als er auf einem Stück Seife ausrutschte. win Award“, der alljährlich Aktionen kürt, bei denen sich Menschen auf besonders dämliche Weise selbst ums Leben bringen. Ein anderer Preisträger, ein 28 jähriger Lastwa genfahrer, wollte demonstrieren, dass sein „Spion Kugelschreiber“ in Wirklichkeit eine funktionsfähige Pistole war. Er hielt sie sich an den Kopf und drückte ab. Und er hatte recht: Die Waffe funktionierte. I S T E S N I C H T E R S T A U N L I C H ? Nach Jahr hunderttausenden der Evolution benimmt sich der Mensch noch immer regelmäßig töricht. Wieso sind Erbanlagen, die Dummheiten begünstigen, nicht aus gemerzt worden? Wo doch ihre Träger sich hartnäckig selbst aus dem Genpool katapultieren. Unvernunft schadet, aber sie ist offenbar nicht auszurotten. Übersehen wir also vielleicht etwas? Hat Torheit versteckte gute Seiten? Ist es möglicherweise manchmal klug, dumm zu handeln? Lange haben Wissenschaftler das untere Ende der mentalen Leistungsskala gemieden. Sie richteten ihr Augenmerk lieber auf das obere Ende, auf Ursa chen und Folgen eines hohen Intelligenzquotienten (IQ). So zeigten Studien etwa, dass Menschen mit einem höheren IQ im Durchschnitt älter werden, ge sünder bleiben und besser verdienen. Aber es gibt auch Hinweise, dass die Fähigkeit zu abstraktem, rationalem Denken – und das misst der IQ am ehesten – nicht immer mit vernünftigem Handeln einhergeht. Zum Beispiel verdienen sehr kluge Menschen zwar mehr, überziehen aber ihre Kreditkarte öfter und geraten häufiger mit den Zah lungen in Verzug als normal intelligente. Und obwohl sie insgesamt gesünder sind, rauchen Menschen weit oben in der IQ Skala eher, betrinken sich häufiger oder greifen öfter zu Drogen. Und manchmal sterben sie früher. Forscher in Edinburgh fanden dies heraus, als sie die IQ Tests von schottischen Soldaten auswerteten, die in den Zweiten Weltkrieg gezogen waren. Jene, die fielen, hatten im Mittel einen höheren Wert erzielt als jene, die überlebten. Niemand weiß, warum das so ist. Fast könnte man sagen: Intelligente Menschen sind schlauer, stellen sich allerdings oft dümmer an. Aber was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, dass jemand „dumm“ handelt? Törichtes Verhalten präzise zu definieren, fällt schwer. Agiert je mand kurzsichtig und bedenkt nicht die langfristigen Folgen seines Tuns? Geht er zu viele – oder vielleicht zu wenige – Risiken ein? Steckt eine Art mentale Blockade dahinter? E H E R S A R K A S T I S C H E A B H A N D L U N G E N wie die des italienischen Wirtschaftshistorikers Carlo Cipolla halfen bei der Beantwortung dieser Fragen nicht weiter. Cipolla formulierte fünf „Grundlegende Gesetze zur menschlichen Dummheit“. Gesetz Nummer eins: „Jeder unterschätzt immer und unvermeidlich die Zahl der dummen Menschen, die in Umlauf sind.“ Und entsprechend dem fünften Gesetz ist „eine törichte Person gefährlicher als ein Bandit“. Ernsthaftere Untersuchungen stellten Forscher erst in jüngerer Zeit an. Der Psychologe Balazs Aczel von der Eötvös Loránd pest etwa versuchte zunächst einmal herauszufinden, was wir unter Torheit überhaupt verstehen. In seiner Studie mit dem Titel „Was ist dumm?“ ließ Was ist das eigentlich – Dummheit? Sie auf einen Begriff zu bringen, fällt uns schwer. Trotzdem erkennen wir törichtes Handeln auf den allerersten Blick »Es gibt allemal einen Narren mehr, als jeder glaubt« G E O R G C H R I S T O P H L I C H T E N B E R G ( 1 7 4 2 – 1 7 9 9 ) GEO 08 2017 55 er Testpersonen anhand von 180 Anekdoten beurtei- len, ob sich die Protagonisten idiotisch benommen hätten, und fragte nach den psychologischen Faktoren, die dahintersteckten. Dabei stellte er fest, dass die Urteile überraschend einstimmig ausfielen. Es mag Menschen also schwer- fallen, Dummheit zu definieren. Aber sie erkennen sie ohne Weiteres. Aus den Antworten seiner Probanden las Aczel drei Kategorien an Dummheit heraus. Und nur bei der ersten war der entscheidende Faktor, dass die Be- treffenden einen klassischen Denkfehler gemacht hat- ten, ihnen also etwa ein mentaler Flüchtigkeitsfehler unterlaufen war oder sie einen veritablen geistigen Aussetzer erlebt hatten. So etwas kann katastrophal enden. Vor einigen Jahren gewann den Darwin Award ein Bungee-Sprin- ger, der sein Seil sorgfältig auf die Höhe der Brücke zuschnitt, von der er springen wollte, dabei aber ver- gaß, dass das Band elastisch war. Er starb, als er auf dem Boden aufprallte. Diese erste Kategorie Aczels überschneidet sich mit einem Phänomen, auf das auch andere Forscher gestoßen sind: Fehlurteile und irrationales Handeln gehen oft darauf zurück, dass Menschen ihre vorhan- dene Intelligenz nicht optimal einsetzen. Sie neigen dazu, „geistige Abkürzungen“ zu nehmen. Statt eine Sache gründlich zu durchdenken, wischen sie mental oberflächlich darüber hinweg, lassen sich vom Kontext beeinflussen und gelangen so zu falschen Schlussfol- gerungen. F R A G T M A N Ä R Z T E , was sie von einer Behandlungsmethode gegen eine tödliche Krankheit halten, die 200 von 600 Betroffenen das Lebenretten kann, sehen sie die Sache vergleichsweise positiv. Hören sie aber, dass bei der Therapie 400 der 600 Kranken sterben werden, reagieren sie eher ablehnend. Obwohl beide Szenarien identisch sind. In Aczels zweiter Kategorie der Torheiten mag der Einzelne durchaus ahnen, dass er gegen seine eigenen Interessen handelt. Trotzdem kann er nicht widerstehen, geradezu zwanghaft stolpert er ins Desaster. Viele politische Skandale scheinen diesem Muster zu folgen. Man denke an den US-Politiker Anthony Weiner, der schlüpfrige Bilder von sich an Frauen verschickte, die er im Internet getroffen hatte. Grauenhaft endete die Kombination aus mentalem Kurzschluss und unstillbarer Sucht bei einem Mann namens Abraham Mosley in Florida. Er starb, als er sich nach einer Operation wegen Kehlkopfkrebs eine Zigarette anzünden wollte und dabei der Verband um seinen Hals Feuer fing. Die Flammen griffen auf den Schlafanzug des 64-Jährigen über, doch weil Mos- ley nach dem Eingriff keine Stimmbänder mehr hatte, konnte er nicht um Hilfe rufen. Torheit und Fortschritt sind einander manchmal verwirrend ähnlich: Einige blöde Ideen haben zu großartigen Innovationen geführt Wer sich dumm anstellt, katapultiert sich manchmal sogar aus dem Leben. Aber wieso stirbt die Torheit dann nicht aus? F R I E D R I C H H E I N R I C H J A C O B I ( 1 7 4 3 – 1 8 1 9 ) »In der Dummheit ist eine Zuversicht, worüber man rasend werden möchte« GEO 08 201756 »ICH HAB DAS ALLES IM GRIFF« GEO 08 2017 57 Als Königsklasse der Torheiten stellte sich in der ungarischen Studie die dritte Kategorie heraus – die Teilnehmer bewerteten das jeweilige Verhalten jeden- falls als besonders doof. Dabei handelte es sich um Aktionen, bei denen das Denken der Betreffenden eine ganz eigene Qualität zu gewinnen scheint. Wie bei den Einbrechern, die Handys stehlen wollten, stattdessen aber – weil sie den Unterschied nicht (er-) kannten – Navigationsgeräte mit eingebauter Ortung mitnahmen. Da sie die Geräte nicht abstellten, konnte die Polizei sie orten und festnehmen. Aczel spricht in solchen Fällen von „zuversichtlicher Ignoranz“. Der Begriff geht indirekt auf einen Bankräuber namens McArthur Wheeler zurück. Wheeler überfiel Mitte der 1990er Jahre in Pittsburgh an einem Tag zwei Banken. Bemerkenswert war vor allem, wie er dies tat. Er war eher klein gebaut, wog aber gut zwei- einhalb Zentner und war damit von auffälliger Statur. Trotzdem gab er sich keine Mühe, sich zu verkleiden oder auch nur sein Gesicht zu bedecken. Mehr noch: Der 45-Jährige lächelte sogar direkt in die Überwa- chungskameras. Noch am gleichen Abend wurde Wheeler gefasst. Er schien verdattert. „Ich hatte doch den Saft aufgetragen“, stammelte er. Wie sich herausstellte, hatte der Kriminelle geglaubt, dass die Kameras sein Gesicht nicht aufzeich- nen konnten, weil er es mit Zitronensaft eingerieben hatte. Vielleicht war Wheeler auf diese Idee gekommen, weil sich der Saft als unsichtbare Tinte verwenden lässt. Völlig überzeugt von seiner Eingebung war er, nachdem er sie getestet hatte: Er hatte sich die Flüssigkeit ins Gesicht geschmiert und mit einer Sofortbildkamera ein Foto von sich geschossen – auf dem er nicht zu sehen war. Es ist nicht klar, wie dies geschehen konnte. Möglicherweise hatte Wheeler falsch gezielt. Der Saft habe ihm in den Augen gebrannt, sodass er nicht viel sehen konnte, erzählte er. D A V I D D U N N I N G , heute Professor für Psychologie an der Universität von Michigan, las von dem ungeschickten Räuber. Die Geschichte brachte ihn ins Grübeln. Wenn McArthur Wheeler zu töricht war, eine Bank zu überfallen, war er dann vielleicht auch zu töricht, zu erkennen, wie dumm er sich angestellt hatte? Gemeinsam mit seinem Doktoranden Justin Kruger testete der Psycho - loge seine Idee. Die beiden ließen Studenten Aufgaben in logischem Denken und englischer Grammatik lösen. Anschließend sollten die Probanden ihr Können einschätzen. Dabei stellte sich heraus, dass Studenten, die in den Tests schlecht abschnitten, ihre Fähigkeiten weit überschätzten – in weit höherem Maß als jene, die bessere Leistungen gezeigt hatten. Einige der besten tendierten sogar dazu, sich zu unterschätzen. Dunning und Kruger schlossen daraus: Menschen sind oft ahnungslos und zuversichtlich zugleich, und das in umgekehrter Proportionalität. Das heißt: Gerade wenn wir in einer Sache wenig kompetent sind, trauen wir uns besonders frohgemut zu, dass wir sie im Griff haben. „Zuversichtliche Ignoranz“ eben. Dieser Effekt führt auch dazu, dass Medizinstudenten, die eine Me - thode neu erlernen, sich meist schnell zutrauen, sie anderen Neulingen bei- zubringen. Selbst wenn ihre Mentoren finden, dass sie noch nicht einmal weit genug sind, um sie selbst unbeaufsichtigt einzusetzen. Der Dunning-Kruger-Effekt – wie er getauft wurde – gesellt sich zu der Beobachtung, dass Menschen generell unrealistisch hohe Erwartungen »Eine törichte Person ist der gefährlichste Menschentyp« C A R L O C I P O L L A ( 1 9 2 2 – 2 0 0 0 ) Vor allem Männer kommen häufig auf bescheuerte Ideen. Wollen sie damit Frauen beeindrucken? GEO 08 201758 D an ihre Fähigkeiten und Zukunftsaussichten hegen. So glaubt fast jeder, dass er länger leben wird als der Durchschnitt – obwohl dies statistisch gesehen un - möglich ist. Oder dass er besser Auto fährt: In Um- fragen schätzen gewöhnlich mehr als 90 Prozent der Fahrer ihre eigenen Fertigkeiten am Steuer als über- durchschnittlich ein. Anders gesagt: In jedem von uns steckt ein McArthur Wheeler. So wie er besitzen wir alle das Potenzial, uns vorzumachen, dass wir kompetenter sind, als es den Tatsachen entspricht. Dass bei den Dingen, die wir tun, nichts schiefgehen kann. Dass wir vielleicht sogar als Einzige einen todsicheren Weg gefunden haben, das System zu überlisten. „Wir sind alle zuversichtliche Idioten“, sagt David Dunning. Das kann eine großartige Sache sein. Das Leben macht mehr Spaß, wenn man die eigene Person ver- klärt. Es gibt Ausnahmen, Menschen, die sich selbst nüchtern sehen; realistisch einschätzen, dass sie nichts Besonderes sind. Sie sitzen häufig im Wartezimmer von Psychiatern. Ärzte sprechen von „depressivem Realismus“. Er gilt als charakteristisches Symptom krankhafter Melancholie. U N B E D A R F T E S V O R A N M A R S C H I E R E N ist gut für die berufliche Laufbahn. „Individuen, die viel von sich halten, ob das nun objektiv angemessen ist oder nicht, erreichen gewöhnlich mehr“, schreibt der Ökonom und Philosoph Tyler Cowen. Selbstvertrauen hilft, Prüfungen zu meistern und andere zu beeindrucken. Übersteigerter Glaube an sich selbst ist geradezu ein Urcharakteristikum von Firmengründern. Viele scheitern zwar, andere aber heimsen immense Erfolge und Reichtum ein. Zum Funktionieren eines Unternehmens kann obendrein das ignorante Verhalten seiner Mitarbeiter beitragen. André Spicer von der Cass Business School in London und Mats Alvesson von der Universität im schwedischen Lund untersuchten jahrelang Fir - men und ihre Arbeitskräfte. „Anfangs dachten wir, dass vermutlich die klügsten Angestellten Karriere machen. Aber dem war nicht so“, schreibt Spicer. Investmentbanken, PR-Agenturen und Bera - tungsunternehmen etwa suchten nach hochintelligen - ten Talenten, aber sobald die eingestellt waren, war ihre kritische Intelligenz, also das, was sie auszeichne- te, plötzlich abgeschaltet. Organisatorische Zwänge Die hohe Intelligenz des Menschen geht nicht not- wendig mit vernünftigem Handeln einher. Manchmal sieht es so aus, als ob gerade die Schlauen sich besonders dumm anstellen GEO 08 2017 59 Gerade wenn wir wenig Kompetenz haben, trauen wir uns besonders viel zu. Die Folge: sinnig unser Unterfangen ist In Unternehmen verlierenhochintelligente Mitarbeiter oft ihren kritischen Geist: »Funktionelle Dummheit« setzt sich durch GEO 08 201760 A B E R E S G I B T N O C H E I N E N weiteren Grund, törichten Aktionen Raum in unserem Leben zu lassen. Denn Dummheit und Fortschritt sind sich oft „zum Verwechseln ähnlich“, wie der österreichische Schrift steller Robert Musil bemerkte. Ein dämlicher Schnit nen führen. So wie 1879, als der Chemiker Constantin Fahl berg mit Teerderivaten im Labor arbeitete und abends Brot aß. Fahlberg bemerkte, dass das Brot überra schend süß schmeckte, und erkannte, dass er verse hentlich Chemikalien verzehrt hatte, die noch an seinen Fingern klebten. Er ging der Sache nach, kam dem Zuckerersatzstoff Saccharin auf die Spur und wurde damit berühmt. Oder man denke an die Geschichte des als Kind erblindeten Daniel Kish, der probierte, mit der Zunge zu schnalzen und über das Echo zu hören, wo ihm Hindernisse im Weg stehen. Ein Blinder, der eine Fledermaus imitiert und auf ter auf den nächsten Darwin Award. Doch die Or tungsmethode des Amerikaners funktioniert derart gut, dass Sehbehinderte in mittlerweile mehr als 40 Ländern sich mittels Echosinn orientieren. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein soll einmal gesagt haben: „Wenn die Menschen nicht manchmal Dummheiten machten, geschähe überhaupt nichts Gescheites.“ D A S S E S D E M M E N S C H E N S C H W E R F Ä L L T , seinen Hang zur Tor heit abzulegen, mag obendrein – versteckte – genetische Gründe haben. So wertete eine 2014 im „British Medical Journal“ veröffentlichte Studie sämt liche Darwin Awards der vergangenen 20 Jahre aus. Heraus kam, dass fast 90 Prozent der „Gewinner“ männlich sind. Der Reigen reicht vom Teilnehmer einer Motorraddemonstration gegen Helmzwang, der während der Protestfahrt stürzte und starb, weil er keinen Helm trug, bis zu den drei Barbesuchern, die ein Trinkspiel veranstalteten, bei dem sie abwechselnd einen Schnaps kippten und auf eine nicht explo dierte Landmine stampften. Als die schließlich hochging, zerstörte sie die Bar und tötete die drei Trinker. Die Studie war eher scherzhaft gedacht, hat aber eine ernste Basis. Ge rade junge Männer neigen häufig dazu, waghalsig zu agieren. Und sie tun das vermutlich, weil es sich für sie oft genug auszahlt. Sie können damit ihren Mut beweisen und sich unter Altersgenossen Ansehen verschaffen. Und sie können damit: Frauen beeindrucken. Von der Risikofreude der männlichen Hasardeure profitiert womög wieder Individuen finden, die den Mut haben, Neuland zu betreten. und die jeweilige Unternehmenskultur trieben ihnen das Querdenken aus. Das Positive für das Unternehmen: Dank der „funktionellen Dummheit“, wie Spicer und Alveson das Phänomen nennen, läuft das Geschäft reibungs loser und effizienter. Wenn Mitarbeiter darauf ver zichten, Dinge immer wieder zu hinterfragen und darauf zu bestehen, Strategien und Projekte kritisch abzuklopfen, sind sie effizienter. Reibungsverluste und Verunsicherung werden vermieden. Darum schätzen viele Chefs „funktionell dumme“ Angestellte und befördern sie. Die anderen sind unbequem und haben das Nachsehen. A In unserem Gehirn konkurrieren stets mehrere Handlungs - muster um die Ausführung. Ein ungünstiger Sinnesreiz kann dazu führen, dass die falsche Strategie gewinnt »Wenn die Menschen nicht manch- mal Dummheiten machten, geschähe überhaupt nichts Gescheites« L U D W I G W I T T G E N S T E I N ( 1 8 8 9 – 1 9 5 1 ) GEO 08 2017 61 D U M M H E I T S C H A D E T D E M J E N I G E N , dem sie unterläuft: Sein Pech, könnte man sagen. Aber manchmal hat Dummheit auch Folgen weit über den Einzelnen hinaus. Etwa wenn Impfverweigerer wider besseres medizinisches Wissen sich und ihren Kindern die Immunisierung vorenthalten und damit andere gefährden. Oder wenn Großbanken die Welt in eine Wirtschaftskrise stürzen, weil ihre Anlageexperten in kollektiver Ignoranz versäumt haben, Finanzprodukte gewissenhaft zu hinterfragen. Die große Frage lautet: Lassen sich die großen, bedrohlichen individuellen und kollektiven Dummhei- ten vermeiden? Ist es möglich, auf gute Weise töricht zu sein und die Nachteile zu minimieren? Blindes Selbstvertrauen könne Menschen helfen, Ziele zu meistern, die sonst unerreichbar blieben, sagt Dunning. So gesehen könnte es manchmal „närrisch sein, weise zu denken“. Angenommen, jemand bricht zu einer Skiexpe- dition zum Nordpol auf. Während er sich auf den Brettern durch den Schnee schiebt, ist zuversichtliche Ignoranz die bestmögliche Geisteshaltung. Aber nie- mand würde sich wünschen, dass er inkompetent oder mit blindem Optimismus geplant hat, welche Aus - rüstung er für die Expedition braucht. Wenn es darum geht, Strategien auszuarbeiten und weitreichende Ent- scheidungen zu fällen, ist es besser, alle Eventualitäten gründlich abzuwägen. Weise planen, blauäugig handeln – so lautet also das Idealrezept. Doch wohl niemand weiß, wie sich das bewerkstelligen lässt. Zumal der Einzelne für »Aber so ist’s: je reicher die Narrheit, desto größer das Glück« E R A S M U S V O N R O T T E R D A M ( U M 1 4 6 6 – 1 5 3 6 ) Manch einer mag ahnen, dass seine Aktion nicht gut ausgehen wird. Trotzdem begeht er die Torheit – wie unter Zwang Wie wir Ausrutscher vermeiden Fehler sind wichtig, damit wir aus starren Denkmustern ausbrechen können. Doch oft sind sie unnötig – und dann helfen ein paar Regeln, sie zu umgehen Sich konzentrieren – nur nicht zu viel Oft versagen uns unter Druck die Nerven, weil wir unser Handeln zu sehr überdenken. Wir begünstigen Fehler, wenn wir sie zu aktiv vermeiden wollen. Besser: Ver lassen Sie sich auf Ihre Automatismen und machen Sie sich klar, dass Druck nichts an der eigentlichen Handlung ändert. Pausen einlegen – zur richtigen Zeit Fehler entstehen, wenn wir überlastet sind. In Pausen ordnen wir Gedanken neu und finden bessere Lösungen: ohne den Rhythmus aus An- und Entspannung keine Höchstleistung! Planen Sie Auszeiten ein – sie sind Teil Ihres Arbeitsprozesses. Kontrollieren – aber nicht alles Je mehr wir kontrolliert werden, desto fehleranfälliger werden wir. Dies liegt daran, dass für Bewegungen zustän dige Hirnregionen gehemmt werden, wenn Beobachter uns genau auf die Finger sehen. Das spricht dafür, Freiräume zu lassen: Natürlich muss das Ergebnis einer Handlung überprüft werden, aber erst am Ende. Vorher gilt: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Üben Sie – auch den Fehler Um Fehler zu vermeiden, üben Sie die Handlung (zum Beispiel einen Vortrag zu halten). Doch üben Sie auch, wie Sie mit einem Fehler umgehen. Wenn Sie sich bei Ihrem Probevortrag verhaspeln, trainieren Sie ein souveränes Ausweich - manöver, statt von vorn zu beginnen. Es gibt keinen unprofessionellen Fehler, sondern nur einen unprofessionellen Umgang damit. BESSER DENKEN GEO 08 201762 »ACH WAS! DAS HÄLT SCHON« GEO 08 2017 63 gewöhnlich nicht bemerkt, wann er die Grenze zur Torheit überschreitet. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir in jenen Momenten, in denen wir dem dum men Bankräuber McArthur Wheeler am meisten ähneln, am wenigsten an unserem Tun zweifeln. Der beste Rat, den Dunning geben kann: auf andere achten. Rat einholen. Prüfen, ob die eigene Strategie auffallend davon abweicht, wie die Dinge räuber, der sich Zitronensaft ins Gesicht schmiert, kann es sich lohnen, den Plan zu überdenken. O F T L Ä S S T S I C H allerdings erst im Rückblick entscheiden, ob eine Aktion tatsächlich dumm ist oder vielleicht unerkannt brillant. Oder auch beides. So glaubte vor 100 Jahren kaum jemand ernsthaft, dass der Mensch einmal ins All reisen könnte. Das hielt drei Freunde in Baltimore 1928 indes nicht davon ab, eine Rakete für einenFlug zum Planeten Venus zu bauen. Über acht Monate errichteten die Männer – ein Schreiner, ein Steinmetz und ein Mathematiker – ein sieben Meter hohes Gefährt aus Eisenstangen, das sie mit lackiertem Segeltuch bespannten. Um das Raumschiff zu isolieren und Trinkwasser an Bord zu haben, kleideten sie das Innere mit gefüllten Rohren aus. Das Projekt kostete sie rund 5000 Dollar (nach heutigem Wert rund 70 000 Euro). Die Männer bauten die fertige Rakete auf dem Bürgersteig in einem Wohnviertel auf. Einer von ih nen kletterte als Pilot hinein. Seine Ausrüstung be stand aus ein paar Taschenlampen und einem Erste Hilfe Kasten. Als das Triebwerk startete, züngelten Flammen um die Konstruktion und schwarze Rauch wolken wallten so dick über die Straße, dass der Ver kehr anhalten musste. Die Rakete hob nie ab. Enttäuscht gaben die drei Männer auf. Ein paar Monate später startete ein anderer Raketenbauer einige Hun dert Kilometer nordöstlich von Baltimore seine eigene Raumkapsel. Der Ingenieur hatte viel Forschung investiert, trotzdem verlachten ihn viele. Seine Rakete hob tatsächlich ab, flog aber nur wenige Hundert Meter weit. Die Lokalzeitung spottete: „Rakete, die zum Mond fliegen soll, verpasst Ziel um 238 799 ½ Meilen.“ er gilt heute als einer der Begründer der Raumfahrt. Wie lassen sich die schlimmsten Absurditäten verhindern? Ganz einfach: die Folgen durchdenken, bis ins Detail M A R I E V O N E B N E R - E S C H E N B A C H ( 1 8 3 0 – 1 9 1 6 ) »Alberne Leute sagen Dummheiten, gescheite Leute machen sie« UTE EBERLE beging mit 23 Jahren eine Torheit – zumindest sahen das damals Freunde und Familie so: Sie heiratete einen Mann, den sie erst sechs Monate kannte. Heute, 22 Jahre später, ist sie weiterhin mit ihm zusammen. GEO 08 201764 O K U R Z V O R M I T T E R N A C H T am 19. Mai 2012 in München. Finale der Champions League, Bayern München gegen Chelsea London. Es steht unent - schieden im Elfmeterschießen, und Bastian Schwein- steiger muss als letzter Schütze das tun, was in drei Vierteln aller Fälle gelingt und für einen Welt- klassefußballer wie ihn keine gro- ße Kunst ist: Er muss treffen, ein motorisches Kinderspiel – eigent- lich. Doch er verschießt, der Ball knallt gegen den Pfosten, Bayern München verliert. Keine vier Wochen zuvor hat- te Schweinsteiger den letzten Elf- meter im Halbfinale gegen Real Madrid eiskalt versenkt. Eben noch ein gefeierter Elf - meterheld, dann die tragische Fi- gur im großen Finale. „Ist doch nur menschlich“, werden Sie sa- gen, „Fehler passieren nun einmal.“ Schließlich bauen wir ständig kleine Missgeschicke in unsere Abläufe ein. Fast scheint es, als wäre das Gehirn genau das, was wir in unserer auf Effizienz und Perfektion getrimmten Welt nicht benötigen: schusselig, schlam- pig und alles andere als akkurat. Wie oft wünschen wir, uns besser zu konzentrieren, wie oft rutscht uns ein Flüchtigkeitsfehler durch oder sind wir von un- seren Dummheiten genervt. Kein Wunder, dass wir Fehler radikal bekämpfen und nicht tolerieren. Ein Tippfehler im Bewerbungs - schreiben? Keine gute Idee. Den Namen des Gegen- übers vergessen? Ziemlich peinlich. Wer Fehler macht, ist ein geistiger Verlierer. Oder was soll gar gut daran sein, wenn unser Gehirn solchen mentalen Mist baut und uns immer wieder im Stich lässt? Viele stellen sich vor, dass das Gehirn beim Denken und Han - deln vorgeht wie ein hierarchisch organisierter Betrieb: Der Boss sagt, wo es langgeht, und delegiert die Angelegenheit an die anderen Abteilungen, bis jeder weiß, was er zu tun hat. Aus A folgt B. Wenn am Schluss ein Fehler pas- siert ist, muss vorher etwas schief- gelaufen sein. Schließlich folgt alles einer linearen Logik. Meis- tens jedenfalls. Doch das Gehirn funktio - niert anders. Unsere Handlungen werden nicht vorher exakt geplant und dann penibel ausgeführt. Vielmehr herrscht in unseren Nervennetz- werken ein ziemliches Durcheinander an unterschied- lichen Handlungsmustern, von denen sich auch mal ein falsches durchsetzen kann. Unser Denkorgan ist alles andere als perfekt: Es ist ungenau, schlampig und liebt den Fehler. Doch der Lapsus im Gehirn hat Methode. Nur so bleiben wir Maschinen überlegen. Die mögen reibungslos arbeiten – kreativ aber sind sie nicht WARUM DIE SCHWÄCHEN DES GEHIRNS UNSERE STÄRKEN SIND N E U R O B I O L O G I E Wenn wir einen Flüchtigkeitsfehler begehen, registriert das Gehirn den Schnitzer, noch bevor er uns be- wusst wird. Sofort fällt im Stirnhirn das elektrische Potenzial ab. Die Folge: Die Aufmerk - samkeit steigt Text : HENNING BECK DR. HENNING BECK ist Neuro wissenschaftler und GEO-Kolumnist (Seite 112) . In seinem Buch „Irren ist nützlich“ erkundet er die Mängel des Gehirns. GEO 08 2017 65 rierenden Muster überlagert – und der Fehler rutscht uns prompt heraus. Um das zu vermeiden, kontrolliert eine angren zende Hirnregion, was in den Basalganglien vor sich geht: die vordere Gürtelrinde (Gyrus cinguli), die mit dem planenden Stirnhirn verbunden ist. Die Gürtel rinde unterdrückt falsche Handlungsmuster und be günstigt diejenigen, die mit dem doch ist dieser Filter nicht perfekt, und je mehr Sinnesreize auf uns einstürmen, desto eher rutscht ein inkorrektes Muster durch. Nach einem Fehler sorgt die Gürtelrinde zusammen mit vorde ren Hirnregionen dafür, dass der gleiche Patzer nicht noch einmal passiert. Trotzdem bleibt das Ge hirn bei seinem grundlegenden Denkprinzip: Es lässt ein dynami sches Durcheinander an möglichen Handlungen zu, bis sich eine Vari ante durchsetzt – manchmal halt eine falsche. Das ist unangenehm und gleichzeitig wunderbar. Denn Fehler machen zu können ist die Vorbedingung für neue Ideen. M M A I 1 9 9 7 , die mentale Vormachtstellung der Menschheit steht auf dem Spiel. Garri Kasparow, weltbester Schachspieler, erhebt sich vom Brett und gibt auf: Zum ersten Mal besiegt ein Schachcompu ter, nämlich Deep Blue von IBM, einen amtierenden Weltmeister über mehrere Partien. Bemerkenswert ist, wie der Computer zum Sieg kam: Denn in der zweiten Partie machte Deep Blue einen Zug, den Kasparow vorher noch nie gesehen hatte, einen unlogischen Zug, der dem Computer auf den ersten Blick einen Nachteil brachte. Vielleicht das erste Aufblitzen echter Maschinenkreativität? Kasparow war irritiert, er kam aus dem Rhythmus und verlor. Als die Techniker später die Rechenprotokolle auswerteten, stellte sich heraus: Im konkreten Mo ment des „unmaschinellen“ Zugs war die Maschine überlastet gewesen. Um das Spiel überhaupt fortzu setzen, hatte das Programm einen Zufallszug ausge wählt. Es war ein Fehler, der den Sieg über Kasparow brachte – und gleichzeitig wahrscheinlich der einzige (und letzte) Moment in der Computergeschichte, in dem eine Maschine wirklich kreativ war. Wenn man wissenschaftlich untersuchen will, auf welche Weise das Gehirn Aussetzer produziert, benötigt man nur zwei Dinge: eine Aufgabe und eine gaben, bei denen unter Zeitdruck auf Signale reagiert werden muss, reichen dann aus, um bei einem Pro banden fehlerhafte Handlungen zu erzeugen. Eine solche Aufgabe könnte lauten, bei einem zentral auf einem Bildschirm eingeblendeten V mit tralen W mit links. Um den Test zu erschweren, tauchen außerdem Stör buchstaben (sogenannte Flanker) auf – fertig ist der Eriksen Flan ker Test, der 1974 von Barbara und Charles Eriksen entwickelt wurde: WWVWW VVWVV VVVWW WVWVW Auch wer sich vornimmt, nur auf den zentralen Buchstaben zu achten, kommt mitunter durchein ander und drückt falsch. Doch war um ist das so? Bevor das Gehirn eine Aktion initiiert, legt es zunächst ein Handlungsziel fest, beispielsweise: Bei einem zentralenV drücke mit rechts. Dafür zuständig sind vordere Hirnregionen (im präfrontalen Kortex), in denen bewusste Aufmerksamkeitsprozesse verar beitet werden. Gleichzeitig trifft in den Sehzentren des Hinterkopfs eine Vielzahl an optischen Sinnes reizen ein. Ob wir ein V oder ein W auf dem Bild schirm sehen, ist da schon klar. Nicht jedoch, wie wir handeln sollen, denn dazu muss die Bildinformation mit dem Handlungsziel verglichen werden. Etwa auf halber Strecke zwischen dem Stirnhirn und der Sehrinde liegt eine Region, die man Basal trale (basale) Verschaltungsstellen zwischen Hirnre gionen. Hier werden die Sinnesreize mit unserem Handlungsziel in Einklang gebracht und verschiede ne Handlungsmuster geformt. Fehler passieren an dieser zentralen Stelle, wenn die unterschiedlichen Handlungsmuster miteinander konkurrieren. So könnte bei der Buchstabenfolge WVWVW ein Muster lauten: „Drück rechts, du siehst gerade ein V.“ Oder: „So viele W auf dem Bild schirm, drück mal links.“ Oder: „Die Zeit läuft gleich ab, drück irgendwas.“ Vielleicht begünstigt ein bestimmter Sinnesreiz ein bestimmtes Muster, obwohl es falsch ist. Dann kann es so stark werden, dass es die anderen konkur Unter Druck, etwa in einer Prüfung, steigt häufig die Fehlerrate: Wenn die Angst vor dem Versagen uns packt, werden jene Hirnzentren aktiviert, die auch für Schmerzemp - findung zuständig sind. Das bindet Denkressourcen, die für die Aufga- ben fehlen Ein Schachcomputer irritiert den amtierenden Welt - meister – mit einem unlogischen Zug GEO 08 201766 DIE ZUKUNFT GEHÖRT ALLEN Die genannten Features sind teilweise optional bzw. in höheren Ausstattungen verfügbar. 1Die Nutzung der OnStar Services erfordert eine Aktivierung, einen Vertrag mit der OnStar Europe Ltd. und ist abhängig von Netzabdeckung und Verfügbarkeit. Der WLAN Hotspot erfordert einen Vertrag mit dem mit OnStar kooperierenden Netzbetreiber. Im Anschluss an die jeweiligen Testphasen werden die OnStar Services kostenpflichtig. Die Leistungsumfänge der entgeltpflichtigen Leistungen können sich von denjenigen in den kostenlosen Testphasen unterscheiden. Informationen zu Details und Kosten unter www.opel.de/onstar. Es gelten die jeweiligen allgemeinen Geschäftsbedingungen. Abb. zeigt Sonderausstattung. Der neue Opel INSIGNIA Klassenbestes LED Matrix Licht Automatischer Notbremsassistent mit Fußgängererkennung 24 Stunden Persönlicher Assistent und WLAN Hotspot1 Heute sind Schachprogramme unschlagbar. Computer besiegen uns in Go und Poker. Aber nicht weil sie das Spiel kreativ interpretieren, sondern weil sie eben keine Fehler mehr machen. Gegen einen Menschen ist das eine prima Strategie, denn uns un terlaufen ständig Fehler. Doch unsere Stärke liegt woanders: Wir können ein neues Spiel erfinden, mit neuen Regeln und Figuren. Und dann setzen wir uns mit ein paar Freunden hin und probieren es aus. Würden wir immer schnell, fehlerfrei und perfekt handeln, wären wir sicher äußerst intelligent. Intelli genz reicht aber nicht, um die Welt zu verändern. Denn dazu muss man ab und an etwas Neues wagen, ohne vorher zu wissen, ob es gut geht. Sprich: Man muss sich trauen, Feh ler zu machen. Das Gehirn kalku liert dieses fehlerhafte Denken sys tematisch ein und ist dadurch mehr als nur perfekt: Es ist anpassungs fähig. Denn pure Perfektion mach te uns letztendlich so leistungsfähig wie ein monokultiviertes Getreide schnell kaputt, wenn sich eine Klei nigkeit ändert. Dennoch hätten viele Menschen gern ein fehlerfreies Gehirn – vergessen dabei aller dings, was dieses auch wäre: langweilig, vorhersehbar und wenig kreativ. Umgekehrt wäre ein permanent Mist bauendes Denkorgan auch nicht besonders nütz lich. „Jetzt trau ich mich mal, einen Fehler zu machen“ könnten auch berühmte letzte Worte sein. Es ist die raffinierte Balance, die unser Gehirn so überlegen bedingungen klar sind – dann wieder verrückt und ineffizient genug, ebendiese Rahmenbedingungen infrage zu stellen und Denk regeln zu brechen. V V I E L E D I S R U P T I V E G E S C H Ä F T S M O D E L L E der heutigen Zeit sind durch solche Regelbrüche ent standen: Der Fahrdienstleister Uber hinterfragt, ob man Taxifahrer überhaupt noch braucht. Der Nach richtendienst Snapchat bricht mit dem Prinzip, Nach richten dauerhaft zu speichern. Und die Reiseplatt form Airbnb wendet sich von der Grundregel des Hotelgewerbes ab, dass Reisende ein Hotel für eine Übernachtung brauchen. Heute optimieren auf Per fektion getrimmte Algorithmen die Geschäftsabläufe der IT Unternehmen, doch deren kontraintuitive Ge schäftsidee konnten sie nicht erahnen. Und auch nicht, ob diese Firmen in fünf Jahren bankrott oder Welt marktführer sind. Dass wir in Zukunft wenig Angst haben müssen, von künstlicher Intelligenz ersetzt zu werden, liegt deswegen nicht daran, dass wir schneller, perfekter oder intelligenter wären als Maschinen. Sondern am Gegenteil: Wir sind unpräzise, langsam und fehlerhaft. Genau deswegen können wir die Welt verändern. Anstatt Ausrutscher prinzipiell zu verteufeln, sollten wir uns klarmachen, was sie auch sind: die geheime Stärke unseres Denkens. Denn wo bliebe ohne sie der Raum für Freiheit, für Mut und Heldentaten? Für die Draufgänger, die Erfinder und Ent decker? Für die Verrückten und anfangs Belächelten, deren Ideen vielleicht kompletter Unsinn sind – und manchmal doch die Welt um krempeln? Für die Regelbrecher und Visionäre, die niemals wirklich sicher sind, ob ihre Ideen bahnbre chend oder Quatsch sind? Nur dadurch, dass wir Fehler machen können und in unserem Denken gezielt einkalkulieren, sind wesen: Wir sind frei, weil wir die Grundsätze unseres Lebens ändern können. Wir sind kreativ, weil wir uns nicht immer an feste Regeln bin den lassen. Und wir sind humorvoll, weil uns jeder unerwartete Bruch unserer Erwartung, jede Überra schung in Erstaunen versetzt. Es sind diese Regelbrü che und Veränderungen, die unser Leben bereichern. Eine fehlerfreie Welt mag perfekt sein, doch sie wäre auch das Ende allen Fortschritts. Denn wenn alles perfekt ist, wohin solltest du dann noch schreiten? Zum Glück sind wir viel zu neugierig, um uns mit dem Perfekten zu begnügen. Und noch etwas hat die Erforschung menschlicher Fehler gezeigt: Bei deren Entstehung spielen viele Hirnregionen eine Rolle. Doch eine fehlt: die Region für Angst. Denn eine eingebaute Angst vor dem Fehler haben wir nicht, sie wird uns erst im Laufe der Zeit beigebracht. Kein Kind überlegt, ob es gleich auf der Nase liegt, wenn es mit dem Laufen beginnt. Wie oft sind wir hingefallen – und wieder aufgestanden. Gerade deswegen sollten wir nie den Mut verlieren, etwas Neues auszuprobieren. Denn etwas zu machen ist wichtiger, als es perfekt zu machen. Oder wie es der Weltfußballspieler Roberto Baggio sagte, nachdem er im WM Finale 1994 für Italien den wichtigsten aller Elfmeter verschossen hatte: „Elfmeter vergeben nur diejenigen, die den Mut haben, sie zu schießen.“ Schüler lernen eine neue mathe- matische Methode leichter, wenn sie sich an dem Problem zunächst allein versuchen, ohne vorher instru- iert zu werden. Die Fehler, die sie begehen, helfen ihnen, die Lösung besser zu verstehen »Jetzt trau ich mich mal, einen Fehler zu machen« könnten auch berühmte letzte Worte sein GEO 08 201768 Heft oder Abo bestellen unter 040/5555 89 90 oder auf www.walden-magazin.de Für Männer. Für draußen. Das Magazin. Jetzt im Handel! Mi t A l pen panor a ma z u m Au s k l a p p e n Die besten BERGHÜ TTEN Da und schon wieder weg: Höchstens zehn Sekunden braucht ein Maulwurf, um sich in lockere Erde einzugraben. Wer ihnfangen will, muss also schnell sein GEO 08 201770 Der Maulwurf ist ein walzenförmiger, schaufelhändiger Tunnelbohrer, perfekt angepasst an das Leben unter Tage – und der natürliche Feind des gepflegten Grüns. Menschen rücken dem Buddler mit fast allen Mitteln zu Leibe: ein Bericht von der Rasenfront Gärtner gegen Grabowski A R T E N S C H U T Z Fotos: Solvin Zankl 71 U S D E M K O F F E R R A D I O klingt ein Lied von Vicky Lean- dros, als Pahlke sagt, er sei ei- gentlich gegen Gift. Erstens, weil er kein Tierquäler sei. Zweitens, weil man sich die Böden kontaminiere. Und es natürlich Un - sinn sei, einen Feind zu bekämpfen, wenn man sich am Ende selbst schädigt. 38 Maulwurfshügel hat er in diesem Frühjahr in seinem Garten gezählt. An einigen Stellen hat sich der Rasen immer noch nicht erholt. Pahlke sagt: „Lieber einmal radikal, und denn ist Schluss!“ Gegen die Flugzeuge kann er nichts tun, alle zwei Minuten zerschneidet das Geräusch tief fliegender Maschinen die Stille der Kleingartenkolonie im Norden Berlins. Bernd Pahlke stört auch kaum mehr, dass er die Kerosinrückstände von seinem Obst („’ne richtige Ölschicht“) abwaschen muss. Aber es gibt Dinge, an die wird er sich nie gewöhnen. Und jeder, der sich seinem Grundstück nähert, ob Mensch oder Tier, sollte das auch wissen: Hier steht jemand, der wehrhaft ist. Das Verhältnis von Mensch und Maulwurf ist angespannt, das kann man sagen. Beide, Gärtner und Maulwurf, gra- ben bekanntlich gern. Allerdings haben sie radikal unterschiedliche Ansichten über das ideale Erscheinungsbild einer Grün- fläche. Ein Maulwurf weiß nichts von akku- raten Beetkanten, gleichmäßig gewachse- nem Zierrasen – und dem Wunsch des Menschen, die Natur so zu zügeln, dass sie ihm ausschließlich das schenkt, was er von ihr will. Wenn der Maulwurf auf den Menschen trifft, entwickelt sich daher sel- Mit seinen winzigen Augen kann der Maulwurf nur hell und dunkel unterscheiden. Wichtiger beim Wühlen sind seine rosige Rüsselscheibe und die Sinneshaare an seiner Schnauze. Sie liefern dem Tier ein genaues Bild seiner Umgebung und zeigen ameisen und Insektenlarven stecken, die er beim Tunnelbau ausgräbt. Vor allem aber frisst er den bei Gärtnern sehr beliebten Regenwurm. Ihn beißt er ins Vorderende und lähmt damit die Beute: So bleiben die Vorräte frisch, aber können nicht fliehen Text: ANDREAS WENDEROTH GEO 08 201772 A „Wer den unter Artenschutz gestellt hat, hatte wahrscheinlich Mitleid, weil er blind ist“ – Maulwürfe können zwar her- vorragend hören, aber nur hell und dunkel unterscheiden. „Oder er war selbst blind“: Denn sonst hätte er ja sehen können, wie das Tier im Garten wütet. Und statt ausschließlich Schädlinge zu fressen wie Engerlinge, Schnakenlarven oder Schnecken, vergreift der Maulwurf sich mit allergrößtem Appetit an wertvol- len Regenwürmern, die den Boden auflo- ckern sollen. Meist attackiert der Maulwurf vor - mittags so gegen halb zehn Pahlkes Gar- ten und Pahlkes Ordnungssinn. Dann bebt sanft der Boden, bröckelt, hebt sich: Erde türmt sich zu einem Hügel, 25 Zentimeter im Durchmesser und fast ten eine Liebesgeschichte. In der Regel geht es um stetig wiederkehrendes Klein- gärtnerleid. Und um Abschreckung, Auf- rüstung und Wut, die manchmal so weiß - glühend wird, dass sogar Blut fließt. I N 7 5 - J Ä H R I G E R Detmolder war zum Beispiel dabei beobach- tet worden, wie er einen Maul- wurf mit einer Apparatur erschlug, die die „Bild“-Zeitung zum Begriff „Killerforke“ verleitete – einem Holzstiel, an dessen Ende eine Metallplatte mit 30 Zentimeter langen Eisennägeln befestigt war. In erster Instanz wurde der Rentner zu 1500 Euro Strafe verurteilt. In einem Wald bei Olpe wiederum fand ein Förster einen toten Maulwurf. Mit den Hinterfüßen war er an bunte Luft- ballons gefesselt, dazu ein handgeschrie- benes Schild: „Vorsicht, ich stehe unter Naturschutz“; als Kommentar zu einer Vor- schrift, die nicht wenigen Kleingärtnern, sagen wir mal, etwas aufstößt. Nach Anlage 1 der Bundesartenschutz- verordnung ist es verboten, dem Europä- ischen Maulwurf „nachzustellen, ihn zu fangen, zu verletzen oder zu töten“; bei Verstößen droht ein Bußgeld. Talpa euro- paea nimmt damit nicht einmal eine Son - derrolle ein, alle heimischen Säugetiere genießen denselben Schutzstatus; ausge- nommen sind lediglich „Schädlinge“ wie etwa Wühlmäuse. „Also, wer muss hier eigentlich vor wem geschützt werden?“, fragt sich Pahlke, der eigentlich anders heißt, aber wegen etwaiger strafrechtlicher Konsequenzen so genannt werden möchte – und erst recht nicht fotografiert werden will. 73 E ebenso hoch (Gift für Pahlkes Rasenmä herblätter! Vor allem die ausgeworfenen Steine!). Im Aushub liegt das Loch, um das es dem Maulwurf eigentlich geht. Es irdisches Tunnelsystem, das er unermüd lich patrouilliert und verbessert, um seinen Appetit zu stillen. Sein Stoffwechsel ist so rasant, dass er jeden Tag eine Menge an Kleingetier verspeisen muss, die mindestens der Hälf te seines Körpergewichts von rund 100 Gramm entspricht. Bereits nach einem Tag ohne Nahrung kann er verhungern. Vor allem aber arbeitet er, um nicht zu ersticken. Weil in den engen Gängen die Konzentration von Kohlendioxid hoch ist, stoffgehalt aber niedrig, muss das Tierchen für Frischluft sorgen, sprich: neue Hügel buddeln. Mit bis zu sieben Metern pro Stunde gräbt sich ein Maulwurf durchs Erdreich. Da sein Fell keinen Strich hat, kann er sich dabei vorwärts wie rückwärts schieben, die Frisur sitzt. Wird er müde, hält er ein Nickerchen in extra angelegten Schlafkammern. Am Nachmittag dann legt er eine zweite Schicht ein, vergrößert den ersten Haufen, errichtet einen neuen oder, wenn er gut drauf ist, gleich mehrere. Der Druck, den seine fünffingrigen Grabschaufeln und der Zusatzdaumen auf die Erde ausüben, entspricht dem bis zum 20 Fachen seines ei genen Körpergewichts. Wollte ein Mensch Ähnliches vollbringen, müsste er auf allen vieren satte 1200 Kilo gramm vor sich herschieben. I G E N T L I C H K Ö N N T E Pahl ke die Sache ruhig angehen las sen. Der Garten erdet ihn, hier kommt er seit fast 20 Jahren zur Ruhe, während er den Pflanzen beim Wachsen zuschaut. Drei bis vier Stunden täglich wühlt er mit bloßen Händen in der Erde, harkt und wässert und empfindet tiefes Glück dabei. Zwischen Gartenzaun und Regenton ne hat er sich das sprichwörtliche kleine Paradies erschaffen: Der Duft von Rosen mischt sich in feinem Verhältnis mit dem tronenmelisse. Neben zwei Reihen Möhren wachsen Zwiebeln (und halten so die Möhrenfliege fern, die den Zwiebelduft nicht schätzt), die Gurken hat er exakt zwischen den Bohnen platziert (um Bohnenschädlinge GEO 08 201774 E strauch lässt sein Rhododendron gerade ein bisschen den Kopf hängen, obwohl er genug Wasser bekommt. Vermutlich weil eine Linde versucht, sich zwischen die Wurzeln zu drängen. Pahlke wird ihr den Weg weisen. Wie allem, das unbefugt ver sucht, sich in seinem Reich breitzumachen. „Verstehense mich nicht falsch“, sagt er und zieht an der Selbstgedrehten, er hasse den Maulwurf nicht: „Er nervt mich nur.“ Und füge ihm außerdem persönlich Schaden zu. Auf dem Acker kann der Maulwurf seinetwegen 1000 Hügel bauen, was außerhalb seines Gartens passiert, in teressiert Pahlke nicht. „Aber im Garten, da muss man den Anfängen wehren!“ „Sehense“, sagt er und zeigt mit inne rer Erregung die Handy Fotos, die die Erdbahnen auf der Grasnarbe dokumen tieren: „Hier fängt er an, zieht sich hier hoch, und geht dann hier rüber.“ Als der finger Riesenkirsche näherte, gingen bei Pahlke die Warnblinkeran: Wenn er unter den Baum vorstieße, griffe er auch die Wurzeln an. Nicht gezielt wie die Wühl maus, die sie auffrisst; eher zerkratzt der Maulwurf sie mit seinen scharfen Krallen. Sozusagen ein Kollateralschaden seiner unterirdischen Buddelei. V E N W A C H T M A N N I S T seit mehreren Jahren als Landesgar tenfachberater im Landesverband Berlin der Gartenfreunde zuständig für die Sorgen von rund 70 000 Kleingärtnern – und damit automatisch auch für den Maulwurf. Meistens wird er von Gärtnern konsultiert, die bereits alles probiert haben: Dem Gärtner mögen angesichts eines frischen Maulwurfshaufens die Haare zu Berge stehen, seinem Gegner wachsen sie immer senkrecht: Weil sein Fell keinen Strich hat, ist Grabowski mit dem Hintern zuerst fast genauso schnell wie mit dem Kopf voran. Mit dem nackten, mit Tasthaaren besetzten Schwanz hält er im Rück - wärtsgang den Kontakt zum Erdreich: Dessen Länge von zwei bis vier Zentimetern entspricht ungefähr dem Radius der Tunnel 75 S Buttersäure in die Gänge schütten, Kai- serkronen pflanzen, Hunde- und Katzen - haare oder mit Lavendelöl, wahlweise mit Petroleum getränkte Lappen in die Löcher stopfen. Manche stecken solarbetriebene Ul- traschallgeräte in den Rasen, die hochfre- quente Töne aussenden und die Sven Wachtmann, der sie hören kann, „derma- ßen auf die Kette gehen“, dass er diese akustischen Maulwurfsscheuchen gleich als Erstes abstellt, wenn er in einem Gar- ten auf sie trifft. In der Regel breitet Wachtmann vor den Rat suchenden Gartenfreunden aus, was legal möglich ist. Das Problem: Die meisten Mittel wirken nur manchmal. Auch weil Maul- würfe individuell zum Beispiel auf Gerü- che reagieren. Was dem einen stinkt, lässt den anderen kalt. Merke: Kein Maulwurf gleicht dem anderen. Und er bleibt am Ende immer Sieger im Kampf um die Ra - senfläche. Wenn der Gegner, sprich: Gärt- ner, nicht foult ... Natürlich gibt es effektive Möglich- keiten, das Tier loszuwerden, Zinkphos- phid zum Beispiel. Aber um das zu benut- zen, braucht man eine selten ausgestellte Ausnahmegenehmigung, die zum Töten des Tieres berechtigt. Das ist sonst strafbar und wird teuer: Maulwurfsmord kann bis zu 50 000 Euro kosten. Wer also keinen Golf- oder Fußball - platz betreibt oder die Rasenflächen um den Bundestag pflegt, sollte ausschließlich mit legalen „Vergrämungsartikeln“ operie- ren, rät Wachtmann, der das raten muss. „Das sind keine Tötungsmittel“, sagt er und macht dann eine Andeutung, die man als versteckten Tipp verstehen könn- te: „Was für Wühlmäuse schädlich ist, wird für’n Maulwurf höchstwahrscheinlich auch nicht gut sein ...“ Wühlmausportionsköder auf Pflanzen- basis zum Beispiel. An die allerdings geht der Maulwurf als bekennender Fleisch- fresser höchstens versehentlich ran. „Kann funktionieren“, sagt Wachtmann, „Beto- nung auf kann.“ „Fallen mit Selbstschussautomatik sind besser.“ Wachtmann redet sich lang- sam warm. „Sind aber natürlich sehr um- stritten.“ Und auch nicht ganz ungefährlich: Ein Achtjähriger, der damit spielte, löste eine Druckwelle aus, die in seiner Bauch- decke ein zwei Quadratzentimeter großes Loch hinterließ. „Ist wirklich nicht ohne“, sagt Wachtmann. GEO 08 201776 1 1 2 34 5 5 6 6 1 Maulwurfshügel . 2 eingestürzte Gänge . 3 laubgepolsterter Wohnkessel mit Jungtieren . 4 Jagdgang 5 Vorratskammmer . 6 eingemauerte Regenwürmer Untertagebau So wohnt der Wühler in der Tiefe unter dem Rasen Gartenzaun hinweg mit einem Journalis - ten. Da gibt es dann plötzlich nur noch Maulwurfsfreunde in der Kolonie, die an- geblich einfach warten, bis das Tierchen von allein verschwindet. Nur wenige wa- gen sich ein bisschen aus der Deckung: „Der Schweinekerl macht alles kaputt!“ Aber dann heißt es über die Hecke (maximale Höhe laut Kleingartenordnung: 1,25 Meter): „Ich scheiß keinen an hier drin!“ Angeblich hat dann der Hund ge - reicht, um den Maulwurf zu vertreiben. Oder die Schwiegermutter. „Von der Sache her“, sagt Pahlke, der seine Sätze häufig mit „von der Sache her“ einleitet, „von der Sache her ist der Maul- wurf eigentlich niedlich.“ So ein kleines Wesen in seinem Stoff-Fell, die patschigen Pfötchen, mit denen er unaufhörlich bud - deln will. Die kleine spitze Nase und die R A G T M A N Gartenfreund Pahl- ke nach einer geeigneten Metho - de, sich des Maulwurfs zu erweh- ren, deutet er energisch auf den Spaten, der hinten am Schuppen lehnt: „Meine Devise: Guckt er raus, kriegt er eine vorn Kopp!“ Man muss gut hinschauen können, geduldig und regungslos sein. In der Regel sitzt Pahlke also auf dem Gartenstuhl zwischen Regentonne und Hollywoodschaukel und schaut, ob sich irgendwo ein bisschen Erde nach oben bewegt. „Dann brauchen Sie bloß noch warten.“ Der klassische Dreier akkord: an- schleichen, ausholen, beherzt zuschlagen. Pahlke sagt, er sei nicht der Einzige, der es so handhabt: „90 Prozent hier in der Anlage sagen: Spaten, und das war’s!“ Al- lerdings sprechen die meisten natürlich nicht darüber. Erst recht nicht über den Wie behaglich, wie geruhsam: Der Maulwurf zieht trockene Blätter viele Meter weit durch die Gänge, um mit ihnen sein Nest auszupolstern. Die Maulwürfin bringt dort einmal im Jahr zwei bis sieben Jungtiere zur Welt. Sie leben nur wenige Monate im Revier der Mutter und machen sich im Sommer auf, ein eigenes Gangsystem zu ergraben, das sich je nach Geschlecht des Tieres und Qualität des Bodens viele Hundert Quadratmeter unter der Erde ausbreiten kann. Im Spätwinter sammelt der Maulwurf gelähmte Regen - würmer in Vorratskam- mern oder drückt sie in die Tunnelwände SCHÖNER WOHNEN 77 F fast blinden Augen, immer ein bisschen verklebt, als würde er unter einer chroni- schen Bindehautentzündung leiden. Pahl - kes Enkelin jedenfalls war hingerissen, als er neulich mal einen mit blanken Händen gefangen hatte. 44 spitze Zähnchen hat der Maulwurf, aber wenn man beherzt um den Körper greift, weiß Pahlke, „dann ist der Kopf ja blockiert.“ „Opa, machste den jetzt tot?“, hat die Enkelin etwas ängstlich gefragt, als sie auf den Maulwurf in seiner Hand blickte, und Pahlke hat natürlich geschwindelt: „Nein, mach ich nicht!“ Kann doch das Mädchen nicht erschüttern, die noch an das Gute glaubt, an die Harmonie von Mensch und Tier. Hat ihm also gesagt, dass der Maul- wurf ein Nutztier ist, weil sie das ja auch in der Schule lernen: „Obwohl es natürlich Schwachsinn ist.“ Unter den aufmerksamen Blicken der Enkelin hat er den Maulwurf schließlich jenseits der Gartenkolonie, hinten an den Feldern, wieder ausgesetzt. Und sich nicht anmerken lassen, dass er, wäre die Enkelin nicht dabei gewesen, vermutlich anders verfahren wäre. „Wenn der Maulwurf was Neues fin- det, wo er sich wohlfühlt“, sagt Pahlke, „ist er weg.“ Es sei denn, der Nachbar beginnt, ihm zuzusetzen. „Dann versucht er, in die alte Gegend zurückzugehen.“ So kann ein gelöst scheinendes Problem jederzeit wie- derkehren. Man muss sich also nicht nur vor den Maulwürfen in Acht nehmen, sondern auch vor den Nachbarn. Und zwar sowohl vor solchen, die nichts gegen den Maul- wurf tun, als auch vor jenen, die ihn ver- treiben. Mit seinen kräftigen Vorder - armen löst der Maulwurf die Erde und schiebt sie in esslöffelgroßen Portionen rund 15 Liter für einen durchschnittlich großen Hügel. Daraus schaut er nur selten und kurz hervor: Denn neben dem deutschen Kleingärtner lauern über dem Rasen auch Füchse, Störche, Katzen, Marder, Bussarde. Und denen drohen, anders als dem Menschen, keine 50 000 Euro Strafe für Maulwurfsmord 78 GEO 08 2017Effektiver sei da Karbid („Wasser rein und gasen lassen“), mit dem Nachteil, dass es hin und wieder zu Explosionen kommt; überirdisch allerdings. „Da lacht der sich unten in der Erde doch kaputt drüber.“ Am späten Nachmittag ertönt aus Par- zelle 234-B ein gellender Wutschrei: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Am Gewächshaus, wo Pahlke gestern ein neues Stück Rasen ausgesät hat, ist wie von Geisterhand geschaffen ein Hügel er- schienen. Frisch aufgeworfene Erde, die sich vorzüglich als Blumenerde eignen wür- de, in diesem Moment nur ein schwacher Trost für Pahlke. Vielleicht, überlegt er, ist der Maul- wurf zum Nachbarn abgehauen? Nein, tadellos der Rasen, kein einziger Haufen. Das Tier muss noch in der Nähe sein. Die Sonne steht schon tief, als Bernd Pahlke zum Geräteschuppen geht und den Spaten holt. L L Z U V I E L Wirksames gibt es nach Meinung von Pahlke so- wieso nicht. Manche sagen, ein Hund sei gut. Aber sein Rocky ist schon zehn Jahre lang mit im Garten, und als Maulwurfsjäger fiel der Langhaardackel bislang wenig auf. Umgedrehte Flaschen, die man in den Boden steckt, greifen ge- nauso wenig wie Sachen, die dem Tier angeblich stinken, abgeschnittene Stachel- beerzweige und ähnliche Späße. Denn der Maulwurf, sagt Pahlke, ist schlau: verstopft einfach die Gänge, aus denen Gefahr droht. Früher sei es zum Beispiel in der Kolonie sehr verbreitet ge- wesen, das Mofa auf den Rasen zu schie- ben, den Auspuff mit einem Schlauch zu verbinden und die Abgase in die Löcher zu leiten – bis der Tank leer war. Gebracht hat’s wenig. SOLVIN ZANKL versorgte seinen Maulwurf regelmäßig mit frischen Regenwürmern. Sein Besucher lernte schnell, nach entsprechenden Geräuschen die Futterstelle auf neue Leckerbissen zu kontrollieren. ANDREAS WENDEROTH brauchte lange, bis er auf verschlungenen Wegen jemanden fand, der ihm vom Kampf Mensch gegen Maulwurf erzählen wollte – unter dem Siegel absoluter Anonymität. 79 A E E M P A T H I E , D I E F Ä H I G K E I T also, sich einfüh- len zu können, die Perspektive des anderen einzuneh- men, gilt als soziales Allheilmittel. Einander verstehen, Beziehungen kitten, Flüchtlinge integrieren – überall soll Empathie helfen, das menschliche Zusammen- leben zu verbessern. Es gibt einen regelrechten Em- pathie-Hype, selbst in der Wissenschaft. Evolutionsforscher wie Michael Tomasello oder Robin Dunbar argumentieren, dass unsere Spezies ihren Gruppenzusammenhalt stärken und die Kom - munikation verbessern konnte, weil sie ihre empathi- schen Fähigkeiten vertiefte. Für Philosophen wie Martha Nussbaum und Psychologen wie Steven Pin - ker ist Empathie das Mittel für eine bessere, eine friedfertigere Gesellschaft. Ich möchte Sie davon überzeugen, dass Empathie weit weniger positiv auf das menschliche Zusammen- sein einwirkt als vielfach angenommen. Empathie ist zwar schön, denn sie lässt uns mit- erleben, was andere fühlen. Aber gut für die anderen ist sie überraschenderweise nur selten. Im Gegenteil: Aus Empathie geschehen schreckliche Dinge. Des- halb habe ich zwei Vorbehalte und drei Einwände gegen sie vorzubringen. Mein erster Vorbehalt: Der empathische Mensch kann sich im anderen verlieren. Das mag wunderbar sein in der Liebe, führt aber unter ungünstigen Um - ständen zur Aufgabe der eigenen Identität. Ein ex - tremes Beispiel: Geiseln können sich die Interessen „ihres“ Geiselnehmers so sehr zu eigen machen, dass sie sich noch vor Gericht für diesen einsetzen (das sogenannte Stockholm-Syndrom). Die weniger dras - tischen Fälle, in denen empathische Menschen ihre eigenen Interessen aus den Augen verlieren, sind zahl- los – etwa wenn sie sich von Kollegen ausnutzen las- sen oder die Meinung eines Gesprächspartners unre - flektiert übernehmen. Mein zweiter Vorbehalt: Empathie geht oft mit Selbstglorifizierung einher. Selbstverständlich führt Empathie auch dazu, dass Menschen anderen in Not uneigennützig beispringen. Doch es ist ebenso mög- lich, dass sie sich vor allem in die Rolle des Helfers imaginieren, sich mit der Heldengestalt identifizieren, statt mit den Hilfsbedürftigen zu fühlen. Das zielt allein auf Dank und Anerkennung. Bleibt der Dank aus, kann Hilfsbereitschaft schnell in Ressentiment umschlagen. Dieser Effekt war in Deutschland im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise zu beobach - ten, als viele sich vor allem selber als Helfer in der Not feiern wollten. Ich komme nun zu meinen drei Einwänden. Diese beziehen sich auf Verhaltensformen, in denen »Empathie ist gefährlich« Sich in andere hineinzuversetzen, mag edel erscheinen – ist aber auch egoistisch, so die These des Kognitionsforschers Fritz Breithaupt FORUM GEO 08 201780 Empathie unmittelbar Handlungen hervorruft, die sich für andere als schädlich erweisen. Erstens: Empathie mündet sehr oft in Fehlurtei - len. Wir sind soziale Wesen, die stets danach streben, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Was dazu führt, dass wir schnell Partei ergreifen. Wenn zwei sich strei- ten oder wenn wir einem Sportereignis beiwohnen, entscheiden wir uns für die eine oder andere Seite. Und dann laden wir diese Parteinahme mit Empathie auf. Wir fühlen mit unserer Seite. Wir beginnen, schwarz-weiß zu malen und das Gute (bei uns) wie das Schlechte (bei den anderen) zu betonen. Ein ge- fährlicher Mechanismus, der in Fanatismus münden kann, in der Radikalisierung politischer oder religiö- ser Gruppen. So entstehen aus Empathie Terroristen. Zweitens: Empathie führt zu sozialem Vampiris- mus. Und zwar dann, wenn ein Mensch durch Über - identifikation von und durch einen anderen lebt und diesen dabei emotional aussaugt. Stalker gehören in diese Kategorie, aber auch Helikopter-Eltern. Jene also, die nicht von ihren Kindern lassen können, die- se überbehüten und gängeln, vorgeblich weil sie das Allerbeste wollen. Doch unter der Hand geht es ihnen darum, ein besseres, ein erfolgreicheres Leben mitzu- erleben; eines, dass ihnen selbst vielleicht versagt war. Sie stellen die Kinder in ihren Dienst. Drittens: Aus Empathie kann Sadismus entste - hen. Empathischer Sadismus bedeutet, dass jemand eine Gefahr- oder Leidenssituation für einen anderen herbeiführt, fördert oder toleriert, damit er Empathie mit dem Opfer fühlen kann. Es muss sich dabei nicht unbedingt gleich um kri - minelle Psychopathen handeln. Es kann eine Motivation auch für Mob - bing sein, für das öffentliche Bloßstel- len anderer, für übermäßige Kritik. Gefühle sind ein schlechter Kompass Der amerikanische Philosoph Jesse Prinz vertritt die Auffassung, dass Empathie regelmäßig zu ungerechten Urteilen führe. Denn empathisch mo - tiviert entschieden wir uns im Zwei- felsfalle stets für jene, die wir besser verstehen, die uns näher sind: etwa Menschen unserer eigenen Hautfarbe. Und der kanadische Psychologe Paul Bloom sieht eine Parallele zwi- schen Empathie und „Taschenlampenblick“: Der Fo- kus liegt auf einem kleinen Ausschnitt der Realität, alles ringsum bleibt im Dunkeln. Für kurze Zeit fühlt man mit, hilft dem anderen vielleicht, aber eben nur für den Moment – und ohne das Gesamtbild vor Augen zu haben. Empathie ist hinderlich, wenn es darum geht, das große Ganze zu erkennen und die wahren Probleme anzugehen. Empathie ist gut für den, der sie empfindet (so - fern er nicht unter dem Stockholm-Syndrom leidet). Ich beobachte, wie eine Freundin ein autistisches Kind erzieht, und bin beseelt von ihrer emotionalen Hingabe. Ich lese einen spannenden Roman und ver - schmelze genussvoll mit der Hauptfigur. Für mich ist das großartig, ich lebe mehr als ein Leben. Ich lerne und bin emotional angeregt. Aber hilft das anderen? Meistens eher nicht. Selbstverständlich ist Empathie auch dazu geeignet, das Miteinander zu vertiefenund eine Gemeinschaft durch Verstehen zu verdichten. Doch allzu viel Hoff- nung auf eine bessere Welt durch Empathie sollten wir uns nicht machen. U U N D W A S F O L G T aus dieser Erkenntnis? Paul Bloom hat vorgeschlagen, größere Zuversicht in die rationale Urteilskraft der Menschen zu setzen. Wir können Handlungen schließlich sehr wohl moralisch bewerten, ohne uns in die Position dessen zu verset- zen, der von ihnen betroffen ist. Um zu erkennen, dass es nicht in Ordnung ist, jemandem das letzte Hemd zu stehlen, müssen wir uns nicht erst in das Opfer einfühlen. Wir können auch so erkennen, was eine verwerf- liche Tat ist. Doch ganz so optimistisch wie Bloom bin ich nicht. Vielleicht hat es mit der deutschen Geschichte zu tun, dass ich die Vernunft der aufgeklär- ten Menschen für anfällig halte. Ich würde eher auf ein starkes Moralemp- finden setzen. Moral ist mehr als ein Gefühl, aber dennoch nicht immer rational. Eine der moralischen Instanzen, die heute vernachlässigt wird, ist die so- genannte innere Stimme. Die innere Stimme verfolgt uns als schlechtes Gewissen und macht uns Vorwürfe, wenn wir etwas Falsches tun. Ich wür- de mir wünschen, dass wir stärker auf sie hören. Und wir sollten uns mehr Ge - danken darüber machen, wie sich das Wirgefühl stärken lässt. Ich meine ein Wir, dass of- fen auch für andere ist. Denn noch vor der Empathie gibt es das Zuhören und die Aufmerksamkeit dem anderen gegenüber. FRITZ BREITHAUPT, tionswissenschaftler, lehrt an der Universität von Bloomington in Indiana. Sein Buch „Die dunklen Seiten der Empathie“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen. GEO 08 2017 81 Trotz GEO 08 20178282 und Vorurteil D E U T S C H E G E S C H I C H T E Vor 25 Jahren warfen Jugendliche in Rostock-Lichtenhagen Brandsätze in ein Wohnheim für Asyl bewerber. Seitdem gilt der Ort vielen als Synonym der Schande. Was hat sich seither verändert, wie leben die Lichtenhäger heute? GEO-Autor Christoph Dorner hat sich drei Monate lang in einem der Hochhäuser des Viertels einquartiert Einblicke und Ausblicke aus dem Sonnenblumen - haus: Es dauert lange, bis die Lichtenhäger den Reporter in ihre Wohnungen lassen. Zu groß ist das Misstrauen gegenüber den Medien Fotos: Birte Kaufmann und Ina Schoenenburg 8383 Der Brink An einem Mittwochnachmittag im April 2017 war der Wille zur Zerstörung zurück in Rostock-Lichten - hagen. In Schrittgeschwindigkeit bahnte er sich seinen Weg über den Lichtenhäger Brink, den denkmalge - schützten Boulevard des Stadtteils, der schnurgerade durch einen Plattenbau-Canyon führt. Er schob sich vorbei an blühenden Kirschbäumen, Ginsterbüschen und kahlen Rabatten. Vorbei an den sieben Brunnenbecken, deren Abdeckhauben von Graffiti befallen waren. Vorbei an einer Ladenruine, die einmal eine Buchhandlung war, und am Imbiss eines wackeren Vietnamesen, bei dem sich die Anwoh- ner abends öfter Bier, Schnaps und Zigaretten mit - nehmen als gebratene Nudeln mit Hühnerfleisch. Ein Mädchen mit Schulranzen und ein Rentner mit blauer Schiffermütze auf dem Kopf traten ehr - fürchtig einen Schritt zur Seite. Als die Kaltfräse, eine rote Baumaschine mit Kettenantrieb und der Statur einer Lokomotive, auf dem zentralen Platz des Brinks angekommen war, begann sie ihr Zerstörungswerk, zerbröselte kalt tosend ein Schachfeld aus Betonplat- ten unter sich. Seit der Wende war der 500 Meter lange Lich- tenhäger Brink, Lebensader des Stadtteils, verfallen: die Geschäfte geschlossen, die Grünanlagen verwil- dert. Immer wieder waren Delegationen der Hanse - stadt Rostock gekommen, über den Brink gegangen, hatten Mängellisten geschrieben, Sanierungskonzep- te, Förderanträge. Letztlich passierte nichts, weil kein Geld da war. Zumindest kein Geld für Lichtenhagen. Nun wurde der Brink aber endlich doch saniert. Die Kaltfräse zerstörte alte Betonplatten, doch eigent - lich war sie ein Bote der Erneuerung für einen Stadt - teil, der seit einem Vierteljahrhundert dazu verurteilt war, in seiner Vergangenheit festzuhängen. Denn so wie der Brink ein Schandfleck war in Lichtenhagen, so war Lichtenhagen selbst als Ort deutscher Schande verschrien. Seit jenen unheilvollen Sommertagen vor 25 Jahren. Der Abend im August 1992A n einem schwülen Samstagabend im Au-gust 1992 versammeln sich 2000 Men-schen vor dem Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen. Sie sind wütend, weil seit Wochen Flüchtlinge aus Rumänien vor dem elfge- schossigen Plattenbau kampieren. Rostocker Jugendliche zertrümmern die Gehweg- platten vor dem Sonnenblumenhaus. Die herausgebro- chenen Steine werfen sie in die Fenster der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber. Es ist der Auftakt für ein Volksfest des Hasses. Auch an den folgenden Tagen beklatschen Tau- sende Anwohner und Schaulustige den Mob, dem sich an den folgenden Tagen Rechtsextreme aus dem gesamten Bundesgebiet anschließen. Sie stärken sich bei der herbeigekarrten Imbissbude „Happi, Happi bei Api“, stimmen in den Chor mit ein: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.“ In der dritten Nacht brennt das Wohnheim der Vietnamesen, ehemalige DDR-Vertragsarbeiter, im Sonnenblumenhaus. Etwa 120 Menschen entkommen dem Tod nur knapp über das Dach. Rostock-Lichtenhagen wird zur Chiffre für of - fen ausgelebten Fremdenhass im wiedervereinigten Deutschland. Der Bundestag verschärft daraufhin das Asylrecht. Offenbar werden nicht die Täter als Problem ge- sehen, sondern die Opfer. D Christa und Franz Stepanek gehören zu den Ureinwoh - nern im Stadtteil, leben seit fast 40 Jahren im Sonnen - blumenhaus 84 ten; draußen vor dem Fenster kreisten und krächzten die Möwen. Bei günstigem Wind hörte ich das Auf - einanderkrachen schwerer Eisenteile von den Werften an der Mündung der Warnow. Von der Wohnung im vierten Stock hatte ich gute Sicht auf den Brink. Sobald die Sonne heraus- kam, bevölkerten Familien die Spielplätze. Die Alten hängten ihre Wäsche draußen an die Wäscheleinen, ganz so wie früher, in der DDR. In zwanzig Minuten war ich mit dem Fahrrad am Ostseestrand bei Warnemünde, mit der S-Bahn zügig in der Rostocker Innenstadt. Dort traf ich Men - schen, die sich viele Gedanken über die Erinnerungs- kultur zum Pogrom von 1992 machten. So hatte sich das offenbar seit Jahren verfestigt: dass sie in Rostock Für den Stadtteil und seine Bewohner blieb seit - dem das Stigma. Der Rapper Marteria, der in der Nachbarschaft aufgewachsen war, dichtete in seiner Ode an seine Heimatstadt: „Deine Feinde kennen dich genau, doch sehen in dir nur dein brennendes Haus.“ Ich wollte mehr sehen als das brennende Haus. Ich wollte verstehen, was damals passiert war, und warum Lichtenhagen seine bösen Geister nur schwer los wird. Und ich wollte wissen: Kann das wieder passieren? Also wohnte ich drei Monate in Lichtenhagen. Anfang Februar 2017 zog ich in eine Zweiraumwoh- nung in der Wolgaster Straße. Ein vom Meer kom - mender Nebel verschluckte manchmal die Plattenbau- Im Frühjahr, wenn die Bäume blühen, wirkt der Lichtenhäger Brink am ver- söhnlichsten auf trotz der Schmie- rereien an den Wänden GEO 08 2017 85 mahnend zurückschauen wollten. Und in Lichtenha - gen lieber nach vorn. Im Stadtteil selbst war die Kontaktaufnahme schwierig. Ein Bewohner des Sonnenblumenhauses, bei dem ich klingelte, kam im Freizeitanzug hinunter zur Eingangstür, nur um eines klarzustellen: „Hier im Haus redet niemand mit der Presse.“ Ich besuchte Sitzungen des Ortsbeirats, das Stadt- teilbegegnungszentrum, die Stadtmission auf dem Brink. Alle Menschen dort hatten Sehnsucht nach Aufbruchstimmung. Aber wenn ich Lichtenhagen als Suchbegriff im Internet eingab, fand ich nur Fotos von den Straßen - schlachtenvor dem Sonnenblumenhaus. Fotos von Kindern, die Journalisten – wohl auch für Geld – den Hitlergruß zeigten. Fotos von 1992. Armdrücken mit AbrissbirneMan hatte mich gewarnt vor der einzigen Kneipe in Lichtenhagen: Im Krug sä -ßen die „Übriggebliebenen“. Gleich am ersten Abend baute sich ein betrunke - nes Männlein mit schiefer Nase am holzvertäfelten Tresen vor mir auf und entbot ungefragt einen lächer- lichen Hitlergruß, als wäre es Charlie Chaplin in „Der große Diktator“. Später am Abend wurde das Männ - lein mit Gewalt aus der Kneipe geworfen, jedoch nicht wegen des Hitlergrußes. Nach dieser Nacht gab ich mich lieber nicht als Journalist zu erkennen. Als neues Gesicht hatte man es im Krug schon schwer genug. „Dir ist schon klar, dass das eine Kneipe für Rechtsextreme ist“, fragte mich ein Zecher mit Glat - ze und Jeansjacke nach ein paar Abenden, an denen ich mich mit einem alten Seemann über die DDR unterhalten hatte. Ich ging eingeschüchtert und kam wieder, wurde zum Armdrücken herausgefordert und hatte nach Sekunden gegen einen Mann verloren, den sie „Abrissbirne“ nannten, was gut passte. Der Krug war kein freundlicher Ort. Hier wurde geflucht, wenn ein Spiel von Hansa Rostock im Fernsehen lief und der eingewechselte „Neger“ den Ball nicht abspielte. Hier hauten Männer der Barfrau auf den Hintern, und sie ließ es geschehen. Doch für manche war die Kneipe ein Zuhause. Ich schaute mir Zahlen an: In sämtlichen Statis - tiken der Hansestadt Rostock lag Lichtenhagen in der Gegenwart im Mittelfeld. Als hätten sich seine Bewohner stillschweigend darauf geeinigt, bloß nie wieder negativ auffallen zu wollen. Etwa jeder Fünfte im Wahlkreis Rostock I, zu dem Lichtenhagen zählt, hatte bei der Landtagswahl 2016 AfD gewählt, wie der Durchschnitt Mecklen- burg-Vorpommerns. Leer stehende Wohnungen gab es fast keine. Die Einkommen waren niedrig, doch die Arbeitslosigkeit sank und lag unter zehn Prozent. Nur der Ausländeranteil, der hatte sich seit 1992 ungefähr versechsfacht. Auf 7,7 Prozent, mehr nicht, in Berlin sind es durchschnittlich 30 Prozent. Lich- tenhagen war seit 1992 vor allem älter geworden. In die Eckläden auf dem Brink zogen Pflegedienste ein. M I T 3 5 9 W O H N U N G E N in sieben Aufgängen und gut 700 Bewohnern ist das Sonnenblumenhaus ein Monolith. Aus dem Fenster in der obersten Etage konnte ich die Ostsee sehen. Als blaues Band, verziert mit Containerfrachtschiffen, lag sie am Horizont. saßen die Rentner Dieter Hagen und Günther Struppe. Vor ihnen auf dem Tisch eine Flasche Bier, hinter ihnen eine Vitrine mit einer drapierten Mine - raliensammlung. Beide gehörten 1979 zu den ersten Mietern, die ins Haus eingezogen waren. Mit heraus - forderndem Blick warteten sie darauf, dass ich ihnen Stichworte lieferte. Struppe hatte die Ausschreitungen von seinem Balkon im fünften Stock aus beobachtet, mit einem Gefühl der Ohnmacht, behauptete er. Was hätte er allein schon ausrichten können? „Wer hat bei solchen Zuständen schon das Zeug zum Helden“, fragte er und sagte leise: „Ich nicht.“ Das Verbrechen sei nicht in Lichtenhagen, son- dern in den Amtsstuben ausgeheckt worden, sagte Hagen und zitierte bebend aus Schillers „Glocke“: „Weh denen, die dem Ewigblinden des Lichtes Him - melsfackel leihn. Sie strahlt ihm nicht, sie kann nur zünden, und äschert Städt’ und Länder ein.“ Als das Kampfgeschehen unten auf der Wiese eskalierte, brachte Hagen erst einmal sein Auto in Sicherheit. hagen Mitte der 1990er Jahre leerte, wurden die Platten bauten saniert. schönerung wirkt aber eher hilflos »Wer von uns hat bei solchen Zuständen schon das Zeug zum Helden? Ich nicht« G Ü N T H E R S T R U P P E , Z E I T Z E U G E U N D M I E T E R I M S O N N E N B L U M E N H A U S 86 Ein Traum von UtopiaD ass Lichtenhagen einmal zum Inbegriff einer gescheiterten Vorstadt werden soll-te, wäre Christoph Weinhold nie in den Sinn gekommen. Weinhold, heute 74 Jah- re alt, fiel das Gehen mittlerweile schwer. Trotzdem führte er mich an einem nasskalten Februarabend über den Brink. Er erzählte mir von den Anfängen: wie er als Architekturstudent aus Sachsen nach Rostock gekom - men war. Sich erst in eine Frau, dann in die spröde Landschaft Mecklenburgs verguckt hatte. Christoph Weinhold landete bei den Stadtplanern, dort ließen sie den jungen Mann machen, den die radikalen ur - banen Utopien von Oscar Niemeyer und Le Corbu - sier faszinierten: Wohnhäuser waren pure Funktion, Wohnmaschinen ohne Ornamente. Ab den 1950er Jahren hatte die DDR eine Han - delsflotte aufgebaut. Am Überseehafen und in den Werften wuchs der Bedarf an Arbeitskräften. Neun Stadtteile mit Zehntausenden Wohnungen wurden in industrieller Fertigbauweise hochgezogen. Der neue Stadtteil Lichtenhagen, den Weinhold mit sei - nen Kollegen plante, sollte eine lebenswerte Heimat für etwa 22 000 Menschen werden. 1974 zogen die ersten Bewohner ein. Dass der Stadtteil noch eine Großbaustelle war, auf der sie noch Monate den Arbeitsweg zur S-Bahn in Gum - mistiefeln zurücklegen mussten, störte die Neuan- kömmlinge nicht. Ihre Wohnungen hatten Fernhei - zung, Bad und fließendes warmes Wasser, während viele Altbauten in der im Krieg zerbombten Innen - stadt verfielen. Nach den Plänen der Partei sollte Rostock das „Tor zur Welt“ werden. Später ging es abwärts. Christoph Weinhold zeigte mir die Stelle auf dem Brink, an der sich einmal das mondäne Café Möweneck befand, das nach der Wende abgerissen wurde. Wo ein „Brunnen der Begegnung“ gebaut wer- den sollte, dessen Pläne Anfang der 1990er in der Schublade verschwanden. Wo einmal eine Minigolf- anlage war, für die sich schon zu DDR-Zeiten nie - mand fand, der am Wochenende Schläger und Bälle ausgab, ohne dafür Geld zu verlangen. Als die Wirtschaft der DDR in die Knie ging und das Volk auf die Straße, um das System zu stür- zen, änderte sich in Lichtenhagen alles. N A C H D E R W I E D E R V E R E I N I G U N G werden die aufgeblähten volkseigenen Betriebe Rostocks von der Treuhand abgewickelt. Die Lichtenhäger, eben noch Speerspitze des Sozialismus, leben nun plötzlich in einem Problembezirk mit vielen Arbeitslosen. Was sich dadurch bemerkbar macht, dass die Politik bei ihnen Probleme ablädt. Für junge Menschen kann das Leben in Lichtenhagen heute einsam sein. Viele Familien mit Kindern sind aus dem Stadt- teil weggezogen 87 Im Dezember 1990 wird die Zentrale Aufnahme- stelle für Asylbewerber, die ZAst, im Sonnenblumen- haus eingerichtet, eine einzigartige Dummheit, findet Wolfgang Richter, damals Ausländerbeauftragter der Stadt. Im Sommer 1991 fertigt er einen Briefentwurf für den Rostocker Oberbürgermeister an, der an den Innenminister in Schwerin geschickt werden soll. Er schreibt, dass „gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu Tötungsdelikten nicht auszuschließen sind“. Vor dem Sonnenblumenhaus prügeln sich zu dieser Zeit bereits deutsche Jugendliche mit Asylsuchenden. Ab Ostern 1992 stranden immer mehr rumänische Flüchtlinge vor dem Sonnenblumenhaus, weil sie in der ZAst nicht mehr registriert werden. Die Stadtver - waltung reagiert nicht auf den Wunsch der Anwohner, wenigstens mobile Toiletten aufzustellen. Die Presse schreibt von Flüchtlingen, die angeblich Möwen grillen. Am Tag vor Beginn der Ausschreitungen veröf- fentlicht die „Ostsee-Zeitung“ einen Bericht, in dem Lichtenhäger Jugendliche ankündigen, die Roma am Wochenende „aufzuklatschen“. Dann fliegen Brand- sätze in die zerborstenen Scheiben. Die unsichtbaren VietnamesenA n einem Samstagmittag im April 2017 war Nguyen Do Thinh wieder im bren -nenden Sonnenblumenhaus. Er saß in der Teeküche eines bereits zugesperrten Tabak- und Zeitschriftengeschäfts in Lichtenhagen,in dem er arbeitete, trank sein zweites Bier und erin- nerte sich. Er hört wieder die Beifall klatschende Menge, die Schreie: „Wir kriegen euch alle.“ Seniorenfasching im Begegnungs - zentrum: Längst dominieren im Stadtteil die älte- ren Bewohner 88 Er spürt den Rauch in die oberen Stockwerke dringen. Er sieht eine Gestalt das Treppenhaus hin - aufkommen, in die siebte Etage, in der sie sich ver- barrikadiert haben. Wo sie in der Falle sitzen. Er überlegt kurz, ob er das könnte: einen anderen Menschen töten, bevor er getötet wird. Es ist dann keine rechte Glatze, die aus dem Rauch vor Thinh auftaucht, sondern ein bekiffter Jugendlicher, der den Vietnamesen beistehen will. Ihn müssen sie auf ihrer Flucht vor den Flammen auch noch mitschleppen, neben zwei schwangeren Frauen und den Kindern. Wie sie es schaffen, die Stahltür zum Dach aufzubrechen, weiß Thinh bis heute nicht. Einige Bilder aus der Nacht des Thinh war einmal der einzige vietnamesische Vertragsarbeiter gewesen, der zu DDR-Zeiten in Ros - tock einen Meisterbrief machte. Nach dem Pogrom gründete er mit seinen Landsleuten den Begegnungs - verein Diên Hông. Thinh wurde zu einer Stimme gegen Alltagsrassimus. Bald fühlte er sich wie ein Politiker. Dabei wäre er lieber Ingenieur geworden. „Du bist immer für alle anderen da, nur für deine Familie nicht“, sagt seine Frau eines Tages zu Thinh. Die Ehe zerbrach. Seit April 2017 arbeitete er in dem Tabak- und Zeitungsladen in Lichtenhagen, weil er Geld verdie- nen musste. Kam ein dummer Spruch, „Warum dau- ert das so lange? Kann der Vietnamese nicht rechnen?“, überlegte er es sich zweimal, den Mann zur Rede zu stellen. Es waren doch auch Kunden. In Rostock lautet ein Kompliment über die Viet - namesen: „Die siehst du gar nicht.“ Nguyen Do Thinh war im Begriff, wieder unsichtbar zu werden. Die Entfremdete und der PolizistI ch saß bei Rosemarie Melzer am Küchentisch. Ihr schossen augenblicklich Tränen in die Au-gen, wenn sie von den Kindern erzählte, die in der Feuernacht vor ihrer Tür stehen. Die Viet- namesen und ihre einheimischen Unterstützer laufen damals etwa hundert Meter über das Dach, brechen die Dachluke in der Mecklenburger Allee 15 auf und klingeln an den Türen der Hausbewohner. Erst die Melzers in der untersten Etage lassen die verängstigten Frauen und ihre Kinder in ihre Wohnung. 1997 zogen die Melzers in ein Einfamilienhaus im benachbarten Dorf Elmenhorst, weil sie es in Lichtenhagen nicht mehr aushielten. Das Vertrauen in die Hausgemeinschaft war weg. In einem Fernseh- beitrag erkannte Melzer eine ehemalige Nachbarin wieder, die den Randalierern damals applaudiert hat- te und sich nun als kritische Zeitzeugin präsentierte. Manchmal, da träumt Rosemarie Melzer noch von der Schlacht vor ihrem Fenster und den Hub - schraubern am Himmel. Nach Lichtenhagen fährt sie bis heute nur, wenn es nicht anders geht. Ich fuhr nach Kiel zu Oliver Pohl, den sein Ein- satz als Polizist in Lichtenhagen derart mitgenommen Zu DDR-Zeiten galten Lichtenhagens Plattenbau - ten als Sinnbild für ge - lungene Stadtplanung. Die Wohnungen sind wieder begehrt, auch wegen der Nähe zur Ostsee »Ich überlegte: Könnte ich jemanden töten, bevor ich getötet werde?« NG U Y E N D O T H I N H E R I N N E R T S I C H A N D I E N A C H T I M B R E N N E N D E N H A U S GEO 08 2017 89( W E I T E R A U F S E I T E 9 2 ) 90 Ein Kompliment für die Vietnamesen in Lichtenhagen lautet: »Die siehst du gar nicht.« Das gilt auch für Quynh im Asia-Imbiss an der Bützower Straße GEO 08 2017 91 5 km GEO-Graf ik Lichten- hagen GroßKlein Evers- hagen Rostock Warnemünde Mitte O s t s e e W a rnow hatte, dass er kündigte und Krankenpfleger wurde. Pohl, 46, saß an einem Dienstagabend im März 2017 in einem Studentencafé in der Kieler Innenstadt und erinnerte sich noch genau, wo ihn damals der Anruf erreichte: Er spielt an dem Montagabend gerade Thea- ter in Mölln. Gegen 22 Uhr fährt Pohl mit seinem roten Polo Fox die Auffahrt hoch, als ihm seine Schwiegermut- ter entgegengelaufen kommt: „Du musst sofort in die Kaserne.“ Pohl ist zu dieser Zeit ein 21-jähriger Beamter beim Bundesgrenzschutz in Schleswig-Holstein. Er ist im Nahkampf ausgebildet, verheiratet und hat eine vier Wochen alte Tochter, Merle-Marie. Pohl kennt die entfesselte Gewalt auf deutschen Straßen: Er hat den Häuserkampf zwischen Hausbesetzern und der Polizei in Hamburg und Berlin miterlebt, war bei Einsätzen gegen Hooligans im Osten und bei den rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda im Sep- tember 1991 dabei. Doch etwas ist anders in der Nacht von Lichten - hagen: Pohl erinnerte sich an die Hektik in der Ka - serne, an das Briefing, in dem von „bürgerkriegsähn- lichen Zuständen“ die Rede ist. An die Kälte auf dem Flug von Lübeck-Blankensee nach Rostock. Im Hubschrauber denkt Pohl an seine schlafende Tochter. Es sind die Minuten, in denen sein Trauma beginnt, glaubt er heute. Die Vietnamesen um Nguyen Do Thinh sind bereits mit Bussen weggebracht wor - den, als Pohl sich in die Polizeikette vor dem Sonnen- blumenhaus einreiht. Steine regnen auf die Polizisten ein, sie kauern hinter ihren Schilden. Im Nahkampf mit hasserfüllten Männern, die nicht älter sind als er, geht Pohls Schlag- stock zu Bruch. Was ihn aber am meisten aus dem Konzept bringt, sind die Menschen hinter ihm. Anwohner auf den Balkonen des Sonnenblumenhauses stacheln die Meute an. Bei dem Polizeieinsatz geht fast alles schief. Der Einsatzleiter fordert zu spät Verstärkung an, weil er denkt, „am Montag gehen die Randalierer wieder arbeiten“, wie er das aus Westdeutschland gewohnt ist. Warum sich aber zwei Hamburger Hundertschaf - ten in der Brandnacht vom Sonnenblumenhaus zu - rückziehen, ohne dass frische Einheiten bereitstehen, kann er auch heute noch nicht erklären. Ein einheimischer Polizist, der in diesen Nächten ebenfalls in Lichtenhagen im Einsatz ist, kam der Wahrheit wohl am nächsten, als er mir sagte: „Wir haben alle deutsch gesprochen, doch wir haben uns nicht verstanden.“ Doch viele Lichtenhäger wollten nach all den Enttäuschungen der Wendejahre lieber an eine politische Verschwörung glauben. Oliver Pohl bleibt drei weitere Tage in Lichten- hagen, bis die Ausschreitungen abebben. In seiner Einheit wird danach kein Wort über den Einsatz gesprochen. D I E B E L A S T U N G S S T Ö R U N G kommt bei Pohl in den folgenden Wochen. Nachts schreckt er hoch, hört die Schreie der Angreifer aus Lichtenhagen, hat Herzrasen, Schweißausbrüche. Pohl schlittert in eine Sinnkrise, doch beim Arbeitsamt raten sie ihm davon ab, sein Beamtenverhältnis zu beenden. In sein Tagebuch schreibt er: „Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße mit Helm drauf.“ An der Abendschule belegt er Kurse in Psycho- logie und Pädagogik, dann kündigt er doch beim Bundesgrenzschutz. Pohl machte danach eine Ausbildung zum Kran - kenpfleger und Rettungssanitäter. Vier Jahre arbeite- te er im Krankenhaus, ehe er in seinen alten Beruf zurückkehrte und Kriminalbeamter wurde. Seine Tochter Merle-Marie ist mittlerweile selbst Mutter. Und Pohl arbeitet an einem Lesetheaterstück für »Manchmal träume ich noch von der Schlacht« R O S E M A R I E M E L Z E R E R L E B T E D I E B R A N D N A C H T 1 9 9 2 I M S O N N E N B L U M E N H A U S ROSTOCK-LICHTENHAGEN Die meisten Platten - bauten im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen entstanden in den 1970er Jahren, nahe der Ostsee und dem Seebad Warnemünde. Die Vorstadt sollte Wohnraum schaffen für die Werktätigen im Hafen und in den boomenden Werften der Hansestadt. GEO 08 201792 D E L I N E R O . D E ANZEIGEDeutsche Gins 5 Continents SiegfriedStubbenhuk No.10 WindspielNiemand 1 0 % G U T S C H E I N * Z U M K E N N E N L E R N E N C O D E : D E U T S C H E G I N S Die ganze Genusswelt Europas auf DELINERO.de entdecken und entspannt bestellen. Schulen, in dem er von einer Vietnamesin aus dem Sonnenblumenhaus vor dem Ertrinken gerettet wird. Einen Einsatz wie in Lichtenhagen hat er nie wieder erlebt. Tränen der BefreiungE twa vier Stunden nachdem der Polizist Oli -ver Pohl nach seinem Einsatz entkräftet in einer Rostocker Schulturnhalle einschläft, steht Mai-Phuong Kollath im Erdgeschoss des Sonnenblumenhauses, in dem noch kalter Brand- geruch hängt. „Als ich realisiert habe, dass meine Landsleute fort sind, habe ich beschlossen, ein politischer Mensch zu werden“, erzählte Kollath mir an einem Montag im März 2017 in einem schmucklosen Café im Berliner Stadtteil Treptow. Seit Herbst 2016 spielt die 54-jäh- rige Vietnamesin sich selbst auf der Bühne des Ber- liner Maxim-Gorki-Theaters. Vordergründig geht es in dem Stück um weibliche Biografien im Kommu- nismus; als ehemalige Vertragsarbeiterin spielt sie eine der Rollen. Für Kollath werden die Theaterabende zur Selbstentfesselung. Zu DDR-Zeiten hat sie zehn Jahre im Wohn - heim im Sonnenblumenhaus gewohnt und in einer Großküche für Rostocker Hafenarbeiter gearbeitet. Ihre Schwangerschaft musste sie bis zum siebten Mo- nat geheim halten, damit sie nicht zur Abtreibung gezwungen werden konnte. Dann zahlten sie und ihr deutscher Mann 8060 Ostmark Vertragsstrafe an die vietnamesische Botschaft; daraufhin konnte Mai-Phuong Kollath in Deutschland bleiben. Im Sommer 1992 eröffnet das Paar ein Lokal auf einem Campingplatz bei Rostock, das immer wieder von einer Gruppe Neonazis heimgesucht wird, die ihr eigenes Bier mitbringen und ausländerfeindliche Pa- rolen grölen. Schon damals macht Kollath die Erfah- rung, dass ihre Gäste wegschauen. Doch erst nach den Ausschreitungen in Lichtenhagen begreift sie, dass sich der Hass auch gegen sie richtet. Auf der Bühne des Gorki-Theaters bricht Kollath jetzt jedes Mal in Tränen aus, wenn sie ihre Lichten- hagen-Szene spielt. Doch es sind Tränen der Befreiung. „Ich hatte lange so viel unterdrückte Wut in mir, die ich nicht herauslassen konnte“, erzählte Kollath, die mittlerweile als interkulturelle Beraterin in Berlin arbeitet. Dass sich viele ihrer Landsleute aus Lich- tenhagen bis heute schämen, Deutschland Kummer bereitet zu haben, macht sie immer noch traurig. Gibt es diese Scham auch auf der anderen Seite? Der MobW olfgang Richter, der ehemalige Aus-länderbeauftragte, der in der Nacht der Anschläge mit den Vietnamesen im Sonnenblumenhaus eingeschlos- sen war, spricht sich seit Jahren dafür aus, den Pogrom als hiesige Schuld anzuerkennen. In Lichtenhagen ist er daher nicht gerade beliebt. Als im September 2015 wieder Flüchtlinge nach Rostock kommen, zeigt die Stadt ein freundliches Gesicht. Weil die Verwaltung nicht darauf vorbereitet ist, plötzlich Nadelöhr auf der Flüchtlingsroute nach Schweden zu sein, koordinieren das linke Jugendalter- nativzentrum und die eigens gegründete Initiative „Rostock hilft“ monatelang die Unterbringung und die Weiterfahrt der Flüchtlinge mit Fähren. Das bürgerschaftliche Engagement ist auch eine Antwort auf die Wunde von Lichtenhagen, sagten die Flüchtlingshelfer, mit denen ich sprach. Doch unter „Nie wieder!“ verstanden einige in den Rostocker Plattenbauvierteln etwas anderes: Sie wollten keine Fremden vor ihrer Tür haben. In Evershagen tagte an einem Dienstagabend im Januar 2017 der Ortsbeirat im Mehrgenerationenhaus. Mit Widerstand war zu rechnen. Auch in Evershagen, »Ich hatte so viel unter - drückte Wut in mir« M A I - P H U O N G K O L L A T H A R B E I T E T I H R L I C H T E N H A G E N - T R A U M A I M T H E A T E R A U F Im Krug wird der Reporter zum Armdrücken gefor- dert und bleibt chancenlos gegen die lokalen Größen GEO 08 201794 ab 9 ab 5 HIER BESTELLEN: 040/55 55 89 90 www.geo.de/ferienhefte Die Langeweile kann zu Hause bleiben! Mit dem GEOmini Ferienheft und dem GEOlino Machbuch. einige Straßenbahnstationen von Lichtenhagen ent - fernt, steht ein Sonnenblumenhaus. Hier hat Joachim Gauck zu DDR-Zeiten als Pastor gewirkt. Hier wohnt das Flüchtlingsmädchen Reem Sahwil, das 2015 berühmt wird, weil Angela Merkel es bei einem Bürgerdialog zum Weinen bringt. Der Islamische Bund wollte ein ehemaliges Kaf- feehaus im Wohngebiet kaufen, um es als Gebetsraum zu nutzen. Die muslimische Gemeinde war deutlich gewachsen, seit im Herbst 2015 Flüchtlinge nach Rostock gekommen waren. Viele Gläubige mussten seitdem im Freien beten, weil im Gebetsraum, einer Baracke in der Nähe des Rostocker Hauptbahnhofs, nicht genug Platz war. Doch die Sitzung hatte kaum begonnen, da ging der Tagesordnungspunkt in wüsten Pöbeleien von etwa hundert Anwesenden unter. Bei einer zweiten Sitzung einen Monat später sind die Störer wieder da. Ein Mann von der AfD sitzt in der ersten Reihe und fordert einen Bürgerent - scheid. Hinten stehen Männer mit kurzen Haaren und schwarzen Anoraks. Sie hetzen völlig ungeniert: „Wir wollen die Scheiße nicht.“ „Die sehen schon an- ders aus, das ist das Problem.“ „Warum wird das nicht im Wald gebaut? Buchenwald.“ „Ich krieg die alle unter im Krematorium.“ Eine Frau mit kurzen roten Haaren zischt: „Dann bekommen wir wieder Zustände wie in Lichtenhagen. Und das will doch keiner.“ Nie wieder. Zwei Wochen später wird die Tür des leer ste- henden Gebäudes nachts mit Kreuzen beschmiert. Bei Facebook schreibt ein User: „Am besten anzünden.“ Die Drohung mit einem „neuen Lichtenhagen“ gehört in rechten Kreisen zum Standardrepertoire. Und die Einschüchterung funktioniert: Als 2011 in Evershagen ein interkultureller Garten entstehen soll, wird eine Unterschriftenliste gegen das Projekt her- umgereicht, Anwohner stürmen die Ortsbeiratssit - zung. Am Ende stimmen die ehrenamtlichen Politi - ker gegen den Garten. In Groß Klein, dem Nachbarstadtteil von Lich - tenhagen, stehen sich im Sommer 2016 rechte Grup- pen und Gegendemonstranten vor einer Betreuungs - einrichtung für minderjährige Flüchtlinge gegenüber. Die Stimmung ist aufgeheizt, Rostocks Sozialsenator lässt die Jugendlichen auf andere Häuser verteilen. Für Rostocks rechtsextreme Szene ist es ein Erfolg. A N E I N E M S A M S T A G I M A P R I L veranstalteten Rostocker Vereine ein „Frühlingsfest der Kulturen“. Die Ortsbeiräte waren gekommen und die Freiwilli - ge Feuerwehr. Syrische Frauen hatten gebacken, ihre Kinder spielten auf der Wiese. Mit allzu vielen Besu- chern aus Lichtenhagen hatten die Ortsbeiräte oh - nehin nicht gerechnet; sie wussten, wie reserviert die Stimmung gegenüber Flüchtlingen war. Dass am Ende aber gar niemand zu dem Fest kam, trotz all der Flugblätter, die sie im Wohngebiet in die Briefkästen gesteckt hatten, das wurmte Rainer Fabian, den Lei - ter des Begegnungszentrums, dann doch. Stattdessen hatte er wegen des Flugblatts am darauffolgenden Montag eine Unterlassungserklärung im Briefkasten, weil ein Anwohner schon das Flug- blatt als Belästigung empfand. Die Bilanz nach drei MonatenV ielleicht war es ein Zeichen, dass es in den drei Monaten in Rostock zwar Angriffe auf Migranten und Flüchtlinge gab, je-doch nicht im Stadtteil Lichtenhagen. Dort lernten nun auch die ersten syrischen Kinder an der Hundertwasser-Gesamtschule Deutsch. Wandel braucht Zeit, heißt es. Für einen Ort, der so lange im Gestern festhing, war es wohl schwer, Fremde auch als Bereicherung zu sehen. Sicher war es gut, dass der Brink saniert wurde. Vielleicht würde er den Lichtenhägern das Gefühl zurückbringen, dass sie nicht bloß eine Rollespielten, wenn es darum ging, sich für sie zu schämen. CHRISTOPH DORNER wäre am Ende gern noch länger in Lichtenhagen geblieben: Er hatte seine Joggingstrecke entlang der Ostsee lieb gewonnen. Für die Fotografinnen BIRTE KAUFMANN und INA SCHOENENBURG lag die Herausforderung darin, die Schönheit des Stadtteils hinter all seinen Plattenbauten zu suchen. Vorsichtige Annäherung: Bei der Party im Nordlicht treffen sich Tänzer und einsame Herzen GEO 08 201796 Jetzt scannen, lesen und Probeabo bestellen. Oder direkt unter www.brandeins.de spezial D € 14,80 // A € 16,80 // CH sfr 23,00 I € 19,70 // B, NL, LUX € 17,50 // GR € 20,90 —DOCU M E 14 — SKULPTUR-PROJEKTE M ÜNSTER D O C U M E N T A I N A T H E N : Die Reportage vo m zweiten Standort D E R G R O S S E B I L D B E R I C H T A U S K A S S E L Die Weltkunstschau PLUS SKULPTUR-PROJEKTE: DER RUNDGANG DURCH MÜNSTER Alle Highlights, Hintergründe, Tipps Das Magazin zum Kunstereignis des Jahres! NEU Das ART- Sonderheft jetzt am Kiosk LESEPROBE E D I T O R I A L LIEBE LESERIN, LIEBER LESER, endlich ist sie zurück in Kassel! Die Documenta ist heimgekehrt von ihrer langen Reise nach Athen, den Erkundungsfahrten zu den Kontinen- ten der Kunst, durch die staubtrockenen Ebenen der Theorie und über die Schlachtfelder und Konfliktgebiete aller Zeiten und Völker. Sie hat sich verändert dabei. Wer den poetischen Spaziergang durch die Pavillons in der Karlsaue von vor fünf Jahren in Erinnerung hat, wird sie womöglich nicht wiedererkennen! So asketisch, so streng, fast verbittert ist sie unter der Leitung von Adam Szymczyk in ihrer 14. Ausgabe geworden. Aber so ist nun mal das Erfolgsprinzip, das die Documenta zur wichtigs - ten Kunstausstellung weltweit gemacht hat: Mit der künstlerischen Leiterin, mit dem Leiter erfindet sie sich immer wieder komplett neu. In einem Prozess von dreieinhalb Jahren zwischen Berufung und Eröffnung hat sie, hat er komplette Freiheit und ein Budget ohnegleichen, eine Ausstellung zu entwerfen, die den Zustand der Welt reflektiert und den Status der Kunst manifestiert. Aus einer Uridee entwickelt sich dabei ein Konzept, es bildet sich ein Team, es formuliert sich eine Botschaft, die vermittelt werden will. Die Documenta 14 hat es sich schwer gemacht mit dem Umzug nach Athen, wo sie vom Ort der Krise und dem Ort des Ursprungs der westlichen Zivilisation lernen wollte. Und es wurde ihr schwer gemacht. Zur Finanz- krise, die dazu der Anlass war, kamen das Flüchtlingselend, die Schläge des Terror-Wahnsinns und am Ende auch noch ein gewisser Donald Trump. Irgendwo auf diesem langen Marsch unter der Peitsche der Ereignisse ist, so scheint mir, dieser D ocumenta das Vertrauen in Kraft und Eigenheit der Kunst abhanden gekommen. Dazu macht sie es den Besuchern höllisch schwer, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Sie verrät ihm fast nichts über die Künstler und postuliert, wo sie denn etwas erklärt, oft unausgegoren und dogmatisch. In diesem Heft wollen wir es Ihnen leicht machen: Wir sind mit großem Team nach Athen und nach Kassel gefahren und dabei, als Ihre Kundschafter, tief in die Aus- stellung eingetaucht. Wir hatten großartige Fotografen dabei, um Ihnen die besten Bilder zu liefern. Alles zu dem Zweck, Ihnen Einsicht und bleibende Einblicke in die maßgeblichste Kunstausstellung der Welt zu geben. Denn das ist D ocumenta : Man braucht nicht jede Ausgabe zu lieben – aber gesehen haben muss man sie alle! TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de Von einer langen Reise, die die documenta stark verändert hat Viel mehr als ein »Postskriptum«! Nur alle zehn Jahre finden Kasper Königs phänomenale Skulptur-projekte in Münster statt. Warum man auch dieses Kunstereignis unbedingt erleben sollte, lesen und sehen Sie ab Seite 132. DOCUMENTA 14 Termine: Athen bis 16. Juli, Kassel bis 17. September. Geöffnet: täglich 10–20 Uhr. Eintritt: Tageskarte 22 Euro, (ermäßigt 15 Euro), Zwei- Tages-Karte 38 Euro (ermä - ßigt 27 Euro), Familienkarte 50 Euro. Kinder bis zehn Jahre frei. Abendkarte ab 17 Uhr 10 Euro (ermäßigt 7 Euro). Info: Unser kostenloses Service-Booklet und weitere Informationen gibt es an den Servicepoints des Hauptsponsors Spar - kasse am Friedrichsplatz in Kassel und vor dem Hauptbahnhof in Münster. Gruppenbild auf Kunst von Andreas Angelidakis: das Team der documenta 14 in Athen Zur Eröffnung in Kassel tanzte Alexandra Bach- zetsis (in Rot) den Sirtaki – und ihr Partner Adam Szymczyk (in Schwarz) fand es wunderbar 3 148 Seiten Kunstsommer! documenta 14 und Skulptur-Projekte Münster als Heft im Großformat HI GH LI GH TS Die documenta ist aus Athen heimgekehrt! Hier unser großer Rundgang durch die Weltkunstschau in Kassel – geordnet nach Stationen, erklärt und versehen mit unserer Bewertung T E X T E : M I R J A R O S E N A U , R A L F S C H L Ü T E R , T I M S O M M E R , U T E T H O N F O T O S : N O R B E R T M I G U L E T Z , H E L E N A S C H Ä T Z L E Schaulaufen! Die Stadt als Laufsteg - 98 HI GH LI GH TS Wohnröhren - 1514 Mit dem Auszug nach Griechenland hat die documenta ihren Anspruch auf Welterklärung untermauert. Dem Verhängnis einer fatalen Gegenwart will Adam Szymczyk neue, offene Räume entgegensetzen. Ein Rundgang durch die documenta in Athen T E X T : R A L F S C H L Ü T E R , F O T O S : J A N N I S C H A V A K I S Auf dem Filopappou-Hügel: Die Künstlerin Rebecca Belmore hat ein Flüchtlings- zelt aus Marmor gebaut. Im Hintergrund die Akropolis 66 67 Der komplette Rundgang Alle Highlights der documenta in Kassel in exklusiven Bildern und Berichten Die Reportage aus Athen Alles zum zweiten Standort der documenta in Griechenland in einer großen Bilderstrecke Bildstark, kritisch, aktuell: das ART -Sonderheft zur d14 Die Ausstellung im Magazinformat: Ob als Vorbereitung oder zur Erinnerung – die- ses Heft ist Ihr perfekter documenta-Katalog! Ay e Erkmen Außer intellektuellen Bezügen bietet der Unterwassersteg im Stadthafen ganz simpel auch Erfrischung. Es lohnt sich, diese Arbeit am Abend zu besuchen – bei Sonnenunter- gang wirkt sie besonders magisch! Von 20 bis 12 Uhr ist sie allerdings geschlossen ON WATER, STADTHAFEN 133 Er erfand die wichtigste Weltausstellung moderner Kunst: Arnold Bode war ein Glücksfall für die Kunstwelt und eine Herausforderung für seine Heimatstadt Kassel T E X T : A N G E L I K A K I N D E R M A N N , F O T O S : D O C U M E N T A - A R C H I V 104 KR IT IK LLinks in der Eingangshalle der Neu --eN Galerie, dem Herzstück dieser docume Nta in Kassel, hängt eine Zeichnung von Gustave Courbet: Zeichnung von Gustave Courbet: Almosen eines Bettlers in Ornans . . Da Courbet (1819 bis 1877) nicht ge -- rade ein zeitgenössischer Künstler ist, den man auf der docume Nta erwartet, liest man den Be -- gleittext an der Wand besonders neugierig. Dort erfährt man Folgendes: »Am ehesten« lasse sich diese Grafit-Zeichnung als »Meditation über die Macht des Teilens und der Solidarität verstehen«. Macht des Teilens und der Solidarität verstehen«. Damit nehme Courbet »die Dringlichkeit pro -- phetisch vorweg, alternative Ökonomien zu er -- finden und dem neoliberalen Würgegriff auf finden und dem neoliberalen Würgegriff auf unsere menschliche Existenz zu entkommen«. In diesen zwei Sätzen steckt bereits das We -- sentliche, um die Herangehensweise von Adam Szymczyk und seinem Kuratorenteam an diese Doppel- docume Nta in Athen und Kassel zu ver -- stehen. Aber auch viel, um den Zorn mancher Be -- sucher auf diese 14. Ausgabe zu begreifen.Der be -- lehrende Habitus, mit dem hier erklärt wird, wie man Courbets Werk »am ehesten« zu verstehen habe, gehört ebenso zu den charakteristischen Merkmalen dieser Super-Schau wie die Fixiert -- heit auf moralische Kategorien: Hier die gute »Solidarität«, dort der böse »Neoliberalismus«. Doch die Erläuterung zu Courbets vielschich -- tiger Skizze zeigt auch die Crux dieser Prediger-tiger Skizze zeigt auch die Crux dieser Prediger- Haltung: Der gute Sinn verrutscht leicht ins bös Absurde. Oder wie wird sonst das Betteln zu einer Absurde. Oder wie wird sonst das Betteln zu einer Prophezeiung alternativer Ökonomien? Und wie könnte traurige Obdachlosigkeit ein politischer Weg sein, um aus dem »neoliberalen Würgegriff« Weg sein, um aus dem »neoliberalen Würgegriff« zu entkommen? Manch eine »menschliche Exis -- tenz« stand zur Eröffnung der d14 vor diesen Orakeln und lachte spontan los. Das wäre nur eine Randnotiz für eine Ausstellung mit über 160 Künstlern an mehr als 30 verschiedenen Orten allein in Kassel, wäre diese gedankliche Entgleisung nicht so symptomatisch. Denn diese docume Nta ist nicht von der Kunst her gedacht, sondern von der Theorie. Das zeigten schon die vielen Statements und Essays im Vorfeld der ersten Eröffnung Anfang April in Athen oder auf den Pressekonferenzen in den beiden Städten, wo Szymczyks Kuratoren den Journalisten die Globalisierung oder ihren Gen - der-Standpunkt erklärten. Hier wurde eindeutig klargestellt: Im Verständnis des künstlerischen Leiters und seines Teams hat Kunst einen Zweck. Es gilt, die Besucher einen Unterrichtsstoff zu lehren über die Unterdrückung in der Welt, und dafür benutzt man Künstler als Lehrmittel. Das ist die Schule von Athen und Kassel. Nirgends wird dieser didaktische Grundton so laut angestimmt wie in der Neue N Galerie. Hier sind Raubkunst und Sklaverei, Gender-Fragen und Kolonialismus, kulturelle Hegemonie und Nationalismus die beherrschenden Themen, für die Kunstwerke als Illustration gebraucht werden. Da wird etwa in einer umfangreichen Abtei - lung, in der mit Belegstücken von Georg Wil - helm Friedrich Hegel und Leo von Klenze bis zu Theodor Heuss und Arnold Bode das problemati - sche Verhältnis von Deutschland zu Griechen - land thematisiert wird, der ganze Klassizismus pauschal als Treibstoff des deutschen Nationalis - mus denunziert. Denn Johann Joachim Winckel - manns »Interpretation der griechischen Skulp - tur als ideale Schönheit« wäre leider »schnell politische Realität« im »Kontext des deutschen Imperialismus« geworden. Mit der Regentschaft des Bayern Otto als König von Griechenland ab 1832 (also 64 Jahre nach Winckelmanns Tod!) hät - te sich das klassizistische Projekt erfüllt in der »Aneignung Griechenlands als konstitutives Symbol« für die »deutsche Kunst und Kultur«. Wenige Meter weiter erhält der Künstler Ernst Lorenz Böttner (1959 bis 1994) einen sehr großen Auftritt, weil er in jungen Jahren beide Arme verlor, dann begann, mit Mund und Füßen zu malen, und schließlich sein Geschlecht von Mann zu Frau wechseln wollte und sich »Loren - za« nannte. Böttners Leben ist also vor allem eine komplexe Geschichte über seinen Kampf um Identität. In dieser Thesenschau muss Bött - ner aber als Kronzeuge für das Anprangern kapi - talistischer und sexistischer Ausgrenzungsten - denzen auftreten. Wobei ihm sein künstlerischer Wert von den Kuratoren dadurch bestätigt wird, dass der Fußmaler mit »performativen Technolo - gien« an der »Erschaffung einer armlosen Trans - gender-Subjektivität« gearbeitet habe. Auch hier kann man sich trotz der leidvollen Geschichte ein Lachen über den Sprachquark kaum verkneifen. Diese documenta ist nicht von der Kunst her gedacht, sondern von der Theorie KUNST-ERZIEHUNG Keine documenta hatte so große Ambitionen wie diese. Und keine hat für den Besucher so hohe Hürden errichtet. Das Hauptproblem aber ist: Adam Szymczyk und seine Kuratoren nehmen ihre Thesen wichtiger als die Kunst und die Künstler. Warum die d14 gründlich danebengegangen ist – und es sich trotzdem lohnt, nach Kassel zu fahren Bilderflut, die rat- und hilflos macht: Michel Auders Installa - tion im ehemaligen unterirdischen Bahnhof vermengt alles Schlechte mit allem Bösen Gustave Courbets Skizze eines Bettlers, der noch was abgibt, wird zur prophetischen Kapitalismuskritik flachgedeutet K R I T I K : T I L L B R I E G L E B 2726 LESEPROBE Haltung und Hintergrund Eine umfassende Kritik der Ausstellung, alles zu den Ideen der Macher und zur Geschichte der Weltkunstschau Skulptur- Projekte Münster Der große Sonderteil zum anderen Höhepunkt des Kunstsommers in Deutschland J et zt AM KIOSK ODER ZU BESTELLEN www.art-magazin.d e/documenta Telefon: 55 55 Exklusiv für Abonnenten versandkostenfrei! Oder unter www.art-magazin.d e/angebot kostenlos im Abo sichern Mit Fantasie – und Nährlösung. In seinem Haupt job leitet Tal Danino ein Labor an der Columbia University und trainiert Bakterien dar - auf, Krebszellen aufzuspüren. Nebenbei macht der Biologe mit Keimen Kunst. Dafür platziert Danino die Bakterien in eine Schale mit Nährgel, das die Umrisse des Kunstwerks skizziert. Wie genau die Umrisse gefüllt werden, hängt jedoch von der Art und dem Wachstum der Bakterien ab. So kommt es, dass eine Bakterie aus dem Darm als Künstler farbige Wolken malt. Wie schaffen Bakterien ein Kunstwerk? GEO 08 2017 103 361 ° Weiter fragen Ja, meint ein Profiler aus München, der sich dieses besonders „kalten“ Falles angenommen hat. Angelika Fleckinger und ihre Kollegen hatten nichts Böses getan. Und doch wurden sie nun wegen eines Mordes verhört. Eines Mordes, der mehr als 5000 Jahre zurückliegt. Fleckinger ist Direktorin des Südtiroler Archäologiemuse- ums, der Ruhestätte von „Ötzi“. Die Eismumie gilt als der am besten untersuchte Patient der Welt: Forscher haben Ötzis abgenutzte Zähne untersucht, Parasiten in seinem Darm gefun - entdeckt. Ein Sensationsfund, der nahelegt, dass der Mann wohl ermordet wurde. Seitdem gibt es zahlreiche Interpretationen zum Leben und Sterben des Mannes aus dem Eis. Vor drei Jahren begann der Münchner Fallanalytiker Alexan- der Horn, Spezialist für die Aufklärung von Mordfällen, die Mordsache Ötzi zu untersuchen. Horns Erkenntisse ergeben nun ein recht detailliertes Bild der letzten Stunden des Eismannes. „Zunächst dachte ich, dass der Fall schon zu lange zurück- liegt“, sagt Horn. „Doch Ötzis Leichnam ist in einem besseren Zustand als manches Opfer einer erst kürzlich begangenen Blut - tat.“ Horn und Fleckinger gehen mittlerweile davon aus, dass Ötzi bereits in einen Kampf verwickelt war, kurz bevor er zu der letzten Gebirgstour aufbrach. An seiner rechten Hand findet sich eine Schnittwunde, die Anzeichen einer Heilung zeigt. Horn schloss daraus, dass die Wunde zwei Tage vor dem Tod entstand. Vermutlich gewann der „Eismann“ einen Streit, bei dem er den Kontrahenten tötete. „Das würde ein Motiv für einen Rachemord an Ötzi geben“, sagt Fleckinger. Einen Raubmord schließt Horn praktisch aus: Die damals sehr wertvolle Kupferaxt wurde bei dem Leichnam belassen. Andererseits hatte Ötzi offenbar keine Eile verspürt, vor jemandem davonzulaufen. Denn kurz vor seinem Tod hatte er auf etwa 3000 Meter Höhe in aller Ruhe ein reichhaltiges, zum Teil frisch gekochtes Mahl zu sich genommen. So etwas tue man nicht, wenn man vorrangig auf Flucht bedacht sei, meint Horn. Auch wenn sich die Hintergründe der Tat nicht mehr auf - klären lassen, findet die Wissenschaft doch immer wieder neue Einzelheiten über den Eismann heraus. So könnte der Mann aus der heutigen Toskana stammen, denn von dort stammt auch das Kupfer seiner Axt. Wurde »Ötzi« Opfereines Rachemordes? Die gut konser vierte Leiche des »Eismannes« erlaubt noch heute gute Rückschlüsse auf Ötzis Ende 361° GEO 08 2017104 Auf einer Reise mit den Cunard Queens laden wir Sie ein, ausgefallene Orte und Kulturen zu entdecken. Ob Sie mit an Land gehen oder an Bord bleiben – wir versprechen Ihnen: kein Tag wird wie der andere sein. Erfahren Sie mehr auf cunard.de Cunard. Die Eleganz des Reisens. Was Sie am Landausflug hindern könnte: Der Komfort an Bord. Kunde: Plan.Net Format: 213 x 100 mm Auftrags-Nr.: 304713 Kampagne/Etat: Cunard Beschnitt: 5 mm Operator PK Motiv/Name: Entspannung MBZ/BGE/SF: Kundenfreigabe Tel. +49 40 25109-0 | albertbauer.com Publikation/ Art GEO (DU: 29.06.2017) Profil: PSR SC PLUS v2 PT ABC-Geprüft Kontakt: Stefan Klöpper Trapping: nein Revision 0.2 - sity College London leitet das Institut für Nachhaltiges Kulturerbe. Dort erforscht er Duftmarken der Vergangenheit. GEO: Was fasziniert Sie an Gerüchen? Ich bemerkte, dass einige Biblio- thekare an alten Büchern rochen, um de- ren Alter festzustellen. Als Chemiker woll- te ich den Zerfall von Büchern analytisch beschreiben – anhand des Geruchs, also der flüchtigen organischen Verbindungen, die das Papier abgibt. Wir untersuchten mehr als 70 Papiersorten. Die instabilen Papiere rochen durch die Essigsäure sauer. Andere rochen durch Vanillin, das sich gebildet hat, sehr süß, eben nach Vanille. Gilt das auch für andere Gegenstände? Ich denke schon. Wir haben auch altes Plastik untersucht. Manche Plastikpuppen riechen nach Essig – ein Hinweis darauf, dass sie schnell erodieren und einen hohen Anteil von Essigsäure enthalten. Hat die Studie denn auch einen prakti - schen Nutzen? Wir haben das einmal im Birmingham Museum ausprobiert. Die meisten Besu- cher erkannten den Geruch wieder, viele hatten tolle Beschreibungen parat. Um also alte Gerüche wieder lebendig zu ma- chen, brauchen wir nicht nur die chemi- sche Zusammensetzung, sondern auch die persönlichen Eindrücke und Erinnerun - gen der Menschen. Geruchstechnisch gesehen: In welche Epoche würden Sie gern einmal reisen? Wohin auch immer die Reise gehen würde: Ich würde mich sicher in einer ziemlich stinkenden Umgebung wiederfinden. Denn erst in den letzten 150 Jahren verbesserte sich die Hygiene merklich. Davor rochen die Straßen ziemlich streng nach Urin und Exkrementen. Welches Ihrer Bücher riecht am besten? Wahrscheinlich das Kochbuch meiner Großmutter. Ehrlich gesagt aber nicht wegen des Papiers, sondern weil ich ihre Kochkünste immer sehr zu schätzen wuss- te. Zum Geruchserlebnis gehört eben auch viel Erinnerung. Durch unsere Einordnung können Res - tauratoren Werke aufstöbern, die einer Konservierung bedürfen. Zudem hat Ge - ruch einen Einfluss bei Ausstellungen: Wenn wir eine Bibliothek oder ein histo- risches Gebäude betreten, erwarten wir bestimmte Düfte – und wenn die fehlen, ist irgendetwas verkehrt. Das ist auch das Problem vieler Museen, in deren steriler Umgebung es oft keinen alten Geruch gibt. Ist es denn möglich, Gerüche der Ver- gangenheit zu rekonstruieren? Wonach riechen alte Bücher? Vanilleduft oder Essiggestank: Am Geruch lässt sich der Zustand alter Bücher und Dokumente erkennen K U R I O S E F O R S C H U N G Z A H L E N Z U M S T A U N E N 208 Mineralien würde es ohne den Menschen gar nicht geben. Nur in menschengemachten Tunneln, Uranminen oder durch industrielle Fertigung entstanden die Voraussetzungen zur Bildung dieser kristallinen Stoffe. Damit ist ein we - sentliches geologisches Kriterium erfüllt, vom Anbruch des Anthropozäns, also des Menschenzeitalters, zu sprechen. Im Osten der Demokrati - schen Republik Kongo, die seit vielen Jahren unter der Gewalt der Hutu-Miliz litt, träumte der Dorfälteste des Ortes Bulambika 2012 von ei- nem Pulver, das unverwundbar macht – selbst gegen Maschi- nengewehre. Er fand die Zu- taten in einem abgelegenen Wald und verarbeitete sie zu jenem Pulver, das er gri-gri nannte. Zurück im Dorf, verab- reichte er das Wundermittel einer Ziege. Das Tier über- lebte – irgendwie! – den Test- schuss. Die Sage über die magische Kraft des gri-gri verbreitete sich bis über die Dorfgrenzen hinaus. Als die Hutu-Miliz erneut angriff, vollzogen die Krieger von Bulambika das gri-gri-Ritual und vertrie - ben die Miliz. Drei Jahre später war die Gegend befreit. Zufall!, ruft mein aufgeklärter Ver- stand. Es starben doch trotzdem Men - schen, Betrug! Derartige abergläubische Riten und Glück bringende Beschwörun - gen sind doch nur etwas für rückständige Gesellschaften. Als „Humbug“ würde ich ihn heute kurzerhand definieren. Und dennoch: Aberglaube ist unaus- rottbar. Ob die Angst vor Freitag, dem 13., fortwährend nach Mustern. Manchmal sehen wir daher in zufällig gleichzeitig auftreten- den Ereignissen Zusammen - hänge: Das ist der erste Schritt zum Aberglauben. Dennoch: Wie Kölner Psy- chologen um Lysann Damisch herausfanden, spielen Men- schen weit besser Golf, wenn sie davon überzeugt sind, den Glücksball zu schlagen. Sie sind mutiger und glauben eher an die eigenen Fähigkeiten. „Warum es richtig sein kann, falsch zu liegen“, heißt eine Studie von Harvard-Pro - fessor Nathan Nunn über den kongolesi - schen Aberglauben an das gri-gri als Kriegsmittel. Offenbar verlieh das Zau- berpulver den Kämpfern Mut. Auch die Toten, die zu beklagen waren, erschütter- ten ihr Vertrauen nicht: Die hatten das gri-gri offenbar nicht richtig angewendet. Auch Aberglaube versetzt eben Berge. das „Toi, toi, toi“ vor der Prüfung oder das vierblättrige Kleeblatt: Der Hang zum magischen Denken ist bei allen Menschen vorhanden, auch bei mir. Warum nur? Schon 1997 schrieb der amerikanische Psychologe Stuart Vyse in seinem Buch „Believing in Magic“: „Die Folgen unseres Handelns mögen erfreulich sein, traurig, oder keines von beiden. Vorhersehbar sind sie jedoch nur selten.“ Um die Welt bere- chenbar zu machen, sucht unser Gehirn Die Kämpfer der kongolesischen Raia Mutomboki, der Miliz der »Empörten Bürger«, glauben an die Macht eines magischen Armbands: »Gewehrkugeln können uns nichts anhaben« FILIPA LESSING, Praktikantin bei GEO, wünscht sich etwas, wenn man kann ja nie wissen. Kann Aberglaube unverwundbar machen? 361° GEO 08 2017106 N A C H G E D A C H T Die Theorie sagt: Ja. Aber beweisen können wir es leider noch nicht. Was ist negative Masse? Ist ein negatives Kilogramm Mehl leichter und fliegt in den Himmel, wenn man es auf dem Erdboden loslässt? Nach Einstein zieht positive Masse jede Masse an, negative Mas se würde dagegen Masse abstoßen. Das negative Kilogramm Mehl fiele dennoch auf den Boden: weil die Anziehung der masserei cheren Erde deutlich höher wäre als die Abstoßung des Mehls. Wären die Massen aber gleich groß, würden sie in immer größerer Geschwindigkeit hintereinanderher durchs Weltall jagen: Die negati ve Masse wird von der positiven Masse angezogen, schubst sie aber gleichzeitig von sich weg. Forscher von der Washington State University haben zum The ma negative Masse nun einen spektakulären Versuch durchgeführt: Ein Team um den Physiker Michael Forbes kühlte Rubidiumatome fast auf den absoluten Nullpunkt herab, auf rund minus 270 Grad Celsius, festgehalten in einer Art Behälter aus Laserstrahlen. Als Nächstes stupsten die Forscher die Atome mit weiteren Lasern an. Erstaunliches Ergebnis: „Wenn man sie von sich weg stößt, rollen sie stattdessen auf einen zu“, erklärt Michael Forbes. Als hätten sie eine negative Masse. Allerdings wurde der Aufbau dadurch nicht leichter, wie man es für negative Masse erwarten würde. Die Forscher haben lediglich liert wird – daher stoßen sich auch die Atome nicht plötzlichgegen seitig ab und stieben in alle Richtungen auseinander. Trotzdem birgt der Versuch enormes Potenzial: „Dieser Zustand negativer Masse kann in unterschiedlichsten Zusammenhängen auf treten“, sagt Forbes. Zusammenhänge, die nicht direkt experimentell untersucht werden können, etwa bei Neutronensternen oder Schwarzen Löchern. „Der Versuch schafft eine Umgebung, um ein fundamentales Phänomen zu ergründen, das wirklich seltsam ist.“ Gibt es negative Masse? Bliebe ein Haus mit negativer Masse auf dem Boden – oder flöge es ins All? GEO 08 2017 361° 108 Gibt es Wanderdünen auf dem Mars? Jedenfalls gibt es Ähnlichkeiten mit Dünenland - schaften auf der Erde. Das Foto stammt aus der Kamera an Bord des „Mars Reconnaissance Orbiter“, einer NASA-Raumsonde zur Erforschung des Roten Planeten. Wissenschaftler untersuchen damit die ge - naue Struktur der Sandverwerfungen auf dem Mars, die dort ähnlich wie auf der Erde durch starke Winde verursacht werden. Die Stürme erreichen Geschwin- digkeiten von bis zu 100 Kilometern pro Stunde. Durch Vergleiche mit vier Jahre alten Bildern können die Forscher die Veränderungen in dem etwa einen Kilometer langen Dünenfeld erkennen, das sich auf der Nordhalbkugel des Mars befindet. Insgesamt 60 solcher Formationen studiert die NASA auf diese Weise. Das Foto wurde blau eingefärbt, um durch den Kontrast die Konturen der Dünen zu schärfen. GEO 08 2017 109361° Vermutlich geht der Name auf die lateinische Artbe zeichnung Cicer arietinum zurück. Und die wiederum auf hebräisch kikar, „rund“. Denn die Hülsen der Kicher erbse sind weit weniger länglich als die der Gar tenerbse. Auch die englische Bezeichnung chickpea dürfte den gleichen Ursprung besitzen – und hat daher vermutlich nichts mit einem Huhn (chicken) zu tun. So erstaunlich es klingt: Die Schüttellähmung ist eindeutig eine Hirnerkrankung – doch ihre Ursache liegt womöglich im Ver - dauungstrakt. Das geht aus Un tersuchungen des Neuroanatomen Heiko Braak hervor, der seit 2009 als Seniorprofessor am Zentrum für Biomedizinische Forschung des Universitätsklinikums in Ulm forscht. Braak entwickelte die soge nannte Aszensionshypothese, der zufolge die Krankheit im Magen rolle spielt dabei das fehlgefaltete Eiweißmolekül Alpha Synu klein, kung in den erkrankten Gehirn zellen ablagert. Die Alpha Synukleine entstehen wo möglich durch den Einfluss von Umwelt giften – aber auch im Nervensystem des Verdauungstrakts. Von dort, so die Hypothese, klettern die fehlerhaften Proteinablagerungen ins Hirn. Dabei nutzen sie den Vagusnerv und seine Verästelungen wie eine Steigleiter. Frühere Untersuchungen an Mäusen haben gezeigt: Kappt man diesen Nerv, tomie unterzogen hatten. Bei die ser Prozedur, die früher oft zur Behandlung von Magengeschwü trennen Chirurgen teilweise oder komplett den Vagusnerv, der vom Gehirn in den Bauchraum zieht. Diese Vagotomie blockiert die Produktion von Magensäure. Das Ergebnis: Von 9430 Pa tienten, die sich einer Vagotomie unterzogen hatten, erkrankten 101 an Parkinson, was kaum abweicht von der Rate in der Allgemeinbe völkerung. Doch bei denjenigen Patienten, deren Vagusnerv voll ständig durchtrennt worden war, ergab sich ein sehr deutlicher Trend. Gegenüber der Kontroll gruppe war das Risiko, an Parkinson zu erkranken, nach einer vollständigen Vago tomie um 22 Prozent geringer, und wenn der Eingriff mindestens fünf Jahre zurück lag, sogar um 41 Prozent niedriger. Die Forschungen eröffnen neue Per spektiven auf die Behandlung von neuro degenerativen Krankheiten allgemein. Auch der „Rinderwahnsinn“ BSE führt durch den Verdauungstrakt beim Kontakt mit fehlgefalteten Proteinen („Prionen“). wird der Krankheitsprozess verlangsamt. Auch eine Magengeschwüroperation kann die Krankheit bremsen; das hat ein schwe disches Forscherteam statistisch nachge wiesen. Sie nutzten für ihre Studie die nationale Gesundheitsdatenbank, um alle Patienten zu finden, die sich einer Vago W A R U M H E I S S T D I E . . . Kichererbse Kichererbse? Entsteht Parkinson im Magen? Die Ursache mancher neurogenerativen Krankheit könnte sich im Magen-Darm- Trakt verstecken 361° GEO 08 2017110 Markus Lüpertz’ Skulptur „Felicitas“ ist eine Hommage an die gleichnamige, in der römischen jede Skulptur eine individuelle Farbgebung mit unverwechselbarem Unikatcharakter auf. Die 47 cm hohe Bronzeskulptur ist auf 45 + 5 E. A. Exemplare limitiert. Subskriptionspreis: 13.500 €* Gültig bis 31. Dezember 2017, anschließend gilt der aktuelle Marktpreis von 14.000 €** Markus Lüpertz’ bronzenes Meisterwerk mit zeitlosem Charakter. Titel: „Felicitas“ Farbabweichungen bei der Produktabbildung möglich. ** Geschätzter Marktpreis der Galerie Geuer & Geuer ART GmbH. Dies ist ein Angebot der Handelsblatt GmbH, Kasernenstr. 67, 40213 Düsseldorf. Bestellen Sie jetzt zum Subskriptionspreis: handelsblatt.com/luepertz 0800 0002056 Kostenlos aus dem dt. Festnetz, Mobilfunkhöchstpreis 0,42 €/Min. Ja – und das aus dem Boden entfernte Schwermetall lässt sich jetzt sogar kommerziell nutzen. Das ist die Idee beim sogenannten Phytomining. Für diesen „Pflanzen-Bergbau“ eignet sich zum Beispiel das Gebirgs-Hellerkraut, das im Voralpenland wächst. Die Pflanze ist in der Lage, Nickel aus dem Boden aufzunehmen und in extrem hohen Konzentrationen zu speichern. Möglicherweise schützt das Gift die Pflanze vor Fressfeinden. Auch das korsische Steinkraut ist auf Nickel spezialisiert. Es wurde bereits in einem Experiment eingesetzt, um Böden nahe einer Raffinerie zu reinigen. Als man das Steinkraut erntete und verbrannte, konnten aus den knapp 500 Kilogramm Pflanzen- asche mehr als 100 Kilogramm Nickel gewonnen werden. In Albanien lässt sich mit Phytomining Geld verdienen. Am Ufer des Ohridsees pflanzen Bauern „hyperakkumulierendes“ Mauer-Steinkraut auf schwermetallverseuchten Böden. Die Bau- ern bekommen umgerechnet gut 70 Euro pro Tonne des getrock - neten Unkrauts, aus dem sich Nickelsalze gewinnen lassen. Eine Untersuchung der Universität Maryland zeigte, dass die Entgiftungskräuter auch mit ganz unterschiedlichen Boden - bedingungen zurechtkommen – Hauptsache, der Gehalt an Schwermetall ist hoch genug. Dieser blaugrüne Pflan - zensaft, der aus einem Baum in Neukaledonien rinnt, besteht zu einem Viertel aus Nickel Kann man mit Pflanzen Böden entgiften? Fragt man Menschen, wo sie sich gut entspannen können und ihnen neue Ideen kommen, hört man immer wieder: unter der Dusche. Ähnlich oft wird jedoch ein weitaus weniger künstlicher Ort genannt, nämlich draußen in der Natur, beim Sport, an der frischen Luft. Offenbar hat ein natürlich-biologisches Umfeld einen besonderen Effekt auf unser Gehirn: Es entspannt uns, baut Stress ab und legt so die das alles auf einmal und gratis noch dazu! Die Natur beeinflusst auf vielerlei Weise unsere mentalen Effekte: durch die frische Luft, die körper- liche Bewegung, das viele Grün … Doch ein Effekt wurde in der wissenschaftlichen Forschung oft unter- schätzt, nämlich die Geräuschkulisse. Dabei weiß doch jeder, wie entspannend ein lustiges Vogelgezwit- scher sein kann (solange es sich nicht um zwei nervi- ge Elstern handelt) oder wie beruhigend das Meeres - rauschen wirkt. Dieser Effekt ist auch im Gehirn messbar, denn wir organisieren unsere Denkvorgänge neu, wenn wir biologischen Tönen lauschen. Um das zu untersuchen, spielte man Testpersonen im Hirnscanner verschiedene Geräuschkulissen vor. Je nachdem, ob die Klänge eher künstlichen oder na- türlichen Ursprungs waren, änderte sich die Funktion einer Hirnregion, die man Grundeinstellungsnetzwerk nennt. Dieses Netzwerk ist immer dann aktiv, wenn wir uns entspannen und mit den Gedankenumher - wandern. Vogelgezwitscher & Co. führten dazu, dass diese Region so aktiviert wurde, dass man die ange- nehmen äußeren Geräusche tatsächlich zur Stress - reduktion nutzen konnte. Obendrein schnitt man in Aufmerksamkeitstests besser ab als unter Einfluss künstlicher Geräusche. Denn Letztere veränderten die Gehirnaktivität derart, dass man sich plötzlich mehr auf sich selbst konzentrierte – dadurch weniger aufmerksam war und nicht so gut Stress abbaute. Naturgeräusche haben also gleich drei Effekte auf einmal: Sie scheinen unser Gehirn so zu aktivie- ren, dass wir unseren Gedanken freien Lauf lassen können, aufmerksamer sind und gleichzeitig Stress abbauen. Doch außerdem stellte sich in der Studie heraus: Der stressreduzierende Effekt durch eine na- türliche Geräuschkulisse trat vor allem dann auf, wenn die Probanden vorher besonders gestresst waren. Wer sich entspannt untersuchen ließ, für den waren Na - turgeräusche sogar eher stressig, was man durch den Anstieg der Herzfrequenz feststellte. Anders gesagt: Entspannung ist immer relativ – und wer möglichst viel Stress reduzieren möchte, sollte erst mal auch viel Stress haben. Ein Grund mehr, beim Sport in freier Wildbahn auf Kopfhörer und die neueste Fitnessmusik zu ver- zichten. Vielleicht ist es besser, auf seinen eigenen Atem zu hören, so keuchend und unästhetisch er auch ist. Der ist zwar auch menschengemacht – aber wahr- scheinlich inspirierender als die allermeisten Popsongs. Literatur: Gould van Praag C . D., et al. (2017) : Mind-wandering and alterations to default mode network connectivity when lis - tening to naturalistic versus artificial sounds . Sci Rep, 7:45273 DR. HENNING BECK ist Buchautor und arbeitet als Neurobiologe in Frankfurt/Main. Von ihm stammt auch der Beitrag „Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind“ auf Seite 65 dieser Ausgabe. U N S E R H I R N U N D S E I N E W I N D U N G E N Wirken Naturgeräusche entspannend? 361° GEO 08 2017112 Lifta Treppenlifte – nah und zuverlässig – Passt praktisch auf jede Treppe – Saubere, schnelle Montage vom Fachmann – Mehr als 120.000 installierte Liftas – Über 200 Experten – auch in Ihrer Nähe – Lifta Kundendienst, 365 Tage im Jahr Lifta GmbH Horbeller Straße 33, 50858 Köln Gebührenfrei anrufen und Prospekt anfordern – kostenlos und unverbindlich. 0800 - 20 33 165 Auch zur Miete! www.lifta.de* Im Rahmen des Pflegestärkungsgesetzes bei vorliegendem Pflegegrad. Zuschuss-Beratung! Unser Expertenteam berät Sie zu Förderungen für Treppenlifte. Bis zu € 4.000,– Zuschuss p. P. sind möglich!* 1 1912 gab es in den USA ... A etwa so viele E-Autos wie 2016 in Deutschland B Demonstrationen gegen E-Autos C 565 E-Auto-Marken 2 Der kleinste E-Motor ... A ist so groß wie eine Haselnuss B hat die Größe eines Moleküls C ist klein wie ein Stecknadelkopf 3 Elektrisch betrieben werden außer Autos auch ... A U-Boote B Kreuzfahrtschiffe C Raumschiffe 4 Wo wurde das E-Auto erfunden? A In den USA B In England C In Frankreich 5 Durch Fußball spielende Kinder in Rio de Janeiro ... A werden Flutlichter betrieben B wird Strom für das Aufladen von Handys erzeugt C werden Ampeln mit Energie versorgt 6 Der schnellste Fahrstuhl der Welt ... A erreicht 70 Kilometer pro Stunde B befindet sich im Burj al Arab in Dubai C befördert Passagiere bis in 632 Meter Höhe 7 Was verhalf dem Euro-Lade - stecker zum Durchbruch? A Der Fehler eines EU-Beamten B Ein Autounfall C Ein Fußballspiel 8 Der Weltrekord für elektrisch betriebene Fluggeräte liegt derzeit bei ... A einer maximalen Geschwindig - keit von 337,5 Kilometern pro Stunde B einer Distanz von mehr als 1200 Kilometern C einer Flughöhe von 20 000 Metern A U F L Ö S U N G S E I T E 1 1 4 C A M P U S Vergangen heit mit Zukunft: Dieses über 135 Jahre alte Dreirad gilt als erstes Elektroauto der Welt Wer ist E-Mobilitätsexperte? A U F L Ö S U N G C A M P U S V O N S E I T E 1 1 3 1 A, C Mehr als 34 000 Elektroautos gab es Ende 2016 in Deutschland. In den USA existierten zwischen 1896 und 1912 bereits ähnlich viele dieser Fahrzeuge, weltweit gab es mehr als 565 unterschied- liche Marken. In dieser ersten Blütezeit der Elektromobilität waren Verbrennungs - motoren noch nicht weit verbreitet: Nur rund 20 Prozent der Autos fuhren mit Benzin. Dank ihrer größeren Reichweite setzten sich die „Verbrenner“ letztlich aber gegen die Konkurrenz durch. 2 B Ein Menschenhaar ist 60 000-mal so dick, wie der kleinste Elektromotor groß ist, den der Chemiker Charles Sykes an der Tufts University bei Boston entwickelt hat. Er besteht aus einem rotierenden Molekül auf einer Kupferoberfläche. 3 A, C U-Boote mit Elektromotoren gibt es schon lange: Der Antrieb dient den Unter- wassergefährten etwa zur Schleichfahrt. Und auch Satelliten und sogar Raumschif - fe nutzen den Rückstoß des E-Antriebs. 4 C Vor mehr als 135 Jahren präsentierte der Franzose Gustave Trouvé sein elek- trisch betriebenes „Trouvé Tricycle“ der Öffentlichkeit (siehe Bild Seite 113). Es erreichte eine Geschwindigkeit von und einem Zwölf-Volt-Bleiakku. Der Erfin- der entwickelte später auch elektrisch angetriebene Brunnenanlagen und Boote. 5 A Jeder Tritt bringt neue Watt. Auf dem Fußballplatz in der Favela Morro de Mineira in Rio de Janeiro liegen Kunstra - senelemente, die es in sich haben. Laufen die Spieler darüber, werden die Boden - platten unmerklich eingedrückt und erzeugen über den piezoelektrischen Effekt Energie. So versorgt der Spaß der Kinder die Flutlichter mit Strom. 6 A, C Der schnellste Aufzug der Welt rast im Shanghai Tower gen Himmel, gezogen von einem Elektromotor. Mit etwas mehr als 70 km/h befördert er Passagiere bis in die obersten Stockwerke des 632 Meter hohen Gebäudes. Manche Experten gehen davon aus, dass bei erreicht sein wird: Bei noch höheren Geschwindigkeiten könnten sich Mitrei - sende nicht mehr schnell genug an die Veränderung des Luftdrucks gewöhnen. Der schnellste E-Rennwagen der Welt fährt übrigens schon 313 km/h. E-Bikes dagegen müssen schon bei 25 km/h gedrosselt werden. 7 C Die Erfolgsgeschichte des sogenann - ten Mennekes-Steckers nahm ihren Anfang bei einem Fußballspiel zwischen Bayern München und Wolfsburg. Dort nahm der Steckerhersteller Walter Mennekes 2008 Kontakt mit dem damaligen Vorstands - vorsitzenden von VW, Martin Winterkorn, auf, weil er sonst wohl keinen Termin bei dem wichtigen Mann bekommen hätte. Aus der Handtasche seiner Frau zog Mennekes einen Prototyp und präsentierte ihn. Daraus entwickelte sich später der europäische Standard-Ladestecker für Elektrofahrzeuge an Ladesäulen. 8 A Am 23. März 2017 erreichte das Elektroflugzeug „Extra 330LE“ mit einem Siemens-Motor eine Geschwindigkeit von 337,50 km/h über eine Distanz von drei Kilometern. Tobias Hamelmann Theoretisch könnte es funktionieren. Ein strah - lendes Blau wie ein wolken- loser Sommerhimmel: Das ist die Farbe der Flügel von Morpho didius. In den Wäldern Perus verscheucht das Männ- chen des Schmetterlings damit Rivalen aus seinem Territorium. Inzwischen weiß man auch, woher dieses Blau kommt. Auf den Flügeln des Schmetterlings sitzen kegelförmige, nanometer- kleine Strukturen. Diese Struktu - ren dienen als Reflexionsfilter, der blaue Anteile von einfallendem Licht filtert und verstärkt zurückwirft. Niraj Lal von der Australian National University will dieses Prinzip des Blaufil- ters für Tandem-Solarzellen einsetzen. Diese Zellen können in verschiedenen Schichten unterschiedliche Lichtanteile verarbeiten und in Strom umwandeln. Theoretisch sind sie dadurch deutlich effizienter als herkömmlicheSolarzellen. Das Problem allerdings ist, Licht so zu filtern, dass die je- weilige Wellenlänge im richtigen Teil der Zelle ankommt. Genau hierbei soll der Blaufilter des Schmetterlings helfen. In einem ersten Versuch kom- binierte Lal einen normalen Filter mit den Schmetterlingsstrukturen. So wurden im oberen Teil dieses neuen Filters blaue, grüne und ultra- violette Anteile des Lichts abgefangen, während die roten, gelben und orangefar- benen Lichtanteile in eine tiefer liegende Schicht durchgelassen wurden. Folgestu- dien sollen die Effizienzsteigerung an Solarzellen belegen. Macht Schmetterlingsblau Solarzellen besser? Die Flügel von Morpho sp. filtern und trennen Farbanteile des Sonnenlichts Au tor en : J ür ge n B ro sc ha rt, T ob ias H am elm an n, Fi lip a L es sin g, Ha luk a M aie r-B or st 361° GEO 08 2017114 TITEL: Tim Dodd, Bildbearbeitung: John Greve SEITE 3 : Urban Zintel: l. o.; PerthNow: m. SEITE 4 : Christopher Pillitz: o.; Birte Kaufmann: m.; lafoka.guru: u.; SEITE 5 : Solvin Zankl: o.; Charles Fréger: m.; Heiner Müller-Elsner/Agentur Focus: u. SEITE 6 : Christopher Pillitz: o.; Heiner Müller-Elsner/Agentur Focus: m.; Birte Kaufmann: u. SEITE 8 : Heinrich Holtgreve/Ostkreuz SEITE 10 : Leonhard von Guggenberg KOSMOS: Tuul & Bruno Morandi: 12/13; Richard Shucksmith: 14/15; Riksa Dewantara: 16/17; Federico Scoppa: 18/19 HORIZONTE: Fred Dufour/AFP/Getty Images: 21; Leibniz-Institut für Gewässer- ökologie und Binnenfischerei (GB): 22 o.; Kim Jae-Hwan/AFP/Getty Images: 22 u.; Andrew Hethering- ton/Redux/laif: 23; Jordi Pizarro: 24/25 (5); Foto: Robert Harding Productions/robertharding/laif und Illustration: Kunhild Haberkern: 28; Marlena Waldthausen: 30 AGADEZ: Christopher Pillitz: 32–51 LOB DER TORHEIT: Alle Illustrationen: Michèle Hofmann: 54–68; Fotos: ohmymag. com: 52 l. o.; boredpanda.com: 52 r. o., 53 r. o., 54, 58, 59 r. o.; prikol. ru: 52 l. u.; funtime.ge: 52 r. u., 63; stupid-people.net: 53 l. o.; e-w-e.ru: 53 l. u.; 3porosenka.ru: 53 r. u.; shelbyforum.de: 55 l. o.; pixmafia. com: 55 r. o.; lajkat.se: 56 o.; explosion.com: 56 u.; yesemails.com: 59 o.; semen0vlivejournal.com: 57, 64 o.; heavy.com: 59 u.; 60, Spalte links von oben nach unten: XTP Recruitment limited/twitter.com/ xtpltd; vayarkadas.net; boredpanda. com; 60, Spalte m. von oben nach unten: incroyable.co; stupid-people. net; blazepress.com; IFunny.co; 60, Spalte rechts von oben nach unten: lafoka.guru; apensarte.com; noizz.pl; http://clacypiegloriablog. blogspot.de: 61; newsbeast.gr.: 62; theberry.com: 64 m. MAULWURF: Solvin Zankl: 70–79 FORUM: Illustration: Katharina Noemi Metschl: 80; Indiana University: 81 ROSTOCK-LICHTENHAGEN: Birte Kaufmann: 82/83, 84 u., 87 o., 88–91; Ina Schoenenburg: 84/85 o., 87 u., 94, 96 361°: Soonhee Moon: 103; Robert Clark: 104, 114; ddp images: 105; Michael Christopher Brown/Magnum Photos/Agentur Focus: 106 o.; Sina Niemeyer: 106 u.; Juliane Eirich: 107; NASA/JPL/University of Arizona: 108/109; Cortis & Sonderegger/13Photo: 110 o.; Le Figaro Magazine/laif: 110 u.; Antony van der Ent: 111; Illustration: Katharina Noemi Metschl: 112 o.; Marc Fippel Foto- grafie: 112 u.; Katrin Binner: 113; Robert Clark: 114 JAPANISCHE MASKEN: Charles Fréger: 116–126 EUROPEAN XFEL: Heiner Müller-Elsner/Agentur Focus: 128–139 GEO ERLEBEN: Carola Radke/Museum für Naturkunde Berlin: 140; Nikolai Wolff/Atelier Brückner: 141 o.; David Farcas/Klimahaus: 141 l. m.; Jacob Matham: 141 r. m. DIE WELT VON GEO: Uwe Umstätter/Westend61/ mauritius images: 142 l.; Blend Images/Getty Images: 142 o.; Torben Kuhlmann: 143 u. l.; Noah Kalina: 143 o. m.; Medienkontor: 143 r. u. GEO TELEVISION: 21 Uno Film: 144 l. o.; BBC MMXV: 144 r. o.; John Downer Productions: 144 m.; DOC- LIGHTS GmbH 2017/NDR Naturfilm: 144 u. VORSCHAU: Benne Ochs: 145 o.; Kris Pannecoucke: 145 l. u.; Edward Burtynsky: 145 r. u. WELTBÜRGER: Christoph Borgans: 146 KARTEN: Stefanie Peters: 45, 92, 136, 146 Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos übernehmen Verlag und Redaktion keine Haftung. © GEO 2017, Verlag Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Hamburg, für sämtliche Beiträge. Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. Postanschrift der Redaktion: Brieffach 24, 20444 Hamburg. Telefon 040 / 37 03-0, Telefax 040 / 37 03 56 48 Internet: www.GEO.de CHEFREDAKTEUR: Dr. Christoph Kucklick STELLVERTRETENDER CHEFREDAKTEUR: Jürgen Schaefer LEITENDE REDAKTEURIN: Johanna Wieland CREATIVE DIRECTOR: Anna-Clea Skoluda STELLV. CREATIVE DIRECTOR (BILD) : Lars Lindemann GESCHÄFTSFÜHRENDE REDAKTEURIN: Maike Köhler KOORDINATION: Brigitte Gajser LTG. DIGITALE MAGAZINE/SONDERPRODUKTE: Rainer Droste TEXTREDAKTION: Klaus Bachmann, Jürgen Bischoff, Dr. Jürgen Broschart, Gesa Gottschalk, Florian Hanig, Jörn Auf dem Kampe, Diana Laarz, Fred Langer, Dr. Vivian Pasquet, Ines Possemeyer, Martin Schlak, Katja Trippel (GEO-TV) ABENTEUER & EXPEDITIONEN: Lars Abromeit REDAKTEUR MIT BESONDEREN AUFGABEN IN ENTWICKLUNG UND KONZEPTION: Markus Wolff AUTORIN: Johanna Romberg BILDREDAKTION: Christian Gogolin, Josephine Kaatz, Sina Niemeyer, Peter Unterthurner GRAFIK: Daniel Müller-Grote (stellv. Art Director), Kunhild Haberkern, Michèle Hofmann, Andreas Knoche KARTOGRAFIE: Stefanie Peters VERIFIKATION: Ricarda Gerhardt, Tobias Hamelmann, Jörg Melander, Julia Knaack SCHLUSSREDAKTION: Brigitte Gajser, Oliver Holzweißig SEKRETARIAT: Rita da Luz, Silvia Wieking (Chefredaktion), Frauke Körting, Elke Rehländer-Stöhr (Textredaktion) HONORARE/SPESEN: Petra Schmidt GEO.DE: Julia Großmann, Jan Henne (Leitung) Redaktion: Peter Carstens, Jaane Christensen (Bildredaktion), Solvejg Hoffmann, Thomas Merten Site Coordinator: Jan-Eric Strohsahl VERANTWORTLICH FÜR DEN REDAKTIONELLEN INHALT: Dr. Christoph Kucklick PUBLISHER: Dr. Gerd Brüne PUBLISHING MANAGER: Toni Willkommen DIGITAL BUSINESS DIRECTOR: Carina Laudage DIRECTOR DISTRIBUTION & SALES: Torsten Koopmann, DPV Deutscher Pressevertrieb MARKETING: Sandra Meyer PRESSE- UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT: Christine Haller HERSTELLUNG: G+J Herstellung, Heiko Belitz (Ltg.), Oliver Fehling VERANTWORTLICH FÜR DEN ANZEIGENTEIL: Daniela Krebs, Director Brand Solutions G+J e|MS, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. Es gilt die jeweils aktuelle Preisliste. Infos hierzu unter www.gujmedia.de Der Export der Zeitschrift GEO und deren Vertrieb im Ausland sind nur mit Genehmigung des Verlages statthaft. GEO darf nur mit Genehmigung des Verlages in Lesezirkeln geführt werden. Bankverbindung: Deutsche Bank AG Hamburg, IBAN: DE30 2007 0000 0032 2800 00, BIC: DEUTDEHH ISSN: 0342-8311 Druckvorstufe: 4MAT Media Hamburg: Meike Andres, Sebastian Böcking Druck: Prinovis GmbH & Co KG • Betrieb Nürnberg GEO ist auf Papier gedruckt, das aus 20 Prozent – ausschließlich chlorfrei gebleichtem – Zellstoff, aus 60 Prozent Durchforstungsholz und 20 Prozent Altpapier hergestellt ist. Printed in Germany GEO (German) (USPS no 0011476) is published monthly by GRUNER + JAHR GmbH & CO KG. Known office of publication: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood NJ 07631. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652 and additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: GEO (German), GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631, 855-457-6397. F O T O H I N W E I S E N A C H S E I T E N Anordnung im Layout: l. = links, r. = rechts, o. = oben, m. = Mitte, u. = unten I M P R E S S U M GEO 08 2017 115 In Japan gehen Spukgestalten um, inzwischen eher zum Vergnügen. Der FotografCharles Fréger hat sie aufgespürt Reich der Geister F O T O P R O J E K T Kinderschreck: Er ist zwar ein Gott, aber mit rotem Gesicht und Hörnern sieht dieser toshidon aus wie ein Dämon. Am letzten Abend des Jahres geht er von Haus zu Haus, rügt die Kinder für ihre Missetaten – und schenkt ihnen dann Reiskuchen, damit sie ein Jahr älter werden GEO 08 2017116 117 Verführerin: Eine sasarasuri (Sasara-Spielerin) lockt mit ihrem Bambus - instrument einen eitlen Mann. Sie soll die weibliche Schönheit symboli auch wenn sie von einem Mann gespielt wird GEO 08 2017118 Löwenmutter: Zur Tagundnachtgleiche im Herbst läuft eine oyajishi (Löwin) Amok, von einem Jäger wird sie schließlich erlegt. Ihr Nachwuchs aber überlebt; er wird von einem Schulkind dargestellt GEO 08 2017 119 GEO 08 2017120 Tempelritter: Der Krieger tritt beritten und bewaffnet auf. Allerdings darf er das Areal seines Schreins niemals ver- lassen. Gemeinsam mit anderen Geistern und Göttern hält er Seuchen fern Löwenhirsch: Warum trägt dieser shishi (Löwe) Hörner? Keiner weiß es genau. Viel- leicht, um mit seinem Tanz einen Samurai aus zu feiern: Der soll eine Schlacht gewonnen haben – mithilfe einer Fackel aus Geweih Hochstapler: Ein hotafuri (Stabschwenker) führt einen Trommeltanz an. Er half einst, so erzählt man sich, eine Epidemie zu beenden. Und er besänftigt böse Geister und bringt Regen Gelb vor Kummer: Kioni, ein Dämon, randaliert drei Nächte lang in einem Schrein. Dann endlich wird die Jammergestalt von einem Gott in die Berge gejagt Glücksbringer: Die stets lächelnde otafuku - Maske ist in ganz Japan bekannt. Ihr Name bedeutet »viel Glück«, sie ist zudem ein Symbol für Fruchtbarkeit. Sie verheißt Wohlstand und eine reiche Ernte Höllenfahrer: Ruß und Strohhörner verwan- deln Kinder in kurooni, schwarze Dämonen. Die heizen in der Hölle die Kessel, am 14. August aber lassen sie alle Kinderseelen für einen Tag ins Paradies GEO 08 2017 121 Beflügelt: Sagi, der Fischreiher, bringt Glück. Er vollführt einen anmutigen Tanz zum Klang von Flöten, und das schon seit über 500 Jahren 122 GEO 08 2017 Dickes Fell: Auch wenn dieser shishi aussieht ist er doch ein Löwe! In Japan gab es beide Tiere nicht, das Fabel - wesen entsprang ganz und gar der Fantasie GEO 08 2017 123 Maskenball: Zum cherorts aller eitlen Kostümierung entsagt. Beim Tanz men odori werden nur schlichte Papiermasken getra gen. Auf sie sind Gesichter alter Männer oder Frauen gemalt Hirsch mit Löwenherz: Ein onjishi (Hirsch) trommelt – und zeigt beim Erntedankfest einen Löwentanz. Dieser ist einst mit dem Buddhismus von Indien über China nach Japan gelangt GEO 08 2017124 GEO 08 2017 GEO 08 2017 125 D I E G E I S T E R , M O N S T E R U N D D Ä M O N E N K O M M E N ! In bizarren Gewändern, mit Masken, Musikinstrumenten und Waffen suchen sie Japan heim: Mischwesen aus Gott und Geist, aus Mensch und Tier . Als der Fotograf Charles Fréger von ihrer Existenz erfuhr, fühlte er sich an die Perchten erinnert, die im Alpenraum den Winter austreiben, oder an Krampus und Knecht Ruprecht, die unartige Kinder bestrafen: mythologische Gestalten, die er zuvor für sein Buchprojekt „Wilder Mann“ porträtiert hatte. Offenbar hatten sie japanische Verwandte. Fréger spürte sie auf, vor allem bei Festen zum Wechsel der Jahreszeiten auf dem Land. Der Legende nach erschienen die übernatürlichen Wesen ursprünglich zur Jahreswende, um die Menschen zu belehren, zu segnen und den sozialen Frieden in den Gemeinden zu bewah - ren. Die hießen sie mit Musik, Tanz und Theater willkommen und schickten sie dann wieder zurück in ihre Zwischenwelt, so der Ethnologe Origuchi Shinobu. Die Rituale sollten vor der unberechenbaren Kraft der Natur schützen: Die Japaner waren von jeher Erdbeben, Fluten und Taifunen ausgeliefert, die immer wieder ihre Ernten bedrohten. Bis heute sind daher viele Masken und Kostüme mit Reisanbau und anderen landwirtschaftlichen Motiven verbunden. Auch die verwendeten Materialien entstammen oft der Natur: Blätter, Blü - ten, Rinde, Papier, Schlamm. Die Geister und Monster können in vielerlei Gestalt auftre - ten: Klassische tragen teils tierische, teils menschliche Züge; oni sind düstere Erscheinungen, die mit ihren Hörnern, Stoß - zähnen und Waffen an Teufel erinnern, tengu Bergkobolde mit langer Nase und Gefieder. Je nach Region kann eine Figur mit dem gleichen Namen sehr unterschiedlich aussehen: Einen Lö - wen etwa kannten die Menschen nur aus chinesischen Überlie - ferungen, nicht aus eigener Anschauung. Kein Wunder, dass er mancherorts eher an einen Drachen oder einen Hirsch erinnert. Und wer verbirgt sich hinter den Maskeraden? Meist ältere Menschen, da viele junge die Dörfer verlassen haben. Oft sind Bauern und Fischer unter ihnen, mitunter Mön - che. Frauen hat Fréger nie als Monster maskiert gesehen: „Sie begleiten die Spukgestalten mit eigenen Tänzen und Kostümen.“ Die Masken werden meist in Tempeln und Schreinen auf - bewahrt, manche dürfen das heilige Areal nie verlassen. „Die ursprünglich religiöse Bedeutung der Kostümierungen ist für die meisten Menschen mittlerweile nachrangig“, hat Fréger festge- stellt. „Sie feiern nicht, weil sie an Geister glauben, sondern um sich zu vergnügen – in der Gemeinschaft mit anderen.“ Einen Überblick über die Gesellschaft der Geister kann oh - nehin kaum jemand bewahren. Die Japanologin Elisabeth Sche- rer schätzt, dass es allein Hunderte gibt. Im 18. Jahrhundert wurden ihnen Enzyklopädien und Kataloge gewidmet; zugleich erfanden Künstler ständig neue Mischwesen, die nicht länger auf überlieferten Erzählungen gründeten. Die Darstellungen fanden mit dem Holzdruck massenhaft Verbreitung. Im späten 19. Jahrhundert versuchten -Wissenschaftler, die Geister und Dämonen als Hirngespinste zu entlarven. Ohne Erfolg: Heute treten sogar in TV-Serien, Filmen und Man - ga auf. „Als nur schemenhaft definierte Hüllen können sie mit einem beliebigen Inhalt gefüllt werden“, so der Japanologe Timo Thelen. Das jüngere Publikum werde mit ihrer Hilfe belehrt, im älteren weckten sie die Sehnsucht nach dem traditionellen Japan. Charles Fréger hat auch des Öfteren von einem unter dem Tatami“ gehört: einem persönlichen Hausgeist unterm Tep- pich. Denn unberechenbar ist das Leben für viele noch heute. Ines Possemeyer Der französische Fotograf CHARLES FRÉGER wöhnliches Thema gewählt: Seit vielen Jahren porträtiert er Men schen in Kostümierungen und Uniformen, darunter auch Sportler, Opern darsteller, Soldaten, Wachleute und andere Bedienstete. Diese Musikerinnen tanz, der nur alle zwei Jahre aufgeführt wird GEO 08 2017126 ANZEIGE Erleben Sie die einzigartige Tierwelt und fesselnde Landschaften der Gegensätze im Süden Afrikas. Durch Besuche bei konservatorischen Tierschutzprojekten erhalten Sie ein Hintergrundverständnis der Extra-Klasse – ein Spannungsbogen von der Kolonialgeschichte bis in die Realität des heutigen Afrikas. Fo to gro ß: © Jay Si, Sh utt ers toc k Fo to kle in: © K lau s K nu ffm an n Ihr Reiseverlauf: Tag 1 Tag 2 Fahrt in die Kalahari. Ankommen. Ausruhen. Entspannen. Tag 3 Einführung in die Geheimnisse der Buschmänner und erste Pirschfahrten. Tag 4 Fahrt nach Sesriem oder Erkundung des Fishriver Canyon/Lüderitz per Flugsafari. Tag 5 Faszinierendes Farbspiel der Dünen des Sossusvlei. Tag 6 Auf dem Weg nach Swakopmund, Tag 7 Swakopmund: Stadtführung und im Anschluss Tag 8 Entdeckung steinzeitlicher Felsgravurenim Damaraland. Tag 9 Wüstenelefanten und bedrohten Nashörnen auf der Spur . Tag 10 Besuch einer Himba-Dorfgemeinschaft und Eintauchen in die faszinierende Tierwelt des Etosha-Parks. Tag 11 Quer durch den Etosha-Park (vom Westen ins Zentrum). Tag 12 Quer durch den Etosha-Park (Richtung Osten). Tag 13 Entspannter Ruhetag oder mehr von Etosha. Tag 14 Leoparden-Pirsch und Besuch bei dem Afri-Cat Tierschutzprojekt. Tag 15 Windhoek: Eintauchen in die verschiedenen Facetten der namibischen Hauptstadt. Tag 16 Raum für weitere Begegnungen mit Namibianern, letzte Besorgungen und Abreise. Tag 17 Ankunft in Frankfurt. Die Morgenstimmung in den Sanddünen des Sossusvlei. ANGEBOT Rundreise www.geo.de/reisewelten oder Tel. 05141 3603 494 BUCHEN SIE JETZT IHRE REISE Auf der Geo Reisewelten Website finden Sie jede Woche neue, besondere Reisehighlights für Sie als Leser/-in. Freundeskreis Kulturreisen GmbH Kanzleistraße 11, 29221 Celle Die Gruner+Jahr GmbH & Co KG tritt lediglich als Vermittler auf. Veranstalter dieser Reise: Spießböcke, die Wappentiere Namibias, am Wasserloch im Etosha-Park. Hinweise: Einzelzimmerzuschlag € 390,-. Business Class Upgrade ab € 1.450,-. Flugsafari zubuchbar ab € 750,- (z. B. Fishriver Canyon, Lüderitz oder Sklettküste, Damaraland). SUPERLATIV IM TIEF- PARTERRE E U R O P E A N X F E L Fotos: Heiner Müller-Elsner GEO 08 2017128 In Hamburg geht das modernste und leistungsstärkste Mikro skop der Welt in Betrieb. Wissenschaftler können damit den Tanz der Moleküle sichtbar machen Im Beschleunigertunnel, hier noch ohne Installationen, werden Elektronen tief unter der Erde mit Energie aufgeladen – auf einer Strecke von gut zwei Kilometer Länge 129 1 km GEO-Graf ik Schenefeld DESY-Bahrenfeld Osdorfer Born DI E R E I S E ins Innere der Dinge beginnt im Hamburger Stadtteil Bahrenfeld, sieben Stockwerke tief in der Erde, unter einer grauen Halle – und dauert: eine hundert - tausendstel Sekunde. Dann haben ein paar Milliarden Elek- tronen, beschleunigt auf fast Lichtgeschwin- digkeit, rund zweieinhalb Kilometer zu- rückgelegt, mit ihren Lichtblitzen einen winzigen Kristall zertrümmert und dabei ein Bild von ihm erzeugt. Ein neues Bild vom Inneren der Materie. Zugleich haben elf europäische Natio- nen mehr als acht Jahre zurückgelegt, mehr als 1,2 Milliarden Euro ausgegeben und mit dem Geld eine weltweit einzig - artige Maschine geschaffen, die nahezu unsichtbar ist. Eine Art Elbphilharmonie der Wissenschaft, ein Mikroskop, das jede Dimension sprengt. Ein Traum für alle, die für solche Träume empfänglich sind. Die Reise beginnt, als ein Laserstrahl aus einem Metall ein Päckchen mit Atom - bausteinen schlägt. Das Päckchen, kaum größer als ein Stecknadelkopf, doch beste- hend aus Milliarden Elektronen, erreicht auf wenigen Metern fast Lichtgeschwin- digkeit. Wird dann in einer gut zwei Ki- lometer langen, unterirdischen Röhre mit ungeheuren Energien aufgeladen. Dabei immer weiter komprimiert, bis es nur noch wenige hundertstel Millimeter misst. Von starken Magneten, sogenannten Undula - toren, schließlich auf einen Slalomkurs ge- zwungen, wobei es ultrakurze, ultrastarke Laserblitze aus Röntgenlicht erzeugt. Danach werden die Elektronen in ei - nen Block aus Graphit abgelenkt. So ge- stoppt, verlöschen sie in purer Hitze. Die Röntgenblitze aber sausen weiter, bis sie nach einem Kilometer, unter der Erde der schleswig-holsteinischen Klein- stadt Schenefeld, auf ihr Ziel treffen: ei- nen Kristall aus Proteinen, kaum einen tausendstel Millimeter groß. Die Blitze zerstören den Kristall au- genblicklich. Aber zuvor noch zeichnet das Rönt - genlicht mit einem Detektor ein detailge - naues Bild der fürs menschliche Auge un- sichtbaren Probe – und gibt so den Blick frei auf die tiefsten Tiefen der Materie. Das European XFEL, derzeit eines der ambitioniertesten Forschungsprojekte in Europa, hat den Testlauf bestanden. ES I S T D A S D E R Z E I T modernste und leistungsstärkste Mikroskop der Welt. Das X im Namen steht für „X-ray“, Röntgenstrahlung, die drei Buchstaben FEL stehen für „Freie-Elektronen-Laser“. Im September soll es den wissenschaftli- chen Betrieb aufnehmen. Von den Baukos- ten schultern Deutschland und Russland, über alle politischen Zerwürfnisse hinweg, 85 Prozent. Wenn alles läuft, soll der European XFEL pro Sekunde bis zu 27 000 Laser- blitze erzeugen. Sie sind unvorstellbar kurz, weniger als 100 billiardstel Sekunden, mit Wellenlängen von bis zu einem zehntel Nanometer. Das, ungefähr, ist der Abstand zwischen zwei Atomen in einem Molekül. Die Blitze sind, berechnet auf einen Qua - dratzentimeter Fläche, bis zu zehn Trilli- arden Mal intensiver als Sonnenlicht. Es sind solche Superlative, die diesen Freie-Elektronen-Laser zum derzeit leis - tungsfähigsten auf der Welt machen. Der bislang stärkste an der Stanford University in Kalifornien schafft in der Sekunde nicht mehr als 120 Blitze. Seit Jahren drängen sich Wissen- schaftler in aller Welt um „Strahlzeit“ in diesen Einrichtungen. Denn Freie-Elek - tronen-Laser erschließen die geheimen Vorgänge in der Materie mit bislang un- erreichter Genauigkeit: Sie erschließen die Welt jenseits des sichtbaren Lichts. Das Licht, das wir sehen können, hat Wellenlängen von im Mittel etwa 550 Na- nometern. Ein Nanometer ist ein millions - tel Millimeter, und klassische Lichtmikro- skope erreichen bestenfalls Auflösungen von 200 Nanometern. Der 3,4-km-Tunnel des European XFEL führt von Hamburg ins schles- wig-holsteinische Schenefeld Text : JÜRGEN BISCHOFF DIE ELEKTRONENKANONE Der fast lichtschnelle Elektro - nenstrahl ist das Herzstück des neuen Röntgenlasers European XFEL. Erzeugt wird er in der sogenannten Injektorhalle (1) auf dem Gelände des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY in Hamburg: Ein Laser im Inneren einer hochpräzisen, wassergekühlten Elektronen - kanone schießt starke Pulse aus UV-Licht auf eine negativ geladene Elektrode aus Cäsium- tellurid. Dadurch werden Elektronenpakete aus dem Metall herausgelöst. Elektroma - gnetische Wellen beschleunigen diese Elektronen dann bis auf Höchstgeschwindigkeit. Rund 35 Meter unterhalb der Euro - pean-XFEL-Betriebshalle (2) wird der gepulste Strahl in die gut zwei Kilometer lange Be- schleunigerstrecke geführt, wo er weiter an Energie gewinnt. Die 96 Beschleunigermodule müssen dafür bis auf –271 Grad Celsius gekühlt werden. 1 2 2 GEO 08 2017130 Im Jahr 2011 befand sich die Injektorhalle noch im Roh- bau, heute wird hier der Elektronenstrahl erzeugt. Der rote Bereich besteht aus Schwerbeton: die Halterung für einen »Dump«, in dem die energiereichen Elektronen im Notfall gestoppt werden Vier Jahre später, 2015, wird die Injektortechnik installiert. Das System muss staubfrei bleiben GEO 08 2017 131 Im Jahr 2012 war das Ende des Beschleunigertunnels in Hamburg-Osdorf noch eine offene Baustelle, jetzt steht hier das Verteilergebäude Die Montage des Linear - beschleunigers zog sich über Jahre hin. Er besteht aus insgesamt 96 Modulen, jedes mit einer Länge von zwölf Metern. Im Inneren der gelben Segmente befinden sich die sogenannten Resonatoren, die den Elektronen - strahl über die Strecke mit Energie aufladen. Die Rohrleitungen an der linken Tunnelwand sind Versorgungsleitungen, unter anderem für Strom und Wasser GEO 08 2017132 Chemische Moleküle aber sind fast immer deutlich kleiner. Man kann sie mit sichtbarem Licht nur in Bewegung verset- zen, aber nicht unterscheiden. Die Wellenlänge der Röntgenblitze des European XFEL dagegen ist so klein, dass sich mit ihnen einzelneMoleküle ablichten lassen, sogar in 3-D. Mit einem Stroboskoplicht wie in der Diskothek, das die Bewegungen der Tänzer einzufrieren scheint. Anschließend können Forscher die mit den ultrakurzen Lichtblitzen aufge - nommenen Bilder zu Filmen zusammen - fügen, wie bei einem Daumenkino. So lassen sich auch Bewegungen von Mole- külen nachvollziehen. Dem Tanz der Atome zusehen zu kön- nen, die uns im Alltag umgeben, und nach Wegen zu suchen, wie man diesen beein- flussen kann – diese Vorstellung treibt die Physiker an. Sie werden sich allerdings mit Biophysikern, Zellbiologen, Pharmako- logen in den Schenefelder Laboren die Strahlzeit teilen müssen. Ein Team der Technischen Universi - tät Dänemark etwa möchte dort Bewegun- gen von Molekülen erforschen, die sich durch Licht aktivieren lassen. In der Natur sorgen ähnliche Stoffe dafür, dass bei der Fotosynthese aus Licht und Kohlendioxid Sauerstoff und Zucker entstehen. Die Veränderungen in den Molekülen aber vollziehen sich in wenigen hundert Femtosekunden – hundert Femtosekunden benötigt das Licht, um eine Strecke von 0,03 Millimetern zurückzulegen. Da aber die Lichtblitze in der Schenefelder Anlage noch kürzer sind, können sie bisher unge- sehene Details dieser Vorgänge sichtbar machen. Ziel ist es, auf ähnliche Weise wie bei der Fotosynthese aus Licht und Was- ser Wasserstoff herzustellen, als Grund- stoff zur Energieerzeugung. Der Berliner Physiker Stefan Eisebitt wiederum will im XFEL der Frage nach- gehen, wie Speichermedien beschaffen sein müssten, auf die Daten mit Licht geschrieben werden. Der 52-Jährige ist Direktor am Max-Born-Institut für Nicht- lineare Optik und Kurzzeitspektroskopie in Berlin-Adlershof. „Seit zehn Jahren wissen wir, dass man Materialien auch mit Lichtpulsen magne - tisieren kann“, sagt Eisebitt. „Aber bisher weiß niemand genau, was dabei passiert.“ Um neue, schnellere Datenspeicher ent- wickeln zu können als die heutigen, „müs- sen wir die grundlegenden Prozesse ver- stehen, die sich bei dieser Magnetisierung abspielen“. Biochemiker hingegen wollen etwa Proteine studieren, die eine wichtige Rolle bei der Entstehung mancher Krankheiten spielen. Denn jedes Protein faltet sich na- türlicherweise zu einer dreidimensionalen Struktur, wie ein Wollknäuel, immer mit einer charakteristischen Form. Manchmal geht die Faltung schief, und das Eiweiß schlägt aus der Art. Typ- 2-Diabetes, Alzheimer oder Parkinson können die Folge sein. Ein XFEL-Instru - ment mit dem Kürzel SPB (für „Single Particles, Clusters, and Biomolecules“) soll die Abläufe beim Faltungsprozess offen- baren helfen – und vielleicht auch die Ursachen der fatalen Fehlfunktionen. Das könnte zur passgenauen Entwicklung von Medikamenten beitragen. Und selbst Astrophysiker warten be- reits auf den offiziellen Betriebsbeginn in Schenefeld. Denn am sogenannten High- Energy-Density-Instrument (HED) wer - den sich experimentell Extremzustände von Materie untersuchen lassen, wie sie im Inneren von Planeten herrschen. „Wäh- rend eines Experimentes können wir durch Beschuss mit Laserlicht kurzfristig Drücke von bis zu einer Million Bar erzeugen“, er- zählt eine Wissenschaftlerin am HED. Das ist in etwa so viel, als balanciere man den höchsten Wolkenkratzer, den 500 000 Tonnen schweren Burj Khalifa in Dubai, auf einer Fingerspitze. AM E U R O P E A N X F E L wird deutlich, was auch für viele andere Großfor- schungsprojekte gilt, für die Jagd auf die Neutrinos, für die Suche nach der Dunk - len Materie oder die Entschlüsselung der TEILCHENVERTEILUNG Wenn die Elektronenpakete nach etwa 2,1 Kilometern die Beschleunigerstrecke (3) passiert haben, tragen sie eine Energie von 17,5 Milliarden Elektronenvolt. Ein Elektronen - volt ist die Energie, die ein Elektron neu aufnimmt, wenn es mit einer Spannung von einem Volt beschleunigt wird. Im Hamburger Stadtteil Osdorf – der Tunnel verläuft hier etwa 15 Meter unter der Erde – mün - det der Beschleunigertunnel in eine Verteilerstation (4). Dort verzweigt sich der Tubus des Riesenmikroskops zunächst in zwei (5) weitere Tunnel. Sie führen die Elektronenpakete weiter in Richtung des Cam- pus des European XFEL in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Schenefeld. 4 5 53 GEO 08 2017 133 ( W E I T E R A U F S E I T E 1 3 6 ) GEO 08 2017134 Das XFEL-Prinzip auf einer Weißwandtafel erklärt: So erzeugen Elektronen laser artiges Röntgenlicht 135 Atomfusion: Wer die ganz großen Zusam- menhänge verstehen will, muss ganz tief in die Details der Materie vordringen – und dafür wiederum ganz große Maschi - nen bauen. Und das European XFEL ist eine wirklich große Maschine. Der Tunnel, der Tubus dieses Mega- Mikroskops, ist 3,4 Kilometer lang. Inklu- sive aller Abzweigungen misst das unter- irdische Gängeviertel 5,8 Kilometer. Den ersten Teil der Strecke betreut Hans Weise, 55 Jahre alt, Physiker. Wer Weise treffen will, findet ihn in einem ver- steckt liegenden, schmucklosen Büroblock auf dem DESY-Gelände in Hamburg-Bah- renfeld. Der Fahrstuhl ist gerade kaputt, es ist der einzige. Wissenschaftler, Ingeni- eure, Doktoranden, alle müssen das Trep- penhaus nehmen, um zu ihren Büros zu kommen. Das von Hans Weise liegt in der fünften Etage. Auf dem Tisch ein weißer Schutz- helm, daneben ein Selbstrettungsgerät für den Notfall. Es soll bei einem Brand den nötigen Sauerstoff zum Atmen liefern. Helm und Selbstretter sind Vorschrift im Beschleunigertunnel. Ein Transponder, den jeder Besucher tragen muss, der in den Tunnel will, meldet der technischen Über- wachung zudem den jeweiligen Standort. Hans Weise ist einer der Wissen- schaftler, die die Beschleunigerstrecke entworfen haben. Schon während seines Physikstudiums war er fasziniert von der Technik der Teilchenbeschleunigung, spä- ter, in Darmstadt, baute er mit an Deutsch- lands erstem Freie-Elektronen- Laser. 1993 holte ihn das DESY nach Hamburg, denn man hatte Großes vor: einen 33 Kilometer langen, unterirdischen Linearbeschleuni- ger namens TESLA, als Abzweig davon ein Röntgenlaser. Ein Linearbeschleuniger bringt Elek - tronen auf gerader Strecke auf Touren und nicht auf einer Kreisbahn wie in herkömm- lichen Beschleunigerringen. Doch TESLA erwies sich als zu teuer. Übrig aber blieb der Röntgenlaser. „Der Auftrag war der Traum eines je- den jungen Wissenschaftlers“, sagt Weise: „Baut den besten Linearbeschleuniger der Welt!“ Der Auftrag sollte zum Projekt sei- nes Lebens werden. Der Tunnel, der das DESY mit dem XFEL-Campus in Schenefeld verbindet, beginnt ein paar Gehminuten von Weises Büro entfernt. Tritt man durch die Hallentür, findet man sich unversehens in einem achtstö- ckigen Gebäude – in der obersten Etage. „Sieben Stockwerke haben wir in die Tiefe gebaut“, sagt Hans Weise und führt den Weg zu ei nem rechteckigen Schacht, den die Architekten in der Hallenmitte frei - gelassen haben. Durch diesen Schacht musste die gesamte Technik der Beschleu- nigerstrecke passen. In ihm verschwand der Injektor, in dem die Elektronenpäck- chen erzeugt und auf die Reise geschickt werden. In ihm verschwanden die riesigen Magnete zur Führung des Elektronen - strahls. Und in dem Schacht verschwan- den auch die Beschleunigermodule, 96 Stück, je zwölf Me ter lang, umgeben von einer gelben Hülle aus Stahl. Hans Weise betritt den Fahrstuhl, un - ten öffnet ein elektronischer Schlüssel den Zugang zum Tunnel. Man sieht: eine hell- graue Betonröhre von etwas mehr als fünf Meter Durchmesser. Von der Decke fällt weißes Licht, links ein Versorgungsweg, rechts ein Konglomerat aus parallel lau- fenden Rohren und Leitungen, sie schei - nen auf einen Punkt in der Ferne zuzu - streben.Es sind Wasserleitungen für den Brandfall, Absaugrohre, Kabelführungen. Davor eine mächtige Röhre in Dottergelb. „Die Beschleunigerstrecke“, sagt Hans Weise. Wobei der Begriff eigentlich irre- führend ist. Denn auf Höchstgeschwin - digkeit – auf fast Lichtgeschwindigkeit – DIE STÄRKSTEN BLITZE DER WELT Kurz vor der Hamburger Stadtgrenze werden die Elektronenpakete auf weitere Tunnel verteilt (6). In diesen befinden sich die Undulatoren, starke Magnetsysteme, welche die Elektronen auf einen Slalomkurs zwingen. Bei jedem Richtungswechsel geben sie einen Teil ihrer Energie als Röntgenblitze wieder ab. Diese werden vom Elektronenstrahl getrennt und durch ein eigenes System aus Edelstahlrohren in den sogenannten Photonen - tunneln bis in die unterirdi- sche Experimentierhalle (7) in Schenefeld geleitet. Die Röntgenblitze sind extrem scharf und energiereich: Auf den Quadratzentimeter berech - net, ist die im European XFEL erzeugte Röntgenstrahlung bis zu zehn Trilliarden Mal intensiver als das Sonnenlicht. 6 6 6 7 GEO 08 2017136 Harald Sinn, für die Planung der Photonenstrecke verantwortlich, kontrolliert eine Spiegelkammer. Das extrem starke Röntgenlicht lässt sich nur über hochpräzise geschliffene Oberflächen zu den verschiedenen Experimenten lenken Wo das Licht endet: In der Schenefelder Experimentierhalle montieren Techniker unter Reinraumbedingungen ein Forschungsinstrument GEO 08 2017 137 Hoher Druck, harte Strahlung, maximale Geschwindigkeit: Sechs Instrumente am European XFEL helfen, ins Innere der Dinge zu blicken – und zu verstehen, wie Materie sich verhält SPB/SFX (Abk. für „Einzelne Partikel, Cluster, Biomoleküle/Serielle Femto sekunden-Kristallografie“). Hochintensive Röntgenlaserblitze zwischen 5 und 300 Femtosekunden* Dauer ermöglichen 3-D-Bilder. Dazu werden identische Proben von Biomolekülen, Viren oder Kristallen in den Strahlengang geleitet und nacheinander beleuchtet. FXE (Abk. für „Femtosekunden- Röntgenexperiment“). Harte Röntgen strahlung (hohe Energie, kleine Wellen länge) zeichnet „Molekülfilme“ auf, die chemische Reaktionen abbilden. SCS (Abk. für „Spektroskopie und kohärente Streuung“). Mithilfe von weichem Röntgenlaserlicht (ge - ringere Energie, große Wellenlänge) lassen sich Zellstrukturen, chemische Tiefe Einsichten DIE INSTRUMENTE beschleunigt werden die Elektronen nur auf den ersten Metern, danach können sie nicht mehr schneller werden. Auf den fol genden zwei Kilometern gewinnen sie nur noch an Energie, nicht mehr an Tempo. Vor der Röhre stehend erklärt Hans Weise, was nicht zu sehen ist: In den gelben Hüllen befinden sich speziell geformte Röhren aus dem Metall Niob, die soge turen wird Niob supraleitend, hat also fast für muss es allerdings auf minus 271 Grad Celsius gekühlt werden – sogar im Weltall ist es meist noch um einige Grad wärmer. Die Beschleunigermodule sind dabei geradezu sinnbildlich für die Schwierigkeit, ein Großprojekt wie den European XFEL zu planen. „Die Niob Elemente kommen aus Deutschland und Italien“, erzählt Hans Weise. „Die Verbindungsstücke aus Titan kommen aus Russland, ebenso die Vaku umtechnik.“ Die Kryostate wiederum, die für kon stant tiefe Temperaturen sorgen, wurden in China und Italien gebaut. Die Magnet gruppen sind spanischer Herkunft, sie wurden in Hamburg von einem deutsch polnischen Team kontrolliert. Zusammen gesetzt wurde alles in der Nähe von Paris. AM A N D E R E N E N D E des 3,4 Kilometer Tunnels, etwa 13 Meter unter halb einer Wiese in Schenefeld, blickt Harald Sinn stirnrunzelnd in ein grau verkleidetes, tonnenförmiges Gehäuse aus Edelstahl. „Spiegelkammer Nummer zwei“, sagt er. „Gerade unser größtes Sorgenkind.“ Zum Schutz gegen Staub versteckt es sich hinter einem dicken Vorhang aus Plastik streifen. Will man näher herantreten, ist Schutzkleidung Vorschrift. Der 50 jährige Physiker leitet beim European XFEL die Gruppe „Röntgen optik und Strahlentransport“. Sinn ist dafür zuständig, dass die in den Undula toren erzeugten Laserblitze auch in den Probenkammern ankommen. Am 12. Mai, einem Freitag, waren erstmals die Sperren zur Photonensektion im letzten Tunnelkilometer geöffnet wor den. Erst in der Woche zuvor hatte diese unterirdische Licht Maschine die ersten Laserblitze aus Röntgenlicht erzeugt. Sinn steht zwischen zwei glänzenden Edelstahlrohren, jedes von ihnen versorgt je zwei Instrumente. Diese Strecke müsse hochgenau sein, erläutert er, absolut gerade. Denn Licht lasse sich nicht wie der Elek tronenstrahl mit Magneten aus der Bahn werfen. Die Laserblitze aus Röntgenlicht sind sehr konzentriert, sehr hart, und jede noch so geringe Biegung, jede nicht aus geglichene Bodenunebenheit hätte fatale Folgen. „Sogar die Erdkrümmung musste bei der Tunnelplanung herausgerechnet wer den“, sagt Harald Sinn. Um den Röntgenstrahl zu den Expe rimenten zu lenken, sind Spiegel die ein zige Möglichkeit. Also ließ Harald Sinn Spiegel fertigen, wie es sie zuvor noch nicht gegeben hat. Jeder Einzelne herge stellt aus einem fast einen Meter langen und gut fünf Zentimeter breiten Kristall, gezogen aus hochreinem Silizium. Japanische Experten polierten diese Kristalle ein halbes Jahr lang mit einer Spezialflüssigkeit, bis die größte Uneben heit noch maximal einen Nanometer be trug – umgerechnet so viel wie ein Haar auf einem 40 Kilometer langen Autobahn abschnitt. Jeder dieser Hightech Spiegel kostet mehr als 200 000 Euro, zehn bestellte Sinn für das ganze System. Sie sind die genauesten der Welt. Keine Verzerrung, keine Streuung. Absolut perfekt. Und dann dieser Pfusch in Spiegel kammer zwei! Um den Röntgenlaserstrahl passgenau lenken zu können, muss der Spiegel in der Horizontalen beweglich sein, vier Zentimeter in Richtung Kammer wand. „Da sind aber nur zwei Zentimeter Platz“, sagt Sinn. Ein Konstruktionsfehler. Die britische Firma, die die Halterungen für den Spiegel hergestellt hat, vergaß in ihren Berechnungen das Kühlelement da hinter. Wenn im September die ersten Expe rimente beginnen, werden anfangs zwei Zentimeter Spielraum noch ausreichen, sagt Harald Sinn. „Aber dann müssen wir umbauen.“ S C H E N E F E L D , auf dem Campus des European XFEL. Hochbetrieb in den Besprechungsräumen, Whiteboards mit Skizzen. Viele junge Menschen hinter den GEO 08 2017138 Reaktionen in Flüssigkeiten und ultraschnelle magnetische Prozesse untersuchen. SQS systeme“). Weiche Röntgenstrahlung wird dazu eingesetzt, Vorgänge teme zu erforschen: in Atomen, Ionen, Molekülen. MID (Abk. für „Abbildung und Dynamiken von Stoffen“). Der Rönt genlaser untersucht, wie sich Atome und Moleküle in festen oder flüs sigen Stoffen bewegen, wobei sie etwa durch einen herkömmlichen Laser erhitzt werden. Dient den Material und Nanowissenschaften. HED (Abk. für „Hohe Energiedich ten“). Der im HED erreichbare Druck entspricht etwa dem Millionenfachen der Erdatmosphäre. Damit lassen sich sogar Materiezustände im Inneren von Exoplaneten simulieren. * In 100 Femtosekunden legt das Licht eine Strecke von ca. 0,03 Millimetern zurück. Glastüren, Verkehrssprache ist Englisch. Es herrscht Aufbruchstimmung. Britta Weinhausen und Nadja Rei - mers bereiten ihr Projekt vor. Weinhausen, 31, ist Physikerin. Sie forscht an kleinsten biologischen Strukturen, Zellen, Viren, Proteinen. Nadja Reimers, 46, ist Maschi- nenbauingenieurin. Sie baut, unter ande- rem, das SPB, das Instrument, mit dem Britta Weinhausen arbeiten will. Das SPB besteht im Wesentlichen aus vier Bauteilen: einer Spiegelkammer, in der die Röntgenblitze gelenkt und auf die Probe fokussiert werden; der Proben- kammer fürdie Experimente; dem Detek - tor, in dem die Daten aufgezeichnet wer- den. Und dem sogenannten Beam Stop aus Borcarbid, einem extrem harten Kera- mikmaterial. Darin verendet der Strahl. Den Raum für das SPB-Instrument, die sogenannte Schutzhütte, hat Nadja Rei- mers konstruiert. Jedes der sechs Instru- mente in der unterirdischen Experimen - tierhalle auf dem Schenefelder Campus hat seine eigene Hütte: 120 Quadratmeter Grundfläche, die Wände aus bis zu 19 Mil- limeter starken Bleiplatten mit Stahlüber - zug. Nadja Reimers spricht laut gegen das dumpfe Grollen der Lüftungsanlage an, wenn sie von dem Projekt erzählt. Vieles von dem, was sie hier eingebaut hat, hat es so zuvor noch nicht gegeben. Die Detektoren zum Beispiel. Nach je- dem Röntgenblitz müssen sie gewaltige Datenmengen speichern. Denn das Bild, etwa das eines Biomoleküls, entsteht nicht wie ein Röntgenbild beim Arzt, wo die Strahlung ins Gewebe eindringt und den schwer durchdringlichen Knochen sicht- bar macht. Beim Röntgenpuls aus einem Freie- Elektronen-Laser wird ein Teil des Lichts noch bevor dieses von dem anderen Teil des Strahls zerstört wird. So entsteht auf dem Sensor dahinter ein Streuungsmuster, eine Art Punktwolke. Aus diesen Mustern errechnen die Forscher das Abbild des Moleküls. Jeder einzelne der sechs Detektoren wird auf dieses Weise im Jahr bis zu zehn Millionen Gigabyte Daten liefern, so viel wie auf rund zwei Millionen DVDs. Auch die kleinste Welt geht erst durch den Computer, bevor wir sie sehen können. Aber wenn der European XFEL hält, was die bisherigen Tests versprechen, dann zeigt er der Wissenschaft, was sie noch nie zuvor gesehen hat: Live-Reportagen aus dem Nano-Kosmos. JÜRGEN BISCHOFF kam zur Recherche gelegentlich in Wanderschuhen: Die Termine im Tunnel waren Kilometerarbeit. HEINER MÜLLER-ELSNER begleitet den Bau des European XFEL seit nun- mehr sechs Jahren. Mehr über die Arbeit an diesem Projekt auf Seite 6. Oben nur ein unscheinbares Bürogebäude, unter der Erde eine zweite Elbphilharmonie: 15 Meter unter dem Campus des European XFEL enden die fähigsten Röntgenlasers der Welt 139 B E R L I N , M U S E U M F Ü R N A T U R K U N D E Den Aras wird’s zu bunt Auch ihre hohe Intelligenz hilft den farbenfrohen Papageien wenig, wappnet zu sein. Immer mehr ihres Lebensraums geht durch Waldrodung und den Ausbau von Ackerbau und Viehzucht verloren. Die Sonderaus stellung „Ara“ in Berlin informiert über Probleme und Schutzmaßnahmen. www.naturkundemuseum.berlin GEO 08 2017140 GEO Erleben August 2017 Mehr wissen und erleben Mit der GEOcard gibt es ermäßigten Eintritt in Museen, Planetarien, Science-Center, Zoos und weitere Erlebnisorte: Nutzen Sie Ihr Privileg als GEO-Abonnent und sparen Sie bis zur Hälfte des Ticketpreises. Oder genießen Sie Kaufvorteile. Hier stellen wir eine Auswahl unserer Partner vor. Mehr unter: www.geo-card.de Wichtiger Hinweis: Mit der GEOcard, die Ihnen als Abonnent von GEO jedes Quartal zugeht, erhalten Sie bei unseren Partnern eine Eintrittsermäßigung von bis zu 50 Prozent auf den Normaltarif. Für bereits Ermäßigungsberechtigte, etwa Studenten, wird kein weiterer Nachlass gewährt. Die Ermäßigung gilt für das Normalangebot unserer Partner, nicht aber automatisch auch für alle Sonderausstellungen und Veranstaltungen. B R E M E R H A V E N , K L I M A H A U S Zum Mitbibbern Minus sechs Grad: Selbst die mittlere Sommertemperatur ist originalgetreu – wie der Nachbau der Neumayer- Station in der Antarktis. www.klimahaus-bremerhaven.de D A R M S T A D T , H E S S I S C H E S L A N D E S M U S E U M Von Göttern und Planeten Bevor das Fernrohr erfunden wurde, blieb genug Spielraum für Fantasie am Himmelszelt. Sodass alte Sternkarten mit allerlei mythologi- schem Dekor geschmückt waren. Das Hessische Landesmuseum zeigt bis zum 3. September die Entwicklung von der alten zur neuzeitlichen Gestaltung der Himmelskarten. www.hlmd.de S C H L O S S S I G M U N D S K R O N , M M M F I R M I A N Von Menschen und Bergen Das Messner Mountain Museum, verteilt auf sechs Standorte in Südtirol und Belluno, hat sein „Herzstück“, MMM Firmian, auf Schloss Sigmundskron bei Bozen. Thematisiert wird dort die Auseinandersetzung Mensch–Berg. Die Wege zwischen Kunstinstallationen, die Treppen und Türme führen die Besucher aus der Tiefe der Gebirge, wo der Mensch die Schätze der Berge ausbeutet, bis zum Gipfel als religiö- sem Sinnbild der Brücke zum Jenseits. Darüber hinaus informiert die Ausstellung ausführlich über die Geschichte des Bergsteigens und den alpinen Tourismus unserer Tage. www.messner-mountain-museum.itK Ö L N , R A U T E N S T R A U C H - J O E S T - M U S E U M Inszenierter Abschied: der weiße Tod Ganz in Weiß ist die Ausstellungsabteilung „Tod und Jenseits“ des Kölner Völkerkundemuseums gehalten. Denn in vielen Kulturen wird der Tod nicht mit Schwarz, sondern mit der Farbe Weiß assoziiert. Am Beispiel des mexikanischen Altars können Besucher aber auch sehen, wie farbenfroh Totengedenken aussehen kann. www.museenkoeln.de GEO 08 2017 141 Eine Auswahl unserer Partner Berlin: Museum für Naturkunde Bozen/Bruneck/Kastelbell/ Monte Rite/Sulden/Corones (IT): Messner Mountain Museum Busdorf: Wikinger Museum Haithabu Darmstadt: Hessisches Landesmuseum Dresden: Senckenberg Naturhistorische Samm - lungen (Museum für Völkerkunde Dresden und Japanisches Palais) Frankfurt/Main: Palmengarten Glauburg: Keltenwelt am Glau- berg Hamburg: Auswanderermuseum BallinStadt Karlsruhe: Staatliches Museum für Naturkunde Kassel: Museum für Sepul- kralkultur Leipzig: Panometer Luhmühlen: A Summer’s Tale Mannheim: Luisenpark Meran (IT): Gärten von Schloss Trautt- mansdorff Mistelbach (A): MAMUZ Museum Münster: All- wetterzoo Münster Oberhausen: Gasometer Stralsund: Ozea- neum Winterthur (CH): Swiss Science Center Technorama Wolfsburg: Phæno Vortragsreihe: International Ocean Film Tour G E O D I G I T A L Unsere Renner im Netz Der jüngste Hype: Fidget Spinner Angeblich steigert das derzeit so tration – doch ist da wirklich was dran? www.geo.de/fidgets Grüne Großstadtoasen Wenn nachhaltige Ideen auf urbanen Raum treffen, entstehen mitunter tolle Projekte daraus. Wir stellen neun weltweit vor: www.geo.de/urbangreen Mit Lesemodus: GEO Digital Die neue digitale Ausgabe von GEO ist jetzt für alle Smartphones und Tablets erhältlich GEO-Abonnenten zahlen für die digitale Ausgabe nur 1 € pro Ausgabe – mehr unter www.geo.de/eupgrade Die schönsten Radfernwege in Deutschland Zehn attraktive Strecken kreuz und quer durch die Republik: www.geo.de/radwege G E O R E I S E W E L T E N Einmal im Leben den Taj Mahal sehen Wenn es nur zehn Sehenswürdig- keiten auf der Welt gäbe, die ein Reisen- der unbedingt gesehen haben sollte: Der Taj Mahal in Agra im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh gehörte in je - dem Fall auf diese Liste. Seit Kurzem zählt der Taj Mahal auch zu den exklusi- ven Zielen der neuen GEO-Reisewelten. Die GEO-Reisewelten ermöglichen es GEO-Leserinnen und -Lesern, ferne Länder in der Tradition der klassischen Erkundungsreisen zu erleben. Sie sind für Menschen gedacht, die Wert auf ein hochklassiges Programm, kleine Gruppen und individuelle Erlebnisse legen. Das Programm der GEO-Reise - welten gliedert sich in die Kategorien Aktivurlaub, Genussreisen, Schiffs- reisen, Rundreisen und Wellness. Zu den beliebtesten Zielen zählt derzeit die zehntägige Indien-Rundreise. Die Route führt von Delhi aus zunächst in die Marktstadt Mandawa, die bekannt ist für prachtvolle Handels- paläste, die Havelis. Zu den nächsten Stationen zählenJaipur – die Hauptstadt der Provinz Rajasthan –, der Rantham - bore-Nationalpark und schließlich Agra, die Stadt, in der der Taj Mahal steht. Die Unesco-Weltkulturerbestätte zieht jedes Jahr rund drei Millionen Besucher an. Diese Popularität gründet sicher auch in der tra gischen Geschichte des Taj Mahal: Der Mogulkaiser Shah Jahan gab das Bauwerk 1631 im Anden- ken an seine verstorbene Liebe Mumtaz Mahal in Auftrag. Errichtet wurde der Taj Mahal auf einer 96 mal 96 Meter großen Plattform mit eindrucksvollen, 40 Meter hohen Minaretten. Zu den herausragenden Programm - punkten der großen GEO-Indien-Rund - reise zählt neben einem Abendessen mit einer indischen Familie auch ein Ritt auf einem Ele fanten und der berührende Besuch der von Mutter Teresa gegründe- ten Missionsstation. Mehr unter reisewelten.geo.de GEO 08 2017 Die Welt von GEO Neues aus den Redaktionen 142 G E O L I N O Z E I T R E I S E Von Korsaren und Kaperfahrern Seit auf Meeren Handel getrieben sondere Art von Banditen ihr Unwe sen: Piraten! In der dritten Ausgabe von GEOlino ZEITREISE, dem Ge schichtsheft für junge Leser ab neun Jahren, dreht sich alles um Korsaren, Freibeuter und Bukanier. Was unterscheidet einen Kaper fahrer von einem Piraten? Wer brachte den berüchtigten Kapitän Blackbeard zur Strecke? Das und mehr erfahren die jungen Leser in insgesamt vier Kapiteln, anschaulich erklärt anhand von Comics, Karten und spannenden Lesestücken. Wie ein Schiffsjunge An fang des 18. Jahrhunderts den Alltag auf einem Piratensegler erlebte, hat der lino ZEITREISE ins Bild gesetzt. Aber auch um die Seeräuber unse rer Tage geht es im Heft: Ein Bildessay zeigt, wie im Rahmen der „Operation Atalanta“ EU Streitkräfte gegen Pira ten am Horn von Afrika vorgehen. W A L D E N Die eigenen vier Wände im Sommerwald Was lässt sich in diesem Sommer draußen unternehmen? WALDEN, das Outdoor Magazin von GEO, hält in seiner neuen Ausgabe zahlreiche Ideen parat – von kleinen Fluchten mit dem Bike zum Baumhaus über Hüttenwanderungen in den Alpen bis hin zu köstlichen neuen Rezepten für die Lagerfeuer Küche. Den Schwerpunkt der Ausgabe bildet das große Hütten Dossier. Denn träumt nicht jeder von den eigenen vier (Holz )Wänden? WALDEN zeigt nicht nur imponierende Beispiele selbst gezimmerter Hütten, sondern auch, wie einfach sich der Traum ver wirklichen lässt. Das Dossier umfasst von der Bauanleitung für ein einfaches Wald Tipi bis zur Hütten Typologie alles, was es für den Start einer Karriere als Outdoor Bauherr braucht. Und wer partout kein Selbstbauer ist, wandert einfach in den Alpen und hütte – ein aufwendiges Ausklapp Pan orama liefert die Inspirationen dazu im Breitwandformat. GEOlino ZEIT- REISE Schrecken der Meere«, 84 Sei- ten, 5,95 Euro. Weitere Themen: Klaus Störte - beker und die Vitalienbrüder • Die Kunst des Enterns • Schatzinseln WALDEN »Komm, lass gehen!«, 8-seitige Pan- orama-Zeich - Weitere Themen: Wild Swimming • Biking • Henry D. Thoreau Sonntag 23. 7. Skyrunning: Brice ist Kuhhirte in den Pyrenäen und verbringt den Sommer mit seinen Tieren auf 3000 Meter Höhe. Hier hat er die Freiheit des extremen Laufens in den Bergen für sich entdeckt. Sonntag 30. 7. Seit dem Tod des weltberühmten Yogameisters B. K. S. Iyengar leiten seine Kinder das Institut im indischen Pune. Statt Wellness wird hier mit Yoga hart trainiert, therapiert und sogar geheilt. Sonntag 6. 8. Im Südosten Kubas wird noch Música molida, „gemahlene Musik“, gespielt. Drehorgelspieler mit Begleitband mischen Dorffeste auf. Mehr Infos zur 360° – GEO-Reportage unter www.geo.de/tv oder www.arte.tv 360° – GEO-Reportage Im August zeigt ARTE die Filme der GEO-Reihe wieder um 19.30 Uhr. Diese und auch alle wiederholten Filme sind jetzt ab dem Sendetag einen Monat lang in der ARTE-Mediathek zu sehen: www.arte.tv Sonntag 13. 8. In bis zu 260 Nächten im Jahr erleuchten am Maracaibo-See in ein einzigartiges Naturschauspiel. GEO 08 2017 143 Lampedusa: Heimat des kleinen Samuele, der Fischer werden will wie sein Vater. Und das Ziel Zehntausender Flüchtlinge, die von Libyen aus in See stechen. Eine Insel, zwei Welten, und dazwischen der Arzt Pietro Bartolo. Genauso engagiert, wie er Samueles Brust abhört, weil dem Jungen beim Her umstromern manchmal die Luft aus - geht, reanimiert er einen dehydrierten Afrikaner oder versichert einer Schwan- geren, dass ihre Zwillinge trotz der Flucht gesund sind. Doch immer wieder muss er auch Leichen obduzieren. „Das erzeugt so eine Wut“, sagt er. „Eine Leere im Bauch. Ein richtiges Loch.“ Regisseur Gianfranco Rosi porträ- tiert den Alltag der Insulaner in klaren, ruhigen Einstellungen; die Such- und Bergungsaktionen der italienischen Marine, die Tränen der Flüchtlinge setzt er in harten Schnitten dagegen. Eine Parallelwelt, die im Leben von Samuele keine Rolle zu spielen scheint. Bis der Arzt bei ihm ein „träges Auge“ diagnostiziert: Es habe sich daran gewöhnt, nicht zu sehen, für Rosi eine Metapher für das Weggucken. In „Seefeuer“ ist das nicht länger möglich. Der bewegende Film erhielt den Goldenen Bären, den Europäischen Filmpreis und eine Oscar-Nominierung. F L Ü C H T L I N G S I N S E L Porträt zweier Welten In »Seefeuer« dokumentiert Gian - franco Rosi den Alltag der italieni - schen Insel Lampedusa, auf der täglich Bootsflüchtlinge stranden. GEO-Television zeigt den Berlinale- GEO Television, der Sender von GEO, ist über die Deutsche Telekom (Entertain), Vodafone (Giga TV) und Amazon (Prime) zu empfangen. Mehr Infos unter: www.geo-television.de Regisseur Gianfranco Rosi hat ein Jahr lang auf Lampedusa gelebt und gedreht 8. AUGUST, 20.15 UHR: Tier an Tier – Das Schwarmprinzip Gemeinsam sind sie stark: Wilde Wellensittiche und andere Schwarmtiere nutzen die Weisheit der Masse 15. AUGUST, 20.15 UHR: Flower Power – Die grüne Weltmacht Mit welchen Strategien wachsen und gedeihen Pflanzen? Zeitrafferauf - nahmen enthüllen ihre Raffinessen ab 2. AUGUST, 20.15 UHR: Genies der Antike Wie prägen Buddha, Konfuzius und Sokrates heutiges Denken? Eine Spurensuche in drei Teilen Genial: Meisterleistungen von Menschen, Tieren und Pflanzen TV-HIGHLIGHTS IM AUGUST GEO 08 2017144 GEO Television Unser Sender für Dokumentarfilme Unsere Städte blühen auf! Sie sind Archen der Artenvielfalt. Der GEO-Tag der Natur 2017 feiert das metropolitane Grün September 2017 GEO 09 / 2017 erscheint am 18. August Spektakuläre Kunstwerke der Natur: Edward Burtynsky landschaften im Großbild eingefangen Im Kongo wird Bargeld bis in entlegene Dörfer im Busch gebracht. Ein GEO Team hat den abenteuerlichen Transport begleitet Wir sprechen in Bildern: Erweitern Emojis unseren Sprachhorizont – oder sorgen die modernen Hieroglyphen für eine Verarmung in der Kommunikation? Die Krankheit ist besiegt, aber das Stigma lebt fort: In Japan leben bis heute Menschen in Leprakolonien. GEO Reporter haben sie besucht. GEO 08 2017 Vorschau 145 Außerdem im Heft Iran sein Altpapier kilometerweit zur Pa- piermühle gebracht. Man hat ihn für einen Spinner gehalten, aber er hat das mit er- hobenem Kopf gemacht – weil er es für richtig hielt. Und dann ist da mein Bruder. Er ist fünf Jahre älter als ich, und weil ich immer alles mit ihm zusammen gemacht habe, war ich ein extremer Frühstarter. Du kannst die coolen Sachen ausprobieren, die ein Neunjähriger macht, aber man ver- zeiht dir alles, weil du ja erst fünf bist. Was sollen Ihre Kinder so machen wie Sie selbst? Sie sollen genauso vieleFehler machen. Und mit Fragen durchs Leben gehen. Wovon haben Sie sich befreit? Vom Druck. Ich war während der ersten drei Monate der Reise noch in dieser ziel- strebigen deutschen Denkstruktur: Ich muss jeden Tag 25 Kilometer machen! Dann habe ich kapiert: Es ist in Ordnung, wenn ich mal nur 15 Kilometer gehe und dann 40. Man muss Ziele haben. Aber man muss auch sehen, welche Möglich- keiten einem der Tag anbietet. Wie viel Zeit am Tag gehört Ihnen? Das ist sehr verschieden. Wenn ich zu Gast bin, habe ich weniger Zeit für mich. Es wäre unhöflich, sich zurückzuziehen. Manchmal treffe ich unterwegs keinen einzigen Menschen, dann gehören mir 24 Stunden. Luxus, den ich jedem gönne. Was fehlt Ihnen zum Glück? Im Moment nichts. Klar mache ich mir Gedanken, wie mein Leben in Aachen weitergeht. Aber ich habe gelernt: bloß keine Pläne schmieden! Ich weiß aber, dass ich nie wieder im Leben etwas ma- chen möchte, das mich länger als zehn Minuten am Tag ärgert. Was bezeichnen Sie als Heimat? Heimat ist, wo ich gerade bin. Aber auch Aachen. Und Iran. Ich bin hundertprozen - tig Europäer! Außerdem bin ich Rhein - länder, aber kein Deutscher – außer wenn Fußball läuft. Das ist ganz merkwürdig. Auf welchen Aspekt von Heimat können Sie nicht verzichten? Das ist leicht: Aachener Sauerbraten. Haben Sie schon mal daran gedacht, auszuwandern? Ich bin ja schon ausgewandert. Bei solch einer Reise merkt man, dass man häufiger den Ort wechseln sollte. Man bleibt im Kopf flexibel. Was haben Sie zuletzt geschenkt be- kommen? Abgesehen vom Frühstück heute und dem Abendessen gestern, zu dem mich hier in Georgien ein aserbaidschanischer Laden- besitzer eingeladen hatte – jede Menge Lächeln. Und Gespräche mit Leuten, die ich unterwegs treffe. Gibt es ein Tier, das Ihnen etwas bedeutet? Definitiv die Schnecke. Die ist langsam und weise. Ich bin ja auch extrem langsam, und mein Rhönrad, in dem ich mit Hän - gematte und Tarp übernachte, ist mein Schneckenhaus. Solch eine Parallele baut natürlich Zuneigung auf. Oft kommen die Schnecken nachts zum Rad und bleiben darauf sitzen, wenn ich weiterrolle. Was war das größte Glück Ihrer Kindheit? Drei Sachen: Mit zwei Jahren wäre ich fast ertrunken, war sogar klinisch tot, aber meine Mutter hat mich gerettet, und ich habe weiterleben dürfen. Zweitens: mein Großvater. Er hat mir beigebracht, alles zu hinterfragen, und auch die Liebe zu Kunst und Natur. Schon vor 30 Jahren hat er im Unseren Fragebogen beantwortet Shahin Tivay Sadatolhosseini, 46. Er wandert von Deutschland in den Iran – mehr als 5000 Kilometer. Dabei rollt er ein Rhönrad vor sich her. Der Künstler hat 30 Jahre lang in Aachen gelebt Protokoll: Christoph Borgans Sadatolhosseinis Route auf: www.rolleast.de »Mein Tier ist die Schnecke. Sie ist langsam, wie ich. Und sie ist weise« Teheran (Iran) GEO 08 2017146 Weltbürger Einer von 7,517 Milliarden neue möglichkeiten kurz skizziert: Erhältlich bei: Schriftgrösse 3 Textgrößen zur Auswahl einstellbar Volltextsuche über alle Ausgaben und Artikel Tag- / Nacht- lesemodus rund um die Uhr angenehm für die Augen Textlesemodus für ein augenfreund- liches Lesevergnügen Deutschlands grösstes Reportagemagazin eUpgrade die optimale Ergänzung exklusiv zu Ihrem GEO-Abo Flexabo die reine Digitalausgabe von GEO (monatlich kündbar) nur 4,99€/Monat *gegenüber digitalem Einzelverkauf Dies ist ein Angebot der Gruner + Jahr GmbH & Co KG, Am Baumwall 11, 20459 Hamburg. Belieferung, Betreuung und Inkasso erfolgen durch DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH, Nils Oberschelp (Vorsitz), Christina Dohmann, Dr. Michael Rathje, Am Sandtorkai 74, 20457 Hamburg, als leistenden Unternehmer. nur 1€/Monat 83% Ersparnis* 16% Ersparnis* GEO jetzt digital entdecken! Telefonisch +49 (0) 40 / 55 55 89 90 Oder online unter www.geo.de/digital Bitte bereithalten: eUpgrade / Bestellnr.: 160 6915 Flexabo / Bestellnr.: 160 6916 GEO Digital – jetzt auch unterwegs genießen! Für Tablet, Smartphone und Desktop-PC. Gratis- Ausgabe inklusive 1 HAT GROSSES MIT IHNEN VOR. Was auch immer Sie planen: Der großzügige und geräumige MINI Clubman bietet Platz für alles, was Sie sich vornehmen. Genießen Sie jede Heraus forderung, jeden Tag und jede Kurve. Jetzt zu attraktiven Konditionen bei Ihrem MINI Partner oder auf mini.de/clubman. Kraftstoffverbrauch (je nach Modell) innerorts: 6,5–6,3 [6,3–6,1] l/100 km, außerorts: 4,6–4,4 [4,7–4,6] l/100 km, kombiniert: 5,3–5,1 [5,3–5,1] l/100 km; CO2-Emissionen (je nach Modell), kombiniert: 124–119 [124–119] g/km. Werte in [ ] gelten für Fahr- zeuge mit Automatikgetriebe. Fahrzeugdarstellung zeigt Sonderausstattung. DER MINI CLUBMAN.